Vom Nordwind bebröselt

J.A. Baker schreibt ein mystisch-mythisch und poetisch aufgeladenes Buch über den Wanderfalken

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nichts passiert. Ein Mann geht durch die Landschaft von Essex. Falken fliegen und jagen. Das ist alles. Und der Mann beschreibt, was er sieht und was er fühlt. Wie kann daraus ein so aufgeladenes, ein so extremes Buch werden?„Erst spät lernte ich die Vögel lieben. Jahrelang hab ich sie nur als ein Huschen am Rande des Blickfelds wahrgenommen. Sie kennen Leid und Freude in einer Schlichtheit, die uns verwehrt ist. Ihr Leben wallt auf in einem Puls, den unsere Herzen niemals erreichen könnten. Sie rasen ins Vergessen. Sie sind alt, noch ehe wir erwachsen sind.“ Im Herbst und Winter Anfang der sechziger Jahre geht J. A. Baker aus, um Vögel zu beobachten, vor allem die Falken. Eher distanziert am Anfang, nähert er sich ihnen immer mehr an, nach diesem „Huschen am Rande des Blickfelds“. Bald weiß er, wo und wie er die Falken suchen muss, die sich verstecken, wie andere Vögel, nur an anderer Stelle: „Die Kiebitze flogen auf und davon. Sie hatten sich in Ackerfurchen versteckt, während der Falke in den funkelnden Wellungen des Himmels verborgen gewesen war.“

Oft zeigen ihm die anderen Vögel, wo er suchen muss: „Als plötzlich die Watvögel aufflogen, schaute ich, was hinter ihnen war, und sah einen Falken aus dem nördlichen Himmel herabstoßen“, oder: „Als ein prasselndes Crescendo aus Dohlen in die Ulmen fuhr und verstummte, wusste ich, dass der Falke in der Luft war.“

Nach und nach aber sieht Baker immer genauer, bis er sogar ihre Anwesenheit spürt: „Um drei Uhr spürte ich ein leichtes Stechen im Nacken, was bedeutete, dass mich jemand in meinem Rücken beobachtete. Dieses Gefühl muss beim Urmenschen sehr stark ausgeprägt gewesen sein. Ohne den Oberkörper zu wenden, schaute ich über meine linke Schulter. 200 Meter hinter mir saß der Falke auf dem tiefen, waagerechten Ast einer Eiche.“

Immer genauer beschreibt er die Falken, breitet erstaunliche Fakten aus, zum Beispiel über ihre Augen, vergleicht sie mit den Augen der Menschen: „Stünden unsere Augen im selben Verhältnis zum Körper wie beim Wanderfalken, hätte ein 75 kg schwerer Mann Augen mit einem Durchmesser von 7,5 cm und einem Gewicht von 2 kg.“ Sie sind viel schärfer als die des Menschen, vergrößern das, was sie im Fokus haben, um ein Vielfaches, sodass er seine Beute aus vielen hundert Metern sehr groß sieht.

Aber Baker ist kein Romantiker, genau so beschreibt er auch das Töten, macht klar, dass der Falke ein Raubtier ist: „Ich will auch verdeutlichen, wie blutig das Töten vonstatten geht. Allzu oft wurde von Falkenschützern darüber hinweggegangen. Der fleischessende Mensch ist in keiner Weise besser. Es fällt uns so leicht, Totes zu mögen. Das Wort ‚Raubtier‘ ist ausgeleiert von missbräuchlicher Verwendung. Alle Vögel fressen irgendwann in ihrem Leben lebendiges Fleisch. Man denke an die kaltäugige Drossel, diesen drollig hüpfenden Fleischfresser aus dem Vorgarten, der Würmer aufspießt und Schnecken totschlägt. Wir sollten über ihrem Gesang nicht in Sentimentalität versinken und darüber das Töten vergessen, das ihn erst ermöglicht.“ Wie beim Häher, den er einmal sieht: „Schwerfällig flog einer von ihnen mit einer Eichel im Schnabel auf. Er verließ den Schutz der Bäume, stieg hoch über die Wiesen und flog auf den 400 Meter entfernten Waldrand zu. Die große Eichel in seinem sperrangelweit geöffneten Schnabel sah aus wie eine Zitrone im Maul eines gebratenen Ebers. Ich hörte ein zischendes, schnurrendes Geräusch, das wie das ferne Trommeln einer Schnepfe klang. Etwas sauste hinter dem Häher vorbei, der plötzlich in der Luft zu stolpern schien. Wie ein Korken ploppte die Eichel aus seinem Schnabel. Der Häher geriet seitlich ins Fallen und schlug nieder, als hätte er einen Anfall. Der Boden brachte ihm den Tod. Zugleich schoss auch der Falke herab und trug den toten Vogel zu einer Eiche. Dort rupfte und fraß er ihn, schlang hastig das Fleisch herunter, bis nur noch die Flügel, Brustbein und Schwanz übrig waren.“

Nach und nach aber nähert sich Baker den Vögeln noch mehr an, er verwandelt sich, wie ein Schamane: „Unbewusst imitierte ich die Bewegungen des Falken, wie in einem archaischen Ritual; der Jäger, der sich in seine Beute verwandelt… In diesen Tagen im Freien leben wir dasselbe rauschhafte, angsterfüllte Leben. Wir meiden die Menschen. Wir hassen ihre plötzlich erhobenen Arme, ihr wirres Gefuchtel, ihren unsteten, scherenden Gang, ihre stolpernd ziellose Art, ihre grabsteinweissen Gesichter“: Hier wird plötzlich das „Ich“ des außenstehenden Beobachters zum gemeinsamen „Wir“, Mensch und Vogel zur gleichen Existenzform. Und einmal schreibt Baker sogar von seinem Austreten aus dem christlich-mörderischen Kreis, seinem Sein als Naturmensch – mehr Natur als Mensch, mehr Mythos als Zivilisation, mehr Mystik als distanzierte Beobachtung: „Ich werde ihm folgen, bis meine bedrohliche Menschengestalt das wirbelnde Kaleidoskop, das die Sehgrube seiner glänzenden Augen füllt, nicht mehr in Angst verdunkeln lässt. Mein heidnischer Kopf soll im Winterlandboden versinken, auf dass er rein werde.“

Zehn Jahre lang hat Baker, von dem man in diesem Buch fast nichts erfährt, die Falken begleitet, die in den sechziger Jahren in England vom Aussterben bedroht waren. In einen einzigen Winter, den er in Tagebuchnotizen aufschreibt, gießt er all seine Beobachtungen und findet für jede Bewegung, jede Regung, jedes Wetter und jeden Wind stets neue Worte. Nie wiederholt er sich, und es ist, als wenn die Wörter ihm zufallen, als wenn es gar keine anderen geben könnte als die, die Baker „benutzt“. Manchmal scheint es fast, als wenn die Wörter ihn instrumentalisierten.

Da stehen die Rebhühner „in dunklen Zirkeln“, der Horizont „befleckt sich mit fernen Städten“, eine Flussmündung „öffnet ihren silberblauen Trichtermund“, ein Falke „dolcht auf eine schwimmende Möwe herab“, „in tigerwilden Kreisen“ stürzt er sich auf Kiebitze, „golden blitzten seine umherfahrenden Krallen. Ein ebenso prachtvolles wie prahlerisches Niederstoßen“. Wie Arno Schmidt erfindet er Verben: „Der Nordwind bebröselte weiß die gegitterten Hecken“, wenn er vom „herabsäbelnden Himmelssturz“ schreibt, und der „Himmel riss auf, barst von wirbelnden Vögeln“.

Auch die Perspektiven verschieben sich. Einmal notiert er, als ein Falke eine Taube reißt: „Der Boden rauschte heran und zerschmetterte“ das Tier, und einmal schien es bei einem Strandläufer, „als fiele dieser langsam zum Falken zurück. Dann verschmolz er mit dessen dunkler Silhouette und tauchte nicht wieder auf.“ Denn der Falke lebt in einer anderen Welt als wir: „Der Wanderfalke lebt in einer zerfließenden Welt ohne Halt, einer Welt der Wellen und Wogen, aus versinkenden Flächen von Land und Wasser.“

Und so ist das Buch aus der Reihe „Naturkunden“ nicht nur ein wundervoller Bericht aus der Tierwelt, voller genauer Beobachtungen, aber auch voller Trauer über das Verschwinden dieser Tiere, die von den Menschen vertrieben und ermordet werden. Es ist auch ein sprachliches Meisterwerk, poetisch und mit einer Mystik durchzogen, die von der Metamorphose und Transformation eines Menschen in eine Naturgestalt erzählt. So dicht und nah, so fantasievoll-genau, so dichterisch und melancholisch wird von der Natur selten erzählt.

Titelbild

John A. Baker: Der Wanderfalke.
Herausgegeben von Judith Schalansky und mit einem Vorwort von Robert Macfarlane.
Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Jandl und Frank Sievers.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
219 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783882213935

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