Logbuch aus dem Schlachthaus

Der im Irak gebürtige, heute in Deutschland lebende Najem Wali erzählt in „Bagdad Marlboro“ von einem zerrissenen Land in Angst und Schrecken

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, das erst noch kommen wird“, zitiert Najem Wali im Vorspann aus Italo Calvinos „Die unsichtbaren Städte“. Wenn es eine Hölle gibt, „ist es die, die schon da ist“. Damit haben wir zu leben.

Najem Wali wurde 1956 im südirakischen Basra geboren. Um der Einberufung anlässlich des Ersten Golfkriegs zu entkommen, floh er 1980 nach Deutschland. Diese Flucht ist insofern unser (höllisches) Glück, als Wali in seinen Büchern zu beschreiben versucht, was seither in seiner alten Heimat vor sich gegangen ist. Auch wenn der jüngst übersetzte Roman „Bagdad Marlboro“ zehn und mehr Jahre zurückblendet, hat er vor dem Hintergrund des Feldzugs der ISIS-Fundamentalisten nichts an Bedeutung verloren. Von Ferne gleicht der Irak weiterhin einer real existierenden Hölle. Wali beschreibt sie in drei Kapiteln, die zwar zeitlich definiert sind, einander aber immer wieder überlagern und durchkreuzen, weil das Leben in der Hölle jede zeitliche Struktur und jeden klar gefassten Gedanken zunichte macht.

Es sind die Kriege, die das Leben von Salmân Mâdi und seinem Freund, dem Ich-Erzähler, prägen und zerstören: der Erste Golfkrieg zwischen Iran und Irak 1980-1988, der Zweite Golfkrieg 1990 / 1991, schließlich der Dritte Golfkrieg 2003, als eine „Koalition der Willigen“ Saddam Hussein stürzte. Während der Erzähler, von Beruf Tiermediziner, die Kriege in relativ sicheren hinteren Linien übersteht, wird sein Freund Salmân an die Front geschickt. 1990 lernt er in der Wüste, als die Iraker 23 Amerikaner gefangen nehmen, den schwarzen Leutnant David Barbiero kennen, mit dem er Zigaretten teilt und Gedichte austauscht. Doch im Schlachthaus des Kriegs ist derlei nicht vorgesehen. „Man muss wählen […] ob man Totschläger oder Totgeschlagener sein will.“ Als die Kämpfe eskalieren, macht sich Salmân ohne es zu wollen mitschuldig am Tod Barbieros. In diesem Durcheinander verliert er sein Notizbuch, worin er die Träume seiner Kameraden festgehalten hat.

In jenen Jahren erhält auch der amerikanische Soldat Daniel Brooks, wie David Barbiero ein Schwarzer, eine Einberufung in den Mittleren Osten. Er durchläuft die Schule eines sadistischen Majors und macht sich unentbehrlich bei der Einrichtung von Versorgungsdepots. Doch jener Major will ihm nicht verzeihen, dass Daniel den Krieg vergleichsweise gefahrlos besteht. Es gelingt ihm, den tüchtigen Organisator in eine Falle zu locken: Er zwingt ihn, mit einem Bulldozer irakische Soldaten in ihren Gräben einzubuddeln und zu ersticken. Wie Salmân wird Daniel unfreiwillig mitschuldig an einem Kriegsverbrechen.

Diese Schuld vermag er, wieder zuhause, einige Jahre lang zu verdrängen, doch dann bricht sie erneut auf. Er erinnert sich an ein Notizbuch, das er anonym in der Wüste gefunden hat – jenes von Salmân, worin sich nur ein Hinweis auf die Person des Ich-Erzählers findet. Diesem will es Daniel Brooks in den Irak zurückbringen und sich zugleich bei den Opfern für seine Taten entschuldigen. Doch die Aktion ist gefährlich. Für Brooks, weil er entführt wird, für den Erzähler, weil ihn der Kontaktversuch des Amerikaners zum Feind der Islamisten stempelt. Bagdad ist in jenen Monaten im Frühjahr 2003 die Hölle, auch unter amerikanischer Besatzung.

Tot schlagen oder tot geschlagen werden, das ist die Frage, die Najem Walis Roman stellt. Es gibt kein Entrinnen. Der Erzähler erhält von den Islamisten ein Ultimatum: Er soll seinen „Freund“ Daniel Brooks eigenhändig umbringen. Das ist der Sinn des Krieges, suggeriert Wali: Schuld laden auch die auf sich, die es gar nicht wollen.

Während der Erzähler in den Süden des Iraks flieht und Daniel von seinen Entführern umgebracht wird, mietet sich Salmân im Zentrum Bagdads in einer Kaschemme ein. Der Krieg hat ihn kaputt gemacht, die Polizei wird ihn unter fadenscheinigen Gründen umbringen. Das Notizbuch mit den Träumen bleibt verschollen. Einzig ein Gedicht findet am Ende, Jahre später, den Weg zum Erzähler. Eine poetische Notiz aus dem Krieg, mit den Zeilen: „Schau nur / Welche Namen wir schreiben / In der Düsternis der Frontnacht / Bagdad … Marlboro“. Es ist das Dokument einer unrettbaren Freundschaft.

Walis Roman erzählt von einem Land, das durch zahlreiche Kriege versehrt und zerteilt ist. So wie die Fronten oft kaum erkennbar sind, so lässt Wali die Erzählebenen einander durchkreuzen und gegenseitig aufladen. Das Leben macht die Menschen kaputt, die Welt ist korrupt, ein Entrinnen gibt es höchstens für flüchtige Augenblicke. „Die Wirklichkeit stellte jede Phantasie in den Schatten“, heißt es im Buch. Wie sollte er, fährt der Erzähler fort, mit Fabulierlust an seine Aufgabe herangehen, „wenn all die Geschichten, Katastrophen und Ereignisse, das Morden und die Zerstörung, die sich vor mir abspielen“, ihm jede Lust nehmen, überhaupt davon zu berichten. Dennoch tut er es, mit irrlichternder Präzision, mit erschreckender Anschaulichkeit und mit offenkundig besten Kenntnissen. Hartnäckig kreist er um die vergeblich gestellte Frage „Wo ist die Gerechtigkeit?“ – in einem Land der Gauner, Verbrecher und Mörder.

Wenigstens seinem Erzähler erlaubt Wali ein bescheidenes Happy-End, indem ihn Nachîl, die von Salmân verlassene Frau, auf seiner Flucht begleitet. Im Untertitel heißt das Buch „Ein Roman für Bradley Manning“ – für jenen Soldaten also, der mit seinem Geheimnisverrat an Wikileaks die amerikanischen Kriegsverbrechen im Irak an den Tag brachte. Im August 2013 wurde er dafür zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt. Manning steht für eine andere, indes allzu ähnliche Geschichte, wie Wali mit seinem Untertitel andeutet.

Der Ich-Erzähler schreibt sein Buch aus der Sicherheit des Exils, wo er „nach einer langen Odyssee, einer fast dreijährigen Irrfahrt durch verschiedene Länder der Welt“ eine „Art Heimat“ gefunden hat. Von hier aus besucht er den Prozess gegen Manning in den USA und nimmt Kontakt mit dessen Anwalt auf. Zumindest in seiner Fiktion will er ein Stück Gerechtigkeit walten lassen. Der Erzähler (und Wali mit ihm) hat sein Buch auch für Bradley Manning geschrieben: „Damit er erfährt, dass er kein Verräter ist.“

Titelbild

Najem Wali: Bagdad Marlboro. Roman.
Übersetzt aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
352 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783446244856

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch