Fallstricke der Vergangenheitsaneignung

Vom Scheitern eines Versuchs, die Notwendigkeit der Trennung von Recht und Moral aus dem Rechtsdenken im „Dritten Reich“ zu begründen

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mit allem Nachdruck“, so begann der Jurist Otto Kirchheimer, ein Schüler Carl Schmitts, einen Ende 1941 im New Yorker Exil verfassten Aufsatz, „nimmt das nationalsozialistische Rechtssystem für sich in Anspruch, endgültig die Kluft überbrückt zu haben, die in der liberalen Ära die Sphären von Recht und Moral voneinander getrennt hatte. Recht und Moral“, so Kirchheimer, der als Jude und Sozialist im Sommer 1933 aus dem Deutschen Reich geflohen war, „sind von nun an dasselbe“. Dies jedenfalls sei der Anspruch des NS-Regimes, den Kirchheimer im weiteren Verlauf seines Aufsatzes gründlich dekonstruierte. Mittels ausgewählter Beispiele aus dem Bereich der materiellen Rechtsetzung – NS-Erbhofgesetzgebung, Ehe- und Familienrecht sowie Eigentums- und Wirtschaftsrecht – sowie einer Analyse von NS-Justizapparat und -personal zeigte er die Widersprüche zwischen diesem Anspruch und der Realität in der NS-Rechtspraxis auf. „Nirgendwo“, so lautete der letzte Satz von Kirchheimers Ausführungen, „ist der Entfremdungsprozess zwischen Recht und Moral so fortgeschritten wie gerade in einer Gesellschaft, die angeblich die Integration dieser Bereiche bewirkt hat“.

Diese Einschätzung Kirchheimers, der als Vertreter der Kritischen Theorie Zeit seines Lebens Recht und Rechtsetzungsprozesse als politische Phänomene untersuchte und alle Formen des Rechts auf ihre politischen Inhalte befragte, ist so ziemlich das Gegenteil jener Ergebnisse, zu denen die Herausgeber des vorliegenden Bandes kommen. Herlinde Pauer-Studer, Professorin am Institut für Philosophie der Universität Wien, und Julian Fink, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im dortigen Projekt „Distortions of Normativity“, geht es um die Frage, was die aktuelle Rechtstheorie und Rechtsphilosophie aus dem NS-Rechtsdenken lernen können. Sie verschreiben sich damit dem seit einigen Jahren zunehmenden Interesse, die normativen Grundlagen des NS-Staates, dessen partikulare Moral und verbrecherische Praxis in dezidiert philosophisch-theoretischer Absicht zu befragen. Damit unmittelbar verbunden ist das demokratietheoretische Programm einer Rechtsphilosophie in menschenrechtlicher Perspektive. Und der Nationalsozialismus bietet sich als Negativfolie an, weil er alles das zu repräsentieren scheint, wogegen sich dieses Programm richtet.

Der Band besteht aus einem technischen Vorwort, einer 120 Seiten langen Einleitung Pauer-Studers und 39 Quellentexten von NS-Juristen aus den Jahren 1933-1943, die von den Herausgebern gekürzt wurden. Der dokumentarische Teil ist nach sechs Sachaspekten gegliedert. Die Überschriften lauten: „Die Grundsätze des NS-Rechts“, „Recht, Gesetz und ‚Sittlichkeit‘: Die Moralisierung des Rechts im Nationalsozialismus“, „Der Übergang zum nationalsozialistischen Staat“, „Staat, Verfassung und Gemeinschaft“, „Die Gesetzgebung der Judenverfolgung“ und „Strafrecht, Polizeirecht und Rechtsprechung“. Die zeitgenössischen Texte stammen von bekannten Staats- und Zivilrechtlern wie Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber, Otto Koellreuther, Karl Larenz und Carl Schmitt, aber auch von weniger prominenten Juristen aus der NSDAP wie Ludwig Fischer, Konrad Morgen, Gerhard Wagner und Wenzel von Gleispach. Sie sind in den Bibliotheken meist leicht greifbar. Umso überraschender ist, dass sich die Herausgeber bei den Rechtsnachfolgern dieser Autoren um eine Druckgenehmigung bemühen mussten. Einige Dokumente konnten nicht in die Sammlung aufgenommen werden, weil die Erben ihre Zustimmung verweigerten. So prominente Verfechter der NS-Strafrechtslehre wie Georg Dahm oder führende „Rassenforscher“ der NSDAP wie Achim Gercke sind deshalb nicht vertreten. Inwieweit sich diese Absurdität (es handelt sich dabei immerhin um Personen der Zeitgeschichte, deren NS-Texte in der Regel frei zugänglich sind) den neuesten Kapriolen des immer unüberschaubareren Urheberrechts verdankt, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten.

Die Einleitung von Mitherausgeberin Pauer-Studer beschränkt sich in aller Regel auf ein vorsichtiges Paraphrasieren der Quellentexte, das man mit viel Wohlwollen als hermeneutisch-ideengeschichtliche Analyse bezeichnen kann. Immerhin hat ein solches Vorgehen den Vorteil, dass die Texte als solche ernstgenommen werden, freilich um den Preis ihrer völligen Entkontextualisierung. Weder werden die Ausführungen der Autoren gewichtet, noch werden die Thesen der rechtshistorischen Forschung zum NS-Regime vorgestellt, geschweige denn kritisch evaluiert. Die Personenkommentare zu den Autoren der Quellentexte sind banal; Hinweise auf wichtige, mittlerweile erschienene Biografien unterbleiben. Die Vernachlässigung der Methodik und der Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschung zum NS-Staat ist Programm, geht es Pauer-Studer doch um die rechtsphilosophische Frage nach den „normativen Adäquatheitsbedingungen für intaktes Recht“. Sie will moralische Einsichten, deren Berechtigung sie übrigens durchaus anerkennt, in Rechtsgarantien übersetzen, die Autonomie und Würde der Person intakt lassen und jedwede ideologisierende Moralisierung vermeiden. Den Nationalsozialismus sieht sie dabei als Beispiel für eine ideologisch verzerrte „Ethisierung“ des Rechts, die sich in erster Linie aus dessen Insistieren auf neuen Rechtsprinzipien wie „Volk“, „Gemeinschaft“, „Sittlichkeit“, „Ehre“ und „Rasse“ sowie der „Führerautorität“ als neuer Rechtsquelle ergeben habe.

Pauer-Studers Ausführungen sind jedoch durch eine fundamentale Aporie gekennzeichnet. Zum einen verkündet sie apodiktisch, das Beispiel des Nationalsozialismus zeige, dass eine Trennung von Recht und Moral in einer modernen Rechtsordnung unverzichtbar sei. Zum anderen hebt sie diese Trennung wieder auf, wenn sie ihren Kriterien eines „intakten Rechts“ implizit das universalistische Konzept der Menschenrechte zugrunde legt, das ja selbst aus einer universalen Moral (!) resultiert. Zudem verkennt sie in ihrem Plädoyer für eine rechtliche Bändigung der Moral die fundamentale Bedeutung physischer Gewalt für Prozesse der Rechtsbildung, wie sie etwa Walter Benjamin in „Zur Kritik der Gewalt“ 1921 so subtil kritisiert hat. Demzufolge sei das Recht eine Institution, die sowohl Gewalt ausübe wie deren Monopolisierung betreibe, um sich selbst erhalten zu können. Die Gewaltsamkeit des Rechts ist daher kein Spezifikum des „Dritten Reiches“. Um die von den Herausgebern intendierten rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Probleme zu erörtern, ist der Rekurs auf das NS-Rechtsdenken keineswegs zwingend. Ebenso wenig vermag Pauer-Studers Interpretation der zeitgenössischen Quellentexte zu überzeugen. Letztlich rundet sie die Postulate weniger führender NS-Juristen zur Rechtswirklichkeit des NS-Staates insgesamt auf, oder, um es mit Niklas Luhmanns Rechtssoziologie auszudrücken: sie verallgemeinert eine bloße Reflexionstheorie des Funktionssystems „Recht“ unzulässiger Weise zum Funktionsprinzip der NS-Rechtspraxis insgesamt.

Eine derartig einseitige, wenn nicht gar irreführende Interpretation hätte sich leicht vermeiden lassen, wäre Pauer-Studer an irgendeiner Stelle des Bandes auf den eingangs genannten Aufsatz Kirchheimers zu sprechen gekommen. Kirchheimer zeigte darin, dass nach 1933 nicht die Moralisierung des Rechts (die er zudem als gar nicht gegeben ansah) zum Problem wurde, sondern die Hinwendung der Justiz zu einer bloß technischen Rationalität. Darunter verstand Kirchheimer das aus dem Taylorismus entlehnte Prinzip größt- und schnellstmöglicher Effizienz und die damit einhergehende Unterwerfung des Rechts unter die Alltagsbedürfnisse des NS-Regimes. Besonders beunruhigend ist in diesem Zusammenhang, dass sich diese Etablierung einer technischen Rationalität nicht allein auf dem Wege einer politischen Programmierung des Rechtssystems vollzog, sondern ebenso auf dem Wege einer Selbstaneignung der nationalsozialistischen Praktiken. Dies verweist auch auf die rechtsphilosophisch interessantere Frage: Wie ist es zu vermeiden, dass ein Rechtssystem mittels seiner eigenen, formal rationalen Rechtsfindung eine menschenverachtende Praxis exekutiert?

Titelbild

Herlinde Pauer-Studer / Julian Fink (Hg.): Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
563 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296431

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch