Italien im Spiegel der deutschen Reiseliteratur von Goethe bis Koeppen

Peter Gendolla untersucht „Die Erfindung Italiens“ in der deutschen Literatur – und findet wenig Neues

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Sommer, jeden Sommer, wird es besonders deutlich: Italien ist noch immer das Sehnsuchtsland der Deutschen. Seit jeher birgt das stiefelförmige Land im Süden für deutsche Reisende eine besondere Faszination, die vor allem in der inzwischen sicher auf Alpenhöhe angewachsenen Reiseliteratur ihren Niederschlag gefunden hat. Von Goethe über Keller bis Krausser – alle haben sie über Italien geschrieben, seien es Gedichte, Novellen, Romane, Reiseberichte. Worin liegt die besondere Faszination Italiens für deutsche, aber genauso englische oder französiche Schriftsteller begründet? Eine inzwischen Legion gewordene Zahl an Forschungsliteratur versucht das herauszufinden. Jüngst erschienen beispielsweise die Studie „Ruinenlandschaften“ (Heidelberg: Winter, 2013) von Constanze Baum, die vor allem der Virulenz des Ruinenmotivs in der Italienliteratur nachgeht, sowie ein Sammelband zu englischen Italienreisenden und der speziellen Frage nach dem Zusammenhang von Reise und Übersetzungstätigkeit („Travels and Translations“, hrsg. v. Alison Yarrington, Amsterdam: Rodopi 2013). Nun legt der Siegener Germanist Peter Gendolla im Wilhelm Fink Verlag mit seiner programmatisch „Die Erfindung Italiens“ überschriebenen Studie eine neuerliche Gesamtschau der deutschsprachigen Italienliteratur etwa seit der Aufklärung vor und muss sich somit die Frage gefallen lassen, was er denn Neues zu bieten hat, das ein weiteres Buch zum Thema rechtfertigen würde.

Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei „Die Erfindung Italiens. Reiseerfahrung und Imagination“ zum Teil um eine Zusammenstellung bereits zwischen 2002 und 2004 publizierter Aufsätze zu Einzelaspekten handelt, was dazu führt, dass nicht ausschließlich neue Gedanken präsentiert werden. Nichtsdestotrotz verbindet die fünf Großkapitel des Buches eine zentrale These, die bereits im Titel aufscheint: Italien wird im Verlaufe der Reiseliteraturgeschichte mehr und mehr zu einer Imagination, die sich zusehends vom ‚realen‘ und geographisch verortbaren Land entfernt und spätestens im 20. Jahrhundert zu einer bloßen, von früheren Berichten gespeisten, Imaginationsgröße wird: „Italien wird hier zu einem Namen, der nichts als eine Projektionsfläche bezeichnet“, so in der Formulierung Gendollas. Die Bilder Italiens werden somit eine sich selbst hervorbringende Fiktion.

Dieser These geht das Buch in fünf Kapiteln nach, wobei das Zentrum sicher das dritte Kapitel, „Texte und Bilder“, darstellt. Als Einleitung dürfen die ersten beiden Kapitel – „Phantome des Südens“ und „Geschichte der Italienreisen“ – gelten, eine Art Synthese bzw. Ausblick stellen das vierte („Der Film im Kopf“) und das fünfte Kapitel („DigItalien“) dar. Es mag mit der Tatsache zusammenhängen, dass das Buch um bereits vorliegendes Material herum gruppiert wurde, eine zwingende Logik jedenfalls lässt sich in den einzelnen Kapiteln abseits der Chronologie nicht erkennen. Es bleibt schlicht unklar, anhand welcher Kategorien oder Instrumente der zentralen These nachgegangen werden soll.

Wenn der erste Abschnitt des zentralen dritten Kapitels mit ‚Ruinen‘ beispielsweise noch eine durchaus sinnvolle Untersuchungskategorie, nämlich ein bestimmtes Motiv, ins Blickfeld rückt, entfernt sich die Analyse zusehends von klaren Kategorisierungen oder heuristischen Hilfsmitteln. Im Verlauf des dritten Kapitels wird Italien zum Topos (Abschnitt 3, „Arkadien“), dann zur Gattung (Abschnitt 7, „Bildungsroman“) und schließlich zum Zitatspender (Abschnitt 9, „Hier ist der Stein nicht tot“). Schon diese Zwischenüberschriften und ihre Heterogenität machen also deutlich, dass hier so etwas wie eine klare Struktur der Untersuchung, ein klares Instrumentarium oder eine zentrale Methode fehlen. Dieser Eindruck wird unterstützt durch die stark voneinander divergierenden inhaltlichen Analysen in den Unterkapiteln: Während die Untersuchungen von Manns „Tod in Venedig“ wie auch Koeppens „Tod in Rom“ sehr eng am Text bleiben, dafür aber durch ihr Auftauchen am Anfang und Schluss des Buches Redundanzen aufweisen, bietet der Abschnitt zu ‚Arkadien‘ bestenfalls eine Paraphrase von Forschungsliteratur, aber kaum direkte Textarbeit, das Unterkapitel über Eichendorffs „Mamorbild“ (Kap. III.9.) schließlich ist von Umfang, Argumentation und analytischer Tiefe her eher ein eigenständiger Aufsatz denn ein bloßes Buchkapitel.

Die Heterogenität der Anlage und die Divergenzen zwischen den einzelnen Kapiteln führen, der klammerbildenden Zentralthese zum Trotz, insgesamt also zu einem etwas unbefriedigenden Eindruck der Monographie Gendollas, der verstärkt wird durch einen Blick auf die zur Kenntnis genommene Forschungsliteratur. Der neueste Titel stammt aus dem Jahr 1996, von Aktualität also keine Spur. Zudem hat der Autor zentrale Beiträge zum Thema überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, so weder die beiden oben zitierten Titel zur Reiseliteratur allgemein, noch die inzwischen ebenfalls schon älteren, aber immer noch grundlegenden Studien zur Darstellung Venedigs – immerhin ein ganz zentraler Topos der Italienliteratur genauso wie der Argumentation Gendollas – von Dieterle und Corbineau-Hoffmann. Selbst wenn das Buch also um bereits veröffentlichte Aufsätze herum entstanden ist, hätte es dringend einer bibliographischen Aktualisierung bedurft, um die vorgetragenen Thesen anhand der neueren Forschung zu überprüfen. So bleiben der Gesamteindruck und der tatsächliche wissenschaftliche Nutzen von „Die Erfindung Italiens“ bedauerlich dünn. Denn, bei aller Plausibilität der einzelnen Argumentationsschritte, gehen die Erkenntnisse zu den einzelnen Autoren und Texten, die das Buch präsentiert, kaum über bereits zur Genüge vorgetragene Erkenntnisse hinaus: Goethe identifiziert Gendolla als den wirklichen Beginn der Italienbegeisterung, bereits bei ihm zeige sich indes – dem Anspruch, objektiv zu berichten, zum Trotz – eine Tendenz zur Überlagerung des Gesehenen von „viel früher erlernten Gedanken, von einer durchaus klassischen Bildung mit ihren Normen und Werten“. Im Zusammenhang damit wird Italien, spätestens bei Winckelmann, von einem Sehnsuchtsort zu einem Ort, der „den Prozess der Selbstausbildung des Reisenden, eine wortwörtlich als Bildungsroman begreifbare Entwicklung in Gang setzt“. In der Romantik bei Eichendorff wird, gut psychoanalytisch gelesen, Italien zur Chiffre für den schönen Schein, der den Blick auf Tieferes, Düstereres, verstellt: Das „Marmorbild“ stellt in dieser Lesart die „Transformierung der hellen Kulturlandschaft in eine Maske“ dar, hinter der sich eine „dämonische[..], ungreifbare[..] Tiefe“ verbirgt. Im „Grünen Heinrich“ Gottfried Kellers findet mit dem Ende des 19. Jahrhunderts diese Einsicht ihre endgültige Ausprägung, so Gendolla: Die Maske wird als Maske ansichtig, „das Eingebildete des Bildes [von Italien, T.G.] wird als falsch, unwahr, gelogen vorgestellt“ und der Süden „zu jener ‚wunderlichen Fiktion‘, in der sich alle disziplinierte Arbeit auflöst, der ordentliche Künstler des Nordens [sich] rettungslos verliert“.

