Von Fledermäusen, Pferden, Seidenraupen – und Menschen

Karen Russell zeigt sich wieder als Könnerin der Kurzgeschichte

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kafka steht an erster Stelle ihrer Vorbilder, gefolgt von Calvino, Borges und Virginia Woolf. Weil diese Autoren sich nicht irgendeinem formalen Zwang unterwarfen, sondern Literatur nach ihren eigenen Vorstellungen schrieben. Das sagt Karen Russell in einem Interview mit der amerikanischen MacArther Foundation, von der ihr als einer der Jüngsten eines der heiß begehrten Stipendien zugesprochen wurde.

Mit „Vampire im Zitronenhain“ legt Karen Russell ihren zweiten Erzählband vor. Den literarischen Weg, den sie eingeschlagen hat, abseits des Mainstream, beschreitet sie auch in diesem Buch in überzeugender Weise. „Vampires in the Lemon Grove“, so der amerikanische Originaltitel, wurde 2013 im Verlag Alfred A. Knopf, Teil der Random House-Verlagsgruppe, publiziert. Darin enthalten sind acht Geschichten, die allesamt zuvor schon veröffentlicht wurden. Die frühesten Erzählungen stammen aus dem Jahr 2009; zuletzt, im Frühjahr 2013, erschien „Die neuen Veteranen“ in der renommierten Vierteljahreszeitschrift Granta.

Erstmals ins Rampenlicht eines breiteren literarischen Publikums trat die heute 32-Jährige mit „St Lucy’s Home for Girls Raised by Wolves“ (2006, dt. 2008: „Schlafanstalt für Traumgestörte“). „Swamplandia!“, ihr erster Roman aus dem Jahr 2011 (dt. 2011 „Swamplandia“), schaffte es dann bereits in die „New-York-Times“-Liste der zehn besten Bücher des Jahres. Und Russell erreichte damit die Endrunde zum Pulitzer Preis. Schon „Schlafanstalt für Traumgestörte“ machte das in Amerika gefeierte literarische Talent auch im deutschen Sprachraum bekannt, wenngleich man hier vor allem angesichts skurriler Erfindungen mit dem Lob etwas zurückhaltend war. Die Stärke der Ideen, die Wahrhaftigkeit der Figuren, die durch die Fantastik des Erzählten keineswegs verdeckt wird, sondern sich vielmehr zur psychologischen Essenz klärt, und die mitreißende Erzählfreude in „Vampire im Zitronenhain“ werden Karen Russell wohl auch hierzulande zu einer der wichtigen amerikanischen Erzählstimmen der Gegenwart machen.

Unauffällige Menschen, sozial eingebunden, aber keine gefestigten Persönlichkeiten, sind oft die Protagonisten der Erzählungen. Es sind Figuren, die nach etwas streben, während sie zugleich spüren, dass sie „in sich befangen und unentrinnbar sie selbst“ sind. In das Leben dieser Menschen bricht das Übernatürliche und Magische ein und wirft sie aus der Bahn.

Nal, ein Basketball spielender Junge mitten in der Pubertät, erlebt in „Die 1979er Landung des Seemövenheers am Strong Beach“, wie sich die von ihm angebetete Vanessa auf seinen älteren Bruder einlässt. Frustration bestimmt Nals Leben; auch der ersehnte Collegebesuch wird unerreichbar, als seine Mutter ihren Arbeitsplatz verliert. In Gestalt einer Horde von Seemöven spielt das Schicksal mit Nal. Das Thema der Adoleszenz variiert auch die Kurzgeschichte „Nachweis“. Der elfjährige Miles Zegner wird durch die Weiten Nebraskas geschickt, um einer Nachbarsfamilie eine äußerst kostbare Fensterscheibe zu bringen. Miles gerät in einen Schneesturm, verliert sein Pferd und erlebt ein Grauen, das ihn seiner kindlichen Unschuld beraubt und beinahe um den Verstand bringt. Auch die faszinierende Geschichte „Spinnen für das Königreich“ stellt einen jungen Menschen, Kitsune, ein Bauernmädchen, in den Mittelpunkt. Im vormodernen Japan wird sie angeworben, in einer Seidenfabrik zu arbeiten. Ohne ihre Familie zu informieren – sie fälscht sogar die zustimmende Unterschrift ihres Vaters –, lässt sie sich auf das Angebot ein. Doch damit gerät sie im wahrsten Sinn des Wortes in Leibeigenschaft und zudem in Lebensgefahr. In einem Akt der Selbstermächtigung lehnt sie sich auf, um frei zu werden. „Die neuen Veteranen“, jene Geschichte, die in der Literaturkritik bisher die größte Aufmerksamkeit erfuhr, zeigt, wie mühe- und schmerzvoll es sein kann, zu sich selbst zu finden. Beverly ist Anfang 40, Typ ‚alte Jungfer‘, sie arbeitet als Masseurin. Eines Tages kommt Derek, ein 25-jähriger Afghanistanveteran zur Behandlung zu ihr. Bev, nie wirklich erwachsen geworden, weil sie nur ihren Helferdrang kultivierte, will jetzt den schwer traumatisierten Derek heilen. Ob ihr das gelingt, lässt die Erzählung offen. Durch die Begegnung mit Derek bricht aber etwas in Bev auf und ermöglicht es ihr, zumindest ein wenig menschliche Nähe zuzulassen.

