Gut, böse, de Sade

„De Sade oder Die Vermessung des Bösen“ von Volker Reinhardt erzählt das Leben des berühmten Freigeistes

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein Leben! Vielleicht sagt nichts so viel über das Werk des Donatien Alphonse François, Marquis de Sade aus, wie: Es gehört schon einiges dazu, ein solches Leben neben dem literarischen Œuvre verblassen zu lassen. Dieses Leben, dieser Ritt auf der Rasierklinge, beginnt am 2. Juni 1740 in Paris. Geboren als Sohn eines Lebemanns (vorsichtig formuliert) von südfranzösischem Adel, erzogen in einem Jesuitenkolleg, ohne nennenswerten Kontakt zur Mutter und mit einem geistlichen Onkel, der ihm ein frühes Muster des leichten Lebens (erneut: vorsichtig formuliert) war, zeichnet sich der sechzehnjährige Donatien im Siebenjährigen Krieg durch außerordentliche Tapferkeit aus, als er im englischen Kugelhagel eine Festung erstürmt. Nach dem Friedensschluss wird er verheiratet und beginnt mit den ersten gerichtskundigen ,Ausschweifungen‘, deren blasphemisch-unsittliches Verhalten für größere Skandale sorgt. Die Schwiegermutter, besorgt um den Ruf der Familie, protegiert den jungen Mann und bewahrt ihn vor den juristischen Konsequenzen – umsonst. Denn Donatien, selbstherrlich und von geradezu bodenlos unverschämter (oder dummer) Offenheit, treibt seine Eskapaden mit Prostituierten, Bediensteten und angeworbenen Minderjährigen immer weiter, und das keineswegs unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit. Irgendwann wird es Schwiegermutter und Königreich zu bunt: Er wird zum Tode verurteilt, und nur eine vorher angetretene Reise nach Italien bewahrt ihn vor diesem frühen Ende. Doch nachdem das erste Gras über die Sache gewachsen ist, kehrt er in die Heimat zurück, und nach einigen filmreifen Versteckspielen wird er schließlich auf königlichen Befehl ohne Verhandlung oder Urteil inhaftiert – das Todesurteil ist zuvor aufgehoben worden, die Rechtsprechung hat den einen oder anderen politischen Wandel erfahren.

Zwölf Jahre sitzt er im Gefängnis, erst im Schloss Vincennes bei Paris, dann in der Bastille. In den ersten Revolutionsunruhen in der Hauptstadt, kurz vor dem 14. Juli 1789, ruft er dem Volk auf den Straßen zu, dass man die Gefangenen hinter den Festungsmauern umbringe; daraufhin wird er in die Irrenanstalt Charenton gebracht, ehe er im Zuge der Aufhebung königlicher Haftbefehle 1790 wieder freikommt. Mittellos und frisch geschieden – seine Frau hat genug von seinem Lotterleben – sieht er als Adliger einer heiklen Zukunft entgegen. Aber anstatt das Land zu verlassen oder zumindest unterzutauchen, schließt sich der Marquis kurzerhand den Revolutionären an, übernimmt sogar öffentliche Ämter – darunter einen Posten als Richter – und profiliert sich bei der Reform der Krankenhäuser. Schließlich aber wird er, nicht zuletzt wegen seiner Romane, denunziert und erneut inhaftiert. Diesmal sind die Chancen schlecht, ein unmoralischer Adliger hat in den Tagen der terreur einen schlechten Stand in Paris. Nach Monaten im Gefängnis wird er denn auch mit zwei Dutzend Mitgefangenen zum Tode verurteilt. Ein Zufall rettet ihn: Am Tag der Hinrichtung werden Robespierre und seine Anhänger gestürzt; zwar sollen die Verurteilten noch guillotiniert werden, Donatien kann sich aber lange genug verbergen, bis niemand mehr etwas von den Urteilen des Wohlfahrtsausschusses wissen will: Wieder ist er mit dem Leben davongekommen und frei.

Er findet eine neue Frau, lebt als freier Schriftsteller und wird 1801 infolgedessen – erneut inhaftiert. Diesmal allerdings vom napoleonischen Konsulat, das für einen libertin wie de Sade keinen Platz in der Gesellschaft sieht. Charenton, wohin er letztlich verlegt wird, ist die letzte Station seines Lebens. Der Anstaltsleiter gewährt ihm – gegen ausdrückliche Befehle seiner Vorgesetzten – weitgehende Freiheiten: Er darf schreiben, seine Partnerin darf ein Appartement neben dem seinen beziehen und er darf das anstaltseigene Theater leiten. Und nachdem er jahrzehntelang für Skandale gesorgt hat, ein Häftling der französischen Könige, der Revolutionäre, des Konsulats und schließlich des Kaisers war, nachdem er dem Tod mehrmals nur knapp entkommen ist und mit seinen Romanen europaweit für Furore gesorgt hat, stirbt dieser Mann vierundsiebzigjährig – in seinem Bett. Wahrlich, kein Wort muss mehr über die Romane verloren werden, die dazu in der Lage sind, ein solches Leben vergessen zu machen!

Den Roman dieses Lebens wiederum hat nun Volker Reinhardt geschrieben. Und die Bezeichnung ,Roman‘ ist mit Bedacht gewählt: Zwar handelt es sich bei „De Sade oder Die Vermessung des Bösen“ um ein höchst informatives und äußerst unterhaltsam geschriebenes Buch, aber mit dem vollmundigen Versprechen, die erste „seriöse De-Sade-Biographie seit mehr als zwei Jahrzehnten“ zu sein, ist es nicht allzu weit her.

Das liegt in erster Linie an einer Formfrage: Reinhardt legt seine Quellen nur sehr zurückhaltend offen, im Schnitt kommt er auf etwa einen Quellenverweis pro Seite. Blickt man auf diese Anmerkungen, merkt man rasch, dass die wichtigste Quelle in Gilbert Lelys Materialiensammlung „Vie du Marquis de Sade“ besteht, was an sich natürlich nicht verwerflich, in Anbetracht des dünnen Literaturverzeichnisses aber etwas einseitig wirkt. Neben Lely, aus dem Reinhardt vor allem die Briefe des Marquis’ bezieht, wird fast nur noch aus den Romanen zitiert. Heikel wird das dort, wo der Autor im Indikativ Aussagen anderer in seinen Text einfließen lässt, ohne auf einen entsprechenden Beleg zu verweisen – nicht, weil man ihm tatsächlich unterstellen sollte, dass er Teile der Biografie zusammengedichtet hat, sondern weil er die Möglichkeit, daran zu denken, so überhaupt erst heraufbeschwört.

Neben diesem – durchaus gravierenden – Mangel kann man Reinhardts Buch allerdings keine echten Vorwürfe machen. Es mag sein, dass er sich bei der Bewertung der Polizeiakten etwas im Wirrwarr von Anschuldigungen, Gegenanschuldigungen, Denunziationen und überraschenden Einigungen verstrickt und seine Bewertung der Glaubhaftigkeit der einen oder anderen Seite (was zumeist bedeutet: des Marquis’ oder der von ihm mitunter in Lebensgefahr gebrachten jungen Frauen) damit nicht immer nachvollziehbar erscheint. Davon ab aber zeichnet er ein differenziertes Bild des libertins, das nicht versucht, die abschreckenden Seiten zu beschönigen oder die angenehmeren Charakterzüge zu verschweigen. So lernt der Leser einen de Sade kennen, der einer Achtzehnjährigen offenbar völlig sorglos eine letale Dosis Cantharidin – besser bekannt als Spanische Fliege – verabreicht, um sich an ihren Blähungen zu erfreuen (die junge Frau überstand diese Tortur), der gleichzeitig aber auch mehrere verarmte Familien mit Almosen unterstützt, obwohl sein Lebensstil ihm selbst kaum genug Geld zum Leben lässt. Und im Gegensatz zu seinen monströsen Romanfiguren akzeptiert der Adlige ein „Nein“ genauso, wie er niemals einen Mord begehen wollte – was Reinhardt zu der immer wieder betonten und zweifellos richtigen Erkenntnis führt, dass man sehr genau zwischen den ironisch gebrochenen libertins der de Sade’schen Romanwelten und dem echten Freigeist de Sade im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts trennen muss. Die Romane de Sades funktionieren als Gedankenspiele, als theoretisierende Charakterstudien des Menschen, dessen Schlechtigkeit in einer gottlosen Welt für den Atheisten de Sade absolut feststand – und nicht als Gebrauchsanweisung für Sexualverbrecher. Keine ganz neue Idee, natürlich, aber doch eine, die zu wiederholen Sinn ergibt, wenn man mit der einen oder anderen Legende um diesen Mann aufräumen will.

Darüber hinaus schildert Reinhardt dieses Leben mit einer bewundernswerten Leichtigkeit, gelegentlich sogar in einem eleganten Plauderton, der seinem weltgewandten, schillernden Gegenstand alle Ehre macht. Der brillante Stil der Erzählung macht die formalen Schwächen oft genug vergessen (was, sachlich besehen, nicht ungefährlich ist), und erschwert es seinem Leser, von dem Buch abzulassen. Man sollte sich bei der Lektüre also nicht ständig blenden lassen – für die volle Glaubhaftigkeit fehlen Reinhardts Darstellung zu viele Nachweise. Am unterhaltenden und informativen Wert dieser Biografie ändert das aber nichts, da sie im besten Fall eine eigene vertiefte Auseinandersetzung mit Autor und Werk anregt, die dann die fehlenden Belege selbst erschließen kann. Dem egozentrischen Menschenforscher de Sade wäre das sicher recht.

Titelbild

Volker Reinhardt: De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
464 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406665158

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