Im Jahrhundert der Angst

Georg Groddeck vermittelt faszinierende Einblicke in die ärztliche Kunst und in das Universum des Leibes

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir stehen jetzt in dem Jahrhundert der Angst.“ Diese Diagnose stellt der Baden-Badener Arzt Georg Groddeck 1906 seiner Zeit und seinen Zeitgenossen. Der „überbildete Europäer“ ist „unselbständig wie ein Kind, ein Sklave der Angst“, „schlotternd bis auf die Knochen vor Angst, das liebe Leben, dieses meist so erbärmliche Leben könne verloren gehen.“

Groddeck, der Robert Koch, Rudolf Virchow, Hermann von Helmholtz, Heinrich Adolf von Bardeleben, Emil Heinrich Du Bois-Reymond, Hermann Oppenheim, Heinrich Wilhelm Waldeyer und andere mehr zu seinen Lehrern zählte, war ein Zeuge der größten Triumphe der naturwissenschaftlichen Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihm entgingen aber auch ihre Unzulänglichkeiten, Fehlgriffe und Misserfolge nicht, die er mit Argusaugen betrachtete und unentwegt kritisierte. Schon in seiner Dissertation an der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin hatte Groddeck unter der Leitung Ernst Schweningers 1889 anhand einer Untersuchung über das Hydroxylamin „der lachenden Mitwelt“ die Wahrheit über den „endlosen Ballast von Arzneimitteln“ enthüllt, „die zu nichts gut sind“.

In einer Reihe von Aufsätzen, die nun in einem vom Psychoanalysehistoriker Michael Giefer exzellent edierten und kommentierten Band zum ersten Mal gesammelt veröffentlicht werden, entthront der junge Groddeck die wissenschaftlichen Ärzte, geißelt etwa den „Apothekerkram“ und den „Rezeptschwindel“, den diese „gefälligen Diener des lieben Publikums und fast noch öfter […] Handlanger der Chemie“ betreiben und fordert auch zu mehr Vorsicht und weniger Fortschrittsoptimismus auf. Groddecks Medizinkritik, die mit ihrer Vitalität und mit der breiten Palette der eingesetzten humoristisch-satirischer Mittel und Formen besticht, geht in eine umfassende Kultur- und Zivilisationskritik über, zum Beispiel wenn er die schädliche Wirkung moderner Bekleidung und Lebensweise auf die Frauen ins Visier nimmt, welche „durch unsere Kultur allmählich eine ganz verlogne Grazie bekommen haben, und sich immer mehr zu modisch aufgeputzten Marionetten ausbilden.“

Groddeck schwört auf die Heilkraft der Natur, die bei der naturwissenschaftlichen Medizin in Ungnade gefallen war. Namen wie Paracelsus, Rademacher und Pfarrer Kneipp begegnet man in seinen frühen medizinischen Texten oft, der Autor sträubt sich jedoch auch entschieden gegen die zeitgenössischen Exzesse der Reformbewegung und der Naturheilkunde, zum Beispiel gegen die überschießenden Badereisen und Kuren („Jede Pfütze wird jetzt zum Bade“). So zeichnet er in seinem Artikel „Cur und Curen“ (1894) ein weitläufiges Panorama der zahlreichen Heilverfahren, die um die Jahrhundertwende florierten – der Mastkur, der Hungerkur, der Durstkur, der Fleischkur, der Milchkur, der Massagekur, der pneumatischen Kur, der Schwitzkur und so weiter und lässt nicht einmal die Brech- und Ekelkur aus. Groddeck erkennt richtig, dass diese Phänomene „Ausdruck einer Reaction gegen die Auswüchse der Wissenschaft“ sind, stuft ihre „Dogmen“ aber als „genau so kurzsichtig und weit oft gefährlicher als die Irrthümer der Schulmedicin“ ein. Was er fordert und wofür er zeitlebens – auch als Psychoanalytiker ab 1917 – plädiert, ist dagegen die „individualisierende Kur“: Jeder Kranke hat seine „eigentümliche Krankheit“ und ist daher völlig individuell zu behandeln. Groddeck kritisiert die Medizin als Wissenschaft und stellt die Kunst des Arztens in den Vordergrund, die wie jede andere Kunst individualisieren muss und darf.

Die frühen medizinischen Schriften Groddecks sind ein reichhaltiger Fundus. Eingeflochten in die Kunst des Individualisierens sind viele wertvolle und originelle Ideen von einer überraschenden Einfachheit, aber von großer philosophischer Tiefe und Menschlichkeit – über das Wesen und den Wert von Krankheit und Gesundheit, über das Werden der Erkrankung, ohne das kein angemessenes Verständnis des kranken Menschen möglich ist, und über die nie aus den Augen zu lassende Gesamtheit des Organismus. So schreibt Groddeck, der spätere Begründer der psychoanalytischen Psychosomatik, 1894-1895 Folgendes: „Unser ganzes Denken geht von der falschen Voraussetzung aus, daß der Organismus sich in Teile zergliedern lasse und daß diese Teile voneinander unabhängig seien. Der Begriff der Gesamterkrankung, Gesamtdiagnose und Gesamttherapie ist in den Hintergrund getreten.“

Groddecks individualisierende Kur beruht auch auf einigen fast vergessenen oder aus der Mode gekommenen Therapierichtungen, die er in diesen frühen Aufsätzen kenntnisreich sowie mit viel schriftstellerischem Elan zu neuem Leben erweckt und souverän weiterentwickelt: die Diätetik, die Mechanotherapie und die Hydrotherapie – ein „bracher Boden“, auf dem er die reiche Saat seiner eigenen Ideen ausstreut. Besonderer Erwähnung bedürfen der Aufsatz „Die Wasserbewegung im Körper“ (Erstveröffentlichung 1906 im „Archiv für physikalisch-diätetische Therapie in der ärztlichen Praxis“) und die „Studien über die Rolle des Wassers im menschlichen Organismus“ (Erstveröffentlichung 1908 in der „Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre“). Groddeck entwirft hier ein ganzheitliches, aus mehreren Systemen und Kreisläufen bestehendes Modell des menschlichen Organismus und nimmt uns auf manch einem Pfad mit, auf dem das Leben strömt, um faszinierende Einblicke in das Labyrinth des Körpers, etwa in die „zierliche“ und „erstaunliche“ Welt des Auges, zu eröffnen. Und auch wenn für das Auge des Forschers und des Lesers vieles im Dunkeln bleibt, zum Beispiel wie die Selbstregulationsmechanismen des Körpers genau funktionieren, befreit Groddeck mit seinen ketzerischen, jedoch in der ärztlichen Praxis und einer jahrhundertelangen Tradition tief verwurzelten Ideen seine verunsicherten Zeitgenossen sowohl von ihren Ängsten als auch vom „heillosen Respekt“ vor der „heiligen Wissenschaft“ mit ihren „todten Lehren“ und vermittelt die Begeisterung und Verehrung für den Reichtum und die Kunstfertigkeit des Körpers, für die Weisheit des Leibes und des Lebens.

Titelbild

Georg Groddeck: Ketzereien. Schriften zum Arzten und zur Medizin 1889–1908.
Herausgegeben von Michael Giefer.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2013.
550 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783866001701

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