Die Figuren Russells nehmen den Einbruch des Übernatürlichen oft erst zögernd an. Meist entlässt sie die Autorin aus ihren Geschichten mit einer guten Portion Hoffnung. Aber nicht immer deutet sich ein gutes Ende an.

Wenngleich Karen Russell auch europäische und südamerikanische Autoren als Vorbilder bezeichnet, so wurzelt ihr Schreiben doch auch tief in nordamerikanischen Traditionen: Von Stephen King kennen die Leser das Kippen einer realistischen Situation ins Fantastische, ja gar Dämonische. Auch ein klassisches Erzählmodell der amerikanischen short story, wie es etwa William Faulkner meisterlich ausgestaltete, findet sich bei Russell immer wieder: Strukturell führen viele Geschichten zur „epiphany“, jenem Moment, in dem eine Person schlagartig Erkenntnis gewinnt über ihr Leben.

Ein Reiz der „Vampire im Zitronenhain“-Sammlung liegt wesentlich in der Genrevielfalt, mit der Russell spielt und deren Grenzen sie immer wieder überschreitet. Während die titelgebende Geschichte Bezug nimmt auf die immens erfolgreichen Vampirsagas à la Stephenie Meyer, schreibt Russell mit Nals Möven-Geschichte eine Horrorerzählung nach Art von Hitchcocks „Die Vögel“ und lässt sich von Orwells „Animal Farm“ zu „Der Stall am Ende unserer Amtszeit“ inspirieren. In „Nachweis“ entwickelt sie den Western in einer ganz eigenständigen Art weiter, worin deutlich wird, dass nicht nur der Film für solche Erzählungen taugt. Mit „Spinnen für das Kaiserreich“ erweist die Autorin Franz Kafka ihre Reverenz.

Das Auffälligste an Karen Russells Prosa ist ihr Interesse für die Verwandtschaft von Mensch und Tier. Dabei geht es ihr nicht um Biologisches – und nicht um die Allegorie. Viele von Russells Figuren sind Menschen in tierischen Körpern. Da gibt es das uralte, unsterbliche Fledermauspaar aus der Titelgeschichte, das seine Gestalt zwischen Mensch und ‚Vampir‘ wandelt; amerikanische Präsidenten, die sich als Pferde auf einer Farm im Nirgendwo wiederfinden, und das Mädchen, das zu einer weißlich-wolligen Seidenraupe wird und in einer gespenstischen Fabrikhalle gemeinsam mit anderen verwandelten Frauen Seidenfäden aus ihren Händen spinnt. Das Tier gibt dem Menschen Gestalt, sein Körper bestimmt dessen Handeln. Und doch sind Bewusstsein, Denken und Gefühle durch und durch menschlich. Die Verwirklichung der eigenen Träume ist bei Russell nicht gegen die Natur möglich, mit ihr aber allemal.

Russells Feststellung, die Form der short story sei ideal für sie, mag kokett klingen, aber die Autorin hat es darin tatsächlich bereits zur Meisterschaft gebracht. Malte Krutzsch erfasst ästhetisch sensibel den Ton zwischen jugendlicher Leichtigkeit und existenzieller Bedrohung, und gibt Russel so die passende deutsche Stimme. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Karen Russell: Vampire im Zitronenhain.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2013.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783036956749

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