Idyll des Vergessens

Ein Besuch im Steinhof

Von Sophia ArtmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sophia Artmann

Lange bevor es Zeit ist aufzubrechen, werde ich vom Wiener Berufsverkehr durch ein stetig auf- und abebbendes Rauschen geweckt. Im Interieur der Pension hat sich seit dem „Anschluss“ Österreichs offenbar nichts mehr geändert. Die blickdichten Gardinen wehen vor dem geöffneten Fenster sanft hin und her. Gegenüber sitzt ein Pärchen auf der Fensterbank und raucht Zigaretten. Der Sommertag ist trüb und ich verfahre mich gründlich auf dem langen Weg stadtauswärts zu den Steinhofgründen. Der Bus folgt einer breiten, scheinbar endlos langen Straße in schnurgerader Linie. Er leert sich zusehends, je weiter er das Zentrum hinter sich lässt, schließlich sind nur noch wenige Fahrgäste mit Rollatoren darin, einige Jüngere sehen schäbig und etwas niedergeschlagen aus. Sie alle verlassen den Bus am Otto-Wagner-Spital. Dem Ort, der in Thomas Bernhards „Heldenplatz“ zum vorläufigen Exil für die Familie Schuster wird, zum Ort der Ausgrenzung, der panischen Flucht vor dem Wahnsinn einer faschistischen Gesellschaft. Ein nur scheinbarer Fluchtort vor der Verfolgung ist die „Heil- und Pflegeanstalt“, wie sie zynischerweise auch zu NS-Zeiten genannt wurde, denn der Schatten der nationalsozialistischen Menschenvernichtung breitete sich bekanntlich schnell auch über der Medizin und der Psychiatrie aus, um dort eine grauenhafte Gestalt anzunehmen. Doch auch vorher schon war der Steinhof sicherlich ein Symbol für die dunkle Kehrseite des mondänen Wien: ein bedrohlich stiller, ernster Ort außerhalb der Metropole, der geschäftigen Normalität des Großstadtalltags. Hier scheint die Zeit ein gutes Stück langsamer zu vergehen als im Stadtinneren Wiens.

Als ich vor dem grünen Tor stehe, umgibt mich eine seltsame Ruhe. Es gibt hier keine Wohnhäuser und kaum Verkehr, nur die hohe, gusseiserne Umzäunung der Anlage scheint sich endlos an der breiten Straße entlang zu erstrecken. Nun wird deutlich, wie groß dieses Gelände sein muss. Es ist eine Stadt in der Stadt, seit knapp 300 Jahren ein Teil von ihr. Nur viel dünner bebaut.

Ich betrete das Anwesen durch das mit Kameras besetzte Tor und stehe vor einem weißen Jugendstilgebäude. Es ist das Verwaltungsgebäude der „Heil- und Pflegeanstalt am Steinhof“. Auf der Fassade thront weit oben der Schriftzug „Otto-Wagner-Spital“. Dem Jugendstil-Architekten sind sowohl die Anstaltskirche als auch diverse weitere prominente Gebäude in Wien zu verdanken. Der Bau hinter der Einfriedung erinnert unmittelbar an das Anstaltsgebäude aus dem Film „Shutter Island“ von Martin Scorsese. Die glatte, gepflegte Fassade wird konterkariert durch die Vorstellung dessen, was sich in den Jahren seit ihrer Erbauung hinter ihnen abgespielt haben mag.

Heute ist das Spitalgelände auch für Touristen erschlossen. Es gibt einen Rundgang mit verschiedenen Stationen, ja sogar eine Art Shuttle-Gefährt, das dem Psychiatrie-Besucher eine Rundfahrt anbietet – das allerdings kaum in Anspruch genommen wird. Zumindest an diesem diesigen Tag nicht, an dem ich mich auf den Weg gemacht habe, die in der österreichischen Literatur und vor allem im Werk Thomas Bernhards vielfach erwähnte Anstalt zu besuchen.

Ich beginne also den Rundgang über einen schmalen Kiesweg. Er führt hinter dem Verwaltungsbau entlang. Oben auf den Balkonen stehen ein paar rauchende Personen dicht aneinandergedrängt. Sie werfen misstrauische Blicke auf die Besucher. Bald passiere ich das Gebäude „Am Spiegelgrund“, vor dem in einem durch kleine Ginsterhecken abgegrenzten Beet 800 stabförmige Lampen wie eingepflanzt Spalier stehen. Es ist das Mahnmal für rund 800 Kinder, die hier ermordet wurden – durch Hunger, Verwahrlosung, medizinische Versuche oder Misshandlungen durch das Anstaltspersonal. Im Dunkeln ist die Installation ein Lichtermeer, doch jetzt am Tag sehen die weißen Stäbe in ihrer starren Symmetrie kalt und leblos aus. „In Steinhof haben sie der Frau Professor ja im Jänner wieder einen elektrischen Schock gegeben […] aber es hat nichts genützt“ die Anekdote der Haushälterin im „Heldenplatz“ kommt nicht von ungefähr. Elektroschocks waren noch bis weit in die 50er- Jahre in der Psychiatrie gängige Behandlungsmethoden – und wurden selbstverständlich auch zur „Erziehung“ der „bildungsunfähigen“ Kinder benutzt, die dort zwischen 1938 und 1945 interniert waren.

Der Weg biegt links ab und führt durch ein ansteigendes, mit schönen, alten Kastanien bewachsenes Parkgelände. Der Wind wiegt das hohe Gras zwischen den Bäumen hin und her – es scheint, als besuche man ein Naherholungsgebiet. Nichts an der Naturidylle erinnert an all die Menschen, die hier ums Leben kamen. „Die Irrenanstalt muss in einer anmuthigen Gegend liegen, geeignet das Gemüth zu erheitern.“ So heißt es im Auftragsschreiben der Regierung Niederösterreichs zum Bau des Spitals. Nach einem kurzen Anstieg erreiche ich den höchsten Punkt des Gebiets: die architektonisch bedeutende Anstaltskirche. Die vergoldeten Kupferplatten auf ihrer Kuppel strahlen kaltes Licht in den bewölkten Himmel. Die betenden Engel an der Fassade haben alle das gleiche Kindergesicht. Ein Stück weiter befindet sich die Ausstellung zum Gedenken an die insgesamt 7.500 Menschen, die hier zu Tode kamen. Das Banner mit dem Schriftzug „Wider das Vergessen“ ist von der Sonne ausgeblichen und hängt schlaff an der Außenmauer herab. Ich betrete die Ausstellung. Es gibt ganze zwei Räume mit Wandtafeln, Bildern der Verantwortlichen und Berichten über nie zu einem Urteil gekommene Gerichtsprozesse. Der Oberarzt Heinrich Gross, der Steinhof in den NS-Jahren leitete und für die meisten Kindermorde verantwortlich war, forschte bis in die 1970er- Jahre an den entnommenen Gehirnen getöteter Kinder und war bis Ende der 90er- Jahre der meistbeschäftigte psychiatrische Gerichtsgutachter Wiens. Doch nicht nur er konnte sich vor der Nachkriegsjustiz retten: Das gesamte Personal des Steinhofs, inbegriffen das der Kinderheilanstalt Spiegelgrund, wurde nach dem Krieg „in Stand und Gebühr“ übernommen.

Angesichts solch magenverdrehender Fakten österreichischer Geschichts- „Aufarbeitung“ wundert es nicht, dass Thomas Bernhard im „Heldenplatz“ durch seinen Protagonisten Robert Schuster ein ganzes Volk des bis in die Gegenwart verschleppten Nationalsozialismus beschuldigt. Ich kehre um in dem Gefühl, hier etwas zu suchen, das es nicht gibt. Ein Wort der Reue, des Bedauerns vielleicht, ein weiteres Mahnmal, nein, ein Monument scheint hier angebrachter. Ungläubig kopfschüttelnd stehe ich vor den Spuren der größtenteils ungeahndeten Verbrechen, die hier an unschuldigen Menschen auf grauenhafte Weise verübt wurden. Auf einen letzten Versuch betrete ich schließlich das Verwaltungsgebäude. Und hier finde ich eine Marmortafel, etwa im DIN A3-Format. Auf ihr steht:

ZUM GEDENKEN
AN DIE OPFER DES
NATIONALSOZIALISTISCHEN STAATES
IN DER PSYCHIATRIE UND
ZUR MAHNUNG
ERRICHTET IM JAHR 1988

Das Jahr 1988 ist also nicht nur das Jahr des Theaterskandals um Bernhards „Heldenplatz“, das Jahr, in dem der Anschluss Österreichs sich zum 50. Mal jährte – sondern auch das Jahr, in dem die Opfer des Steinhofs für würdig befunden wurden, ihnen eine Marmortafel zu stiften. An der gegenüberliegenden Wand gibt es noch eine Marmortafel. Auf ihr stehen die Namen aller Anstaltsleiter seit der Eröffnung des Otto-Wagner-Spitals 1907. Darunter liegt ein Blumenkranz.