Die Kunst des Weglassens

Eine furchtbare Kurzbiografie über Stefan Zweig

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Vor ein paar Wochen lieh ich mir aus unserer Stadtbibliothek ein Hörbuch aus, „Brief einer Unbekannten“ von Stefan Zweig. Zwei CDs, gelesen von Leslie Malton und Felix von Manteuffel, erschienen 2009 bei Hörbuch Hamburg. Auf dem CD-Umschlag finde ich folgende Kurzbiografie zu Stefan Zweig:

„Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren. Noch während seiner Studienzeit veröffentlichte er mehrere Texte. Mit den ‚Vier Geschichten aus Kinderland‘ Erstes Erlebnis wurde er 1911 erstmals einem breiteren Publikum bekannt. Zum aktiven Militärdienst untauglich, wurde er im Ersten Weltkrieg ins Kriegspressequartier versetzt, bis er 1917 als Kriegsgegner für die Neue Freie Presse nach Zürich gehen konnte. Von 1919 bis 1934 lebte er in Salzburg, wo ein Großteil seiner berühmten Biographien, Erzählungen und Essays – Marie Antoinette, Baumeister der Welt, Amok – entstand. 1934 zog er sich nach London zurück. Die Geschichte als Spiegel der Zeit verdeutlichen umfangreiche Essays: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam und Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt. Zunehmend ruheloser geworden, ging er 1940 zunächst für einige Monate nach New York und übersiedelte im August 1941 nach Brasilien. Seine Autobiographie Die Welt von gestern und die Schachnovelle vollendete er noch, die Biographie Balzacs 1942 blieb Fragment, als er am 23. Februar 1942 mit seiner Frau „aus freiem Willen und mit klaren Sinnen“ aus dem Leben schied.“

Ich war ratlos, perplex und empört, als ich das las. Kein Wort darüber, dass Zweig Jude war – woraus sich dann der Rest seiner Lebensgeschichte leicht erklärt. „1934 zog er sich nach London zurück“? Nein, er floh vor dem Nationalsozialismus. „Zunehmend ruheloser geworden…“ – ja warum nur? Wir erfahren es nicht. „…ging er 1940 zunächst für einige Monate nach New York und übersiedelte im August 1941 nach Brasilien“? – Weder „ging“ er noch „übersiedelte“ er – der korrekte Begriff ist „emigrierte“. Zweig selber spricht von den „langen Jahren heimatlosen Wanderns, die seine Kräfte erschöpften“.

Zum Schluss wird irreführend, weil ohne Kontext, ein Zitat aus Zweigs erschütterndem Abschiedsbrief präsentiert: Er sei „aus freiem Willen und mit klaren Sinnen“ aus dem Leben geschieden. Wahr ist, dass Zweig, zunehmend depressiv wegen des Verlusts all dessen, was ihm das Leben lebenswert machte, sich das Leben aus abgründiger Verzweiflung nahm, „nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet“.

Die Frauenbewegung hat den Begriff des „Sexismus durch Weglassen“ geprägt, wenn etwa in Männerbiografien routinemäßig der Anteil der Ehefrauen und der Geliebten am Werk der Geistesriesen weggelassen wird. Paradebeispiele sind Bertolt Brecht und Auguste Rodin.

Was „Hörbuch Hamburg“ hier mit Stefan Zweig anstellt, ist „Antisemitismus durch Weglassen“. „Er zog sich nach London zurück, wurde ruhelos, ging nach New York und dann nach Brasilien, wo er schließlich freiwillig aus dem Leben schied.“ Warum? Diese Frage kann der Text nicht beantworten, weil er sie nicht stellt. Vielmehr scheint er zu sagen: Stefan Zweig benahm sich recht seltsam – warum, ist nicht der Rede wert. Und seine Frau schon gar nicht. Mehr noch: Ohne den Kontext von Zweigs Verzweiflung über seine erzwungene Emigration erinnert seine Rastlosigkeit an das Stereotyp des Ewigen Juden.

Wie kommt heutzutage, im Jahre 2009, ein solcher Text zustande? Hat die Hörbuch-Hamburg-Redaktion einem Azubi aus einem anderen Kulturkreis den Auftrag erteilt, einen Klappentext aus den greifbaren Quellen zusammenzuschnipseln? Und sich dann nicht weiter darum gekümmert? Das wäre kein beruhigender, aber noch der harmloseste Befund.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glossen „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheinen.