Blöder Kapitalistenfrieden

Schwierige Geburt eines Pazifisten: Hermann Hesses Briefe aus den Jahren 1905 bis 1915

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor dem Kriegsausbruch im Sommer 1914 waren bekanntlich alle Intellektuellen gleich, soll heißen: gleich fasziniert. Das gilt auch für Hermann Hesse, der zu seinen pazifistisch-weltbürgerlichen Positionen erst finden musste. Auch der Autor von „Peter Camenzind“ und „Unterm Rad“ wurde von der „Großen Zeit“, so eine der damals gängigen Pathosformeln, nicht „gerüsteter, würdiger oder besser“ angetroffen „als alle anderen auch“. Zu diesem Urteil kam Hesse selbst ein Jahrzehnt später; wer seine Briefe aus den ersten Kriegsmonaten liest, muss ihm zustimmen.

Diese Zeugnisse für die politische Naivität, bald aber auch Selbstbesinnung dieses literarischen Eigenbrötlers liegen nun im zweiten Teil einer auf zehn Bände angelegten neuen Hesse-Briefedition vor. Die Auswahl mit knapp 400 Schreiben aus den Jahren 1905 bis 1915, etwa einem Fünftel der bekannten Briefe Hesses aus diesem Zeitraum, zeigt: Gegen die kollektive „Psychose“, den nationalistischen Rausch, war Hesse zwar immun, doch als Pazifisten kann man den bei Kriegsausbruch 37-jährigen Bestsellerautor dennoch nicht bezeichnen. Und zwar weniger, weil er sich in seiner Schweizer Wahlheimat im August 1914 umgehend bei der Deutschen Botschaft freiwillig zum Landsturm meldete (aber dank seiner Kurzsichtigkeit zurückgestellt wurde), denn das wurde allgemein erwartet.

Sondern weil auch Hesse den Kriegsausbruch, nicht anders als so viele Denker dieser Zeit, aufgrund seines vermeintlichen „moralischen Wertes“ begrüßte. „Aus dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen zu werden, tat vielen gut, grade auch in Deutschland und für einen echten Künstler, scheint mir, wird ein Volk von Männern wertvoller, das dem Tod gegenübergestanden hat und die Unmittelbarkeit und Frische des Lagerlebens kennt“ – so Hesse noch Ende 1914 an seinem Schreibtisch im Berner Weltihaus.

Gunnar Decker hat Hesse in seiner Biografie (2012) als Dr.-Jeckyll-und-Mr.-Hyde-Natur charakterisiert: „Noch in dem beschaulich in seinem Garten Reisig verbrennenden Greis sitzt ein gefährlicher Pyromane auf dem Sprung.“ Was damit gemeint ist, wird klar, wenn man liest, wie Hesse Ende 1914 hoffte, zumindest bei einem Teil der „kämpfenden Jugend“ würde dauerhaft der „Sinn fürs Unzerstörbare“ gestärkt und ihr im Gegenzug die „Freude am Läppischen“ vergehen – womit alles in allem „mehr gewonnen“ wäre, „als mit einigen Städten und Domen verlorengehen kann“. Diese Ende 1914 formulierten Gedanken kann man noch in der 1917 entstandenen Erzählung „Demian“ finden.

Im Übrigen war Hesses anfängliche Haltung zum Krieg ebenso pragmatisch wie schlicht: Deutschland sollte möglichst rasch siegen, um dann mit den besiegten Nachbarn einen neuen Freundschaftsbund zu schließen. Schlimmer als das Gemetzel fand er die plötzlich grassierende Kulturfeindlichkeit, etwa den Boykott englischer oder französischer Autoren, die er als Kritiker in deutschen Zeitungen nicht mehr rezensieren durfte. „Am Krieg plagt mich zur Zeit am meisten die Brutalität, mit der über alles Politische und Soldatische hinaus allgemeine Geisteswerte verachtet und bespuckt werden“, erklärte Hesse Ende Oktober 1914 seinem Freund Conrad Haußmann.

Sein öffentliches Plädoyer, auch in Kriegszeiten die Literatur Literatur sein zu lassen und sie vor nationalistischer Hetze zu bewahren, fruchtete freilich wenig: Die deutsche Presse beschimpfte Hesse umgehend als „vaterlandslosen Gesellen“. Dass sich der Dichter seinem deutschen Publikum mehr und mehr entfremdete und sich zunehmend als Weltbürger verstand, hatte nicht zuletzt mit diesen Anfeindungen zu tun.

Letztere enthielten auch den Vorwurf, er sei ein „Drückeberger“. Als hätte er ihn geahnt, hatte Hesse in seinen Briefen an Familie, Freunde und Bekannte aus den ersten Kriegsmonaten ein ums andere Mal darauf hingewiesen, mit seiner baldigen Einziehung zu rechnen – sollte nur ja keiner denken, hier drücke sich einer vor seiner Pflicht. Der „Heldenmut“, mit dem er noch Ende Januar 1915 seiner Einberufung entgegensah, verging ihm dann aber doch. Den rettenden Ausweg bot die Möglichkeit, als eine Art Ersatzdienst von Bern aus deutsche Kriegsgefangene mit Lektürestoff zu versorgen.

Dabei wäre eine Flucht in den Krieg, wie sie etwa Robert Musil praktizierte, auch im Fall Hesses von einer gewissen inneren Logik gewesen. Denn auf der Flucht war Hesse nach 1905, nach seinem Durchbruch als Autor und der Gründung einer Familie, unentwegt: vor der kränkelnden Gattin und der wachsenden Kinderschar, vor dem zur Falle gewordenen Bauernhaus am Bodensee, nicht zuletzt vor den Erwartungen seiner Leser. „Ich gäbe meine linke Hand dafür, wenn ich wieder ein armer froher Junggeselle wäre, der nichts hat als zwanzig Bücher, ein paar Reservestiefel und eine Schachtel voll heimlicher Gedichte. So aber bin ich eben ein Familienvater, Hausbesitzer und allzu beliebter Autor“, klagte er 1911.

Und so flüchtete sich Hesse in dem Jahrzehnt vor Kriegsausbruch zu den Vegetariern auf den Monte Verità und in die Gartenarbeit, nach Italien und nach Indonesien (wo ihn aber seine sensible Konstitution bald wieder heimschickte), zum Schluss in Depressionen. „Dem Publikum, das meine Bücher frißt, möchte ich ins Gesicht hauen“, schrieb er 1907, „mir ist wie einem, der mit einer kühnen, neuen Lehre zu kommen glaubte und nun wie ein alter Freund und Selbstverständlicher begrüßt wird – entweder ist er also gar nichts oder ist er in keinem Wort verstanden worden. Man spielt eine Todesmelodie und wird beklatscht, als wärs ein netter Walzer.“ Die Rolle des Klatschenden nahm Hesse sieben Jahre später dann allerdings selbst ein.

Titelbild

Hermann Hesse: "Aus dem Traurigen etwas Schönes machen". Die Briefe 1905-1914.
Hrsg. von Volker Michels.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
635 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424087

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