Selbstporträt mit tanzendem Tod

Wie die Brücke-Künstler den Ersten Weltkrieg erlebten – zwei Publikationen des Brücke-Museums Berlin

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel erlebten den Kriegsausbruch im Sommer 1914 auf der Ostseeinsel Fehmarn und an der Flensburger Förde. Karl Schmidt-Rottluff hatte den Juni ebenfalls an der Ostsee im Fischerdorf Hohwacht und im Juli in Bayern verbracht. Max Pechstein wurde vom Krieg während seines Aufenthalts auf den deutschen Palau-Inseln in der Südsee überrascht, die Japaner internierten ihn, er saß dann in Manila fest und musste von New York aus als Kohlentrimmer mit falschem Pass auf einem holländischen Schiff die Rückreise nach Europa antreten.

Emil Nolde befand sich bereits auf der Rückreise von seiner Neuguinea-Expedition im Sues-Kanal und schlug sich von hier unter chaotischen Umständen allein nach Deutschland durch. Infolge seines Alters entging er dem Militärdienst und lebte in seinen abgelegenen Wohnsitzen im Norden Deutschlands – auf der Ostseeinsel Alsen – einen Arbeitsalltag, der sich kaum von dem der Vorkriegszeit unterschied. In seinem Atelier schuf er Hunderte von Ölgemälden und Aquarellen und hatte zahlreiche Einzelausstellungen. Bereits 1913 hatte er visionär Kriegsbilder geschaffen, so die Darstellung der bedrohlich in Reih und Glied aufgereihten „Soldaten“ mit ihren Bajonetten und Pickelhauben. In dem Moment, wo sich seine Kriegsvisionen bewahrheiteten, wurden sie ihm unheimlich. Für alle einstigen Brücke-Künstler sollte sich radikal ihr Leben verändern.

Wie die Brücke-Künstler den Ersten Weltkrieg erlebten, wie sie diesen ersten „totalen“ Krieg in ihrem künstlerischen Schaffen zu bewältigen suchten, erläutern zwei auf umfassenden Recherchen beruhende Publikationen des Berliner Brücke-Museums: „Weltenbruch – Die Künstler der Brücke im Ersten Weltkrieg 1914-1918“ von Aya Soika und „Ernst Ludwig Kirchner – Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ von Magdalena M. Moeller und Günther Gerken. Sie sind zugleich die Kataloge zu den beiden gleichnamigen Ausstellungen, die das Brücke-Museum bis 16. November 2014 zeigt. Der „Weltenbruch“, so Aya Soika in ihrem Buch, lässt sich in der Kunst der Brücke-Künstler nur indirekt erahnen. „Der Krieg resultierte nicht in einem Bruch mit ihrem bisherigen Schaffen, sondern in einem Sich-Vergewissern, dass die Kunstideale im Angesicht des Krieges unversehrt weiterbestehen konnten“.

War anfangs der Wunsch der Brücke-Künstler stark ausgeprägt, zum Kampf Deutschlands beizutragen, erhofften sie sich von einer Einberufung neue Motive und starke Eindrücke für ihre Kunst, überhaupt eine geistige Erneuerung, die über die Kunst hinausging, so kam es bald zu einer völligen Desillusionierung, ja Zerrüttung ihrer Persönlichkeit. Die Kunst wurde von ihnen als Aufgabe begriffen, dem anonymen Leiden und Sterben eine individuell-menschliche, eine friedliche Welt gegenüberzusetzen.

An die Stelle der Landschaftsmotive der Sommerwochen 1914 traten bei Kirchner zunächst die hektischen Großstadtbilder, die Beziehungslosigkeit und Anonymität der Passanten. Während seiner militärischen Ausbildung erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Die Kriegsjahre waren von Drogenabhängigkeit, Angstzuständen und psychischer Krankheit überschattet, die sich in der zitternden Linienführung vieler Zeichnungen widerspiegelt. Sein „Selbstbildnis als Soldat“ (1915) mit einer abgehackten rechten Hand entstand kurz nach seiner krankheitsbedingten Entlassung aus dem Militärdienst. Das „Soldatenbad“ von 1915 nimmt in den zusammengedrängten, entindividualisierten, nackten Körpern deren Schicksal – das Massensterben – schon vorweg.

Pechstein nahm als Infanterist an den Somme-Kämpfen teil, war dann aber als Kartograf in einer privilegierten Situation, die er „gegen den Graben“ als „Lebensversicherung“ bezeichnete. Er skizzierte Szenen aus dem militärischen Alltag, die er vervielfältigte und als Briefpapier an Freunde sandte. 1917/18 konzentrierte er sich vor allem auf Südsee-Themen, die teilweise auf seinen geretteten Skizzen des Jahres 1914 beruhten, teilweise frei erfunden waren. Alle Szenen geben eine idealisierte Version seiner Reiseerlebnisse wieder. Er wandte sich dann den Genres Stillleben und Porträt zu. Seine Kriegserlebnisse hat er lediglich in dem Zyklus „Somme 1916“ wiedergegeben. Auf die Erfahrung von Gewalt und Verletzung reagierte er hier karikaturistisch, sie macht nicht das Trauma des Erlebten sichtbar. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches kam es bei Pechstein zu einem kurzen Intermezzo als politischer Künstler, bis er dann wieder zu seinen Bildmotiven Landschaft und Stillleben zurückkehrte.

Heckel war als Sanitäter in Flandern stationiert, zeichnete verwundete und tote Soldaten, sein „Irrer Soldat“ (1916, Tempera auf Leinwand) ist eine der ersten Darstellungen eines Kriegsneurotikers. Nicht die physischen Verwundungen, sondern die inneren Verletzungen werden dargestellt – das ist bezeichnend für Heckels künstlerische Reaktion auf den Krieg. Gegen Ende 1915 wurde ihm der barmherzige Samariter zum Sinnbild seiner selbst. Seine fast drei Meter hohe, dem Meer entsteigende Maria mit dem Jesuskind, die er auf zwei zusammengenähten Zeltbahnen malte, wurde am Weihnachtsfest 1915 in Ostende als „religiöses Hoffnungsbild“ von den Soldaten empfunden. Diese „Madonna von Ostende“ ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden, sie kann nur in einer Farbreproduktion gