Houellebecq öffnet seine Schädeldecke
Im Lyrikband „Configuration du dernier rivage“ entsteht ein melancholisches Gesellschaftsportrait
Von Emily Jeuckens
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Wenn ich es physisch spüren kann, dass meine Schädeldecke abgenommen wird, weiß ich, das ist Dichtung“, erklärte die Lyrikerin Emily Dickinson 1870. Für eben jenes Gefühl sorgt der skandalträchtige französische Autor Michel Houellebecq eindrucksvoll mit „Gestalt des letzten Ufers“. Mit chirurgischer Präzision arbeitet er sich durch verregnete Tage, Melancholie bis hin zur klinischen Depression. Sein lyrisches Ich erleidet in diesem Gedichtband all jenen Schmerz, der als programmatisch für unsere Zeit gehandelt und doch oft verschwiegen wird.
Wie schon in seinem 2012 erschienen Roman „Karte und Gebiet“ (ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, dem wichtigsten französischen Literaturpreis) verschreibt sich Houellebecq der minutiösen, hochaufgelösten Betrachtung des Alltags. Anders als in seiner vielgerühmten und ebenso scharf diskutierten Belletristik wendet sich der Autor nach spitzzüngigen Betrachtungen des Literaturbetriebes nun dem Innenleben eines kummergeplagten lyrischen Ichs zu. Damit vollzieht er einen Wechsel auf die Spur der beinahe essayistischen Lyrik, die man sich auf Schreibmaschinentasten getippt ebenso vorstellen kann, wie an einem regnerischen Nachmittag auf den Rand einer Serviette gekritzelt.
„Gestalt des letzten Ufers“ ist der fünfte Lyrikband Houellebecqs – doch wie keiner seiner Vorgänger wird er nun von der französischen, aber auch der deutschen Presse, unumwunden als autobiographisch rezipiert: Mit diesem Werk habe sich Houellebecq endlich einmal selbst gezeigt, den Leser in sein Tagebuch und seine Intimsphäre eingeladen, so die einschlägige Meinung. Eine ungeheure Erfahrung sei es, so die Zeitung „Le Monde“ zur Veröffentlichung der französischen Ausgabe im Mai, die der Leser hier machen könne: Am eigenen Leib spüren, wie es ist, Michel Houellebecq zu sein. Franziska Wolffheim („Der Spiegel“) ließ sich gar zu einer zweifelhaften Einschätzung hinreißen, die den Literaturwissenschaftler – angesichts ihrer ontologischen Fragwürdigkeit – skeptisch stimmt: „(…) es ist hier sicher erlaubt, das lyrische Ich und den Autor gleichzusetzen“.
Interessanterweise wurde die autofiktive Darstellung eines der Protagonisten aus „Karte und Gebiet“ in den Feuilletons weniger aufgeregt verhandelt. Dass die Figur Michel Houellebecq am Ende des Romans brutal ermordet und mit einer chirurgischen Kreissäge in Kleinteile zerlegt wurde, schien der französischen Presselandschaft weniger über den Geisteszustand des Autors zu sagen als die etwa 80 kurzen Gedichte in „Gestalt des letzten Ufers“.
Doch der Gedanke, dass Houellebecq mit seinem vielschichtigen Konzept des self-fashionings auch in seiner Lyrik fortfährt, ist nicht abwegig. Tatsächlich knüpfen die Gedichte an zwei wichtige Motive aus „Karte und Gebiet“ an: die Schreibblockade und der radikale Rückzug aus der Gesellschaft. So äußert sich der Roman-Houellebecq in einem Gespräch mit dem Protagonisten (und ebenfalls als alter ego des Autors verstandenen) Jed Martin auf die Frage nach der Schriftstellerei: „Anfang Dezember habe ich versucht, ein Gedicht über Vögel zu schreiben“ – doch mehr als das Füttern der Tiere habe er nicht zustande gebracht. Diese für das lyrische Ich schmerzhafte Erfahrung der Schreibblockade dominiert viele der Gedichte ebenso wie die gelegentliche Kurzprosa: „Mon cerveau est entièrement imprégné de ses vapeurs cruelles, fer de lampe et basses besognes sous le clignotement incertain d’un signal d’alarm. Tout le reste est bien fade comparé à ce jeu de mort“ („Mein Hirn ist ganz und gar von seinen grausamen Dämpfen durchdrungen, Eisenlampe und niedere Arbeiten unter dem unsicheren Blinken einer Warnleuchte. Verglichen mit diesem Spiel auf Leben und Tod ist alles Übrige ziemlich fad“). Dazu gehören ebenso Zweifel und Verzweiflung über die Existenz als Schriftsteller: „Et à quoi bon écrire des livres / Dans le désert inattentif?“ („Und wozu soll es gut sein, Bücher zu schreiben / In der achtlosen Wüste?“).
In „Karte und Gebiet“ lebt Protagonist Jed Martin nach dem Tod des Roman-Houellebecq vom Verkauf seiner Bilder, zurückgezogen auf einem riesigen elektrisch-umzäunten Grundstück, das er völlig der Natur überlässt. Voller Desinteresse gegenüber der Gesellschaft beobachtet er zerfallendes Cellophan-Papier und stirbt einen qualvollen Krebstod.
Auch das lyrische Ich der „Gestalt des letzten Ufers“ lebt allein, es schreibt und liebt allein: „J‘ai pour seul compagnon un compteur électrique / Toutes les vingt minutes il émet des bruits secs / Et son fonctionnement précis et mécanique / Me console un p’tit peu des mes récents échecs“ („Ich habe einen Stromzähler zum einzigen Gefährten, / Alle zwanzig Minuten klickt er trocken, / Und sein präzises, mechanisches Wirken / Tröstet mich ein bisschen über meine jüngsten Misserfolge hinweg“).
„Gestalt des letzten Ufers“ ist maßgeblich in drei Themenkomplexe aufgeteilt: Da ist zunächst die Einsamkeit, die Überdruss (ganz im Sinne von Baudelaires „ennui“) und Hass auf eine überindustrialisierte Gesellschaft erzeugt. Dann die Trauer um eine verlorene Liebe sowie die sexuelle Habgier des lyrischen Ichs, die jedoch ebenso als scharfe Gesellschaftskritik verstanden werden kann: In seiner Welt der Warnleuchten und Stromzähler zählen Zweck und Ausführung mehr als Gefühl.
Alle Themenkomplexe bieten enormes Spannungspotenzial, provozieren und deprimieren den Leser gleichermaßen. Metrisch bietet der Gedichtband ein breites Spektrum, von lupenreinen Alexandrinern bis hin zu Satzbruchstücken, Entwürfen und auch einzelnen kurzen Prosatexten. Die damit verbundene Abwechslung und der spielerische Umgang mit den Erwartungen an Lyrik machen jede Seite aus „Gestalt des letzten Ufers“ zu einem neuen Erlebnis, sorgen für neue Freude am Blättern und an Streifzügen durch Houellebecqs lyrisches Terrain: „Tout ce qui n’est pas purement affectif devient insignifiant. Adieux à la raison. Plus de tête. Plus qu’un cœur“ (Alles nicht rein Affektive wird bedeutungslos. Adieu, Vernunft. Kein Kopf mehr. Nichts als ein Herz“).
Die unstete Übersetzung des Teams Stephan Kleiner und Hinrich Schmidt-Henkel dagegen dürfte das Urteil der deutschen Kritiker beeinträchtigt haben: „Reim dich oder ich fress dich“, mokiert sich Caroline Fischer (Deutschlandfunk) süffisant; Houellebecqs Lyrik sei nicht zu retten. Tatsächlich versuchen die Übersetzer häufig, Passagen, die im Original nicht als Reim, sondern als kurze prosaische Versatzstücke daher kommen, in ein geeignetes Reimschema zu pressen, dafür wiederum gereimte Verse sinngemäß zu übertragen:
„Les serpents rampent sous le sable / (Toujours en direction Nord) / Rien dans la vie n’est réparable / Rien ne subsiste après la mort.“ – Diese kreuzgereimte Versfügung lautet in der Übersetzung nun: „Die Schlangen kriechen unterm Sand / Immer in Richtung Norden / Nichts ist im Leben wiedergutzumachen / Nichts bleibt übrig nach dem Tod“.
Die deutsche Prosafassung in dieser liebevoll gestalteten deutsch-französischen Ausgabe mag eleganter sein als der Versuch einer lyrischen Übertragung, doch zugleich finden sich wiederholt Passagen, in denen das ursprünglich frei formulierte Original in deutsche Verse gezwängt wurde: „Stets kommt der Moment, in dem man rationalisiert / Reiz und ohne Freude, gemächlich demoliert“ („Vient toujours un moment où on rationalise / Sans saveur et sans joie, calmement démolie“). Diese seltsame Unstetigkeit ist vielleicht mit Freude am Sprachspiel zu erklären, erweist „Configuration du dernier rivage“ jedoch keinen guten Dienst.
Denjenigen, die die Sprachbarriere des Originals überwinden können, sei außerdem das Album „Les Parages du vide – Aubert chante Houellebecq“ empfohlen. Der Sänger Jean-Louis Aubert vertonte darauf fünfzehn der Gedichte aus „Gestalt des letzten Ufers“.
Mit „Karte und Gebiet“ legte Michel Houellebecq einen Wirtschaftskrimi vor, der diejenigen fesselte, die ein intelligentes Mordkomplott in ihm lasen und diejenigen begeisterte, denen die Spitzen gegen den französischen Buch- und Kunstmarkt nicht entgangen sind. „Gestalt des letzten Ufers“ hätte es auf dem Lyrikmarkt sicherlich schwer, stünde nicht der große Name Michel Houellebecq darüber – doch auch nach dem Kauf werden viele Fans von der Abgründigkeit, der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung überrascht sein, die sich hier schonungslos präsentieren.
Wer aber bereit ist, Michel Houellebecq ein weiteres Mal neu zu entdecken – weder als Autor des provokanten Kultromans „Elementarteilchen“ noch als Prix-Goncourt-Darling – findet eine drastische Aktualität in jedem der präzise gearbeiteten Verse. Eine bittere, intime und tiefgründige Analyse unseres Alltags wartet auf diesen 180 Seiten und zugleich, dem beinahe lässig verwendeten Talent des Autors sei Dank, ein unwahrscheinlich großer Lesegenuss.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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