Thomas Manns „Tod in Venedig“ schließlich stellt Gendolla als die vorläufige Abrechnung mit der Italienliteratur dar: ihren Höhepunkt und ihre Bankrott-Erklärung gleichermaßen. Denn der „Tod in Venedig“ sei als „eine gewisse Summe der Italienliteratur zu verstehen, gewissermaßen ein abschließendes Urteil“, das Mann den „tradierten literarischen Formen zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellt.“ Italien bildet in dieser Deutung als Fantasma „ein Ventil“, um die „Mängel des Nordens“ zu kompensieren. Die Novelle Manns ist in ihrer Künstlichkeit die absolute Ausstellung dieses Mechanismus und gleichzeitig die Überspitzung und damit ihr Ende: „Die Erzählung vom Tod in Venedig meint nichts als den Tod der Literatur“. Damit bildet Manns Novelle einen Fluchtpunkt der Argumentation Gendollas: Die Imaginationen Italiens über die Jahrhunderte finden ihren Abschluss in einem überbordend künstlichen Text, der noch einmal alle Klischees manieristisch verdichtet – und damit gleichsam vernichtet. Was bei Mann angelegt war, wird bei Wolfgang Koeppen, der die literarische Reihe Gendollas abschließt, im Tod in Rom vollends zugespitzt: „Es bleiben nur Namen und pure Natur, sprachlose Animalität. Die Tradition, die Kultur hat sich in einen endgültig leeren Haufen Ruinen verwandelt, die niemanden mehr erschüttern.“ Damit ist natürlich gemeint, dass die Imaginationen Roms inzwischen nur noch bloße Versatzstücke geworden sind, die für die erzählerische Substanz im Roman keinerlei zwingende Notwendigkeit haben – die römischen Ruinen sind beliebig geworden und damit von einem ‚realen‘ Rom endgültig entkoppelt, ja, darüber hinaus inzwischen so überstrapaziert, dass sie selbst als Imaginationen gleichgültig geworden sind.

Dennoch bleibt eine Tatsache, die diese Einsicht nicht berücksichtigt: Mit der Nennung der Stadt im Titel wird ja – im Falle Manns genauso wie im Falle Koeppens – immer eine ganze Tradition aufgerufen und das ist eben gerade nicht beliebig. Daraus folgt, dass es nicht gleichgültig ist, ob Koeppen seinen Judejahn durch Rom oder Montevideo irren lässt, sondern, im Gegenteil: Es ist von eminenter Bedeutung. „Italien wird hier zu einem Namen, der nichts als eine Projektionsfläche bezeichnet“ – das war die zentrale These Gendollas und es ist fraglich, ob sie in dieser Absolutheit Gültigkeit beanspruchen darf. Denn das suggeriert, dass der Name der Projektionsfläche beliebig wäre, aber das ist er natürlich nicht und hier liegt wohl auch der Kurzschluss. Es muss Italien sein, weil nur Italien zur Projektionsfläche geworden ist, wieder und immer wieder – und nicht nur von Deutschen, sondern vor allem und vielleicht in literarisch wesentlich interessanterer, wohl auch folgenreicherer Manier, von Engländern. Mit Italien wird demnach viel mehr als eine beliebige Projektionsfläche aufgerufen, nämlich eine gesamte Tradition, die eben nicht beliebig, sondern, im Gegenteil, italienspezifisch ist. Wenn Gendolla also abschließend schreibt, „dass es von Anfang an gar nicht um dieses Land, seine Menschen oder Städte oder Landschaften oder was auch immer ging“, sondern nur „um die Auflösung der eigenen kulturell fixierten Muster, ums Aufbrechen enger Denk- und Verhaltensweisen, die Entgrenzung der eigenen Bewegungen“, dann ist das zumindest überspitzt, wenn nicht gar falsch. Im Gegenteil konnte die Italienliteratur seit Goethe nur entstehen genau in Auseinandersetzung mit diesem Land, diesen Menschen, Städten und Landschaften, in Auseinandersetzung mit genau den Spezifika, die Italien von allen anderen europäischen Ländern unterscheidet – zumindest in der Imagination. Diese Ansicht wäre ganz sicher mit einer ergänzenden komparatistischen Untersuchung französischer und vor allem englischer Italienliteratur zusätzlich zu stützen. Und, auch das sei abschließend noch angemerkt: Vielleicht wäre es ohnehin notwendig, begrifflich eine strengere Unterscheidung einzuführen und nicht mehr von der ‚Italienliteratur‘ als Einheit zu sprechen, die ja meist, so zeigen auch die ausgewählten Texte in Gendollas Buch, nur auf einen kleinen Teil Italiens beschränkt bleibt, den nördlichen meistens, mit einem Fokus auf den Zentren um Rom, Venedig und Florenz.

Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass Peter Gendollas Buch im Kern über bereits bekannte Erkenntnisse der Forschung kaum hinausgeht und wissenschaftlich somit wenig Neues bietet, wenn es auch für den Einsteiger eine nützliche, kompakte und durchaus kenntnisreiche Übersicht über deutschsprachige Italienliteratur seit Goethe darstellen mag. Worin indes die besondere Anziehung Italiens auf die deutschen Reisenden besteht, bleibt auch nach der Lektüre ungeklärt – und das Land im Süden damit weiterhin ein Faszinosum. So scheint der beste Weg zur (Er-)Findung Italiens noch immer die Reise dorthin zu sein.    

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Peter Gendolla: Die Erfindung Italiens. Reiseerfahrung und Imagination.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
135 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770556939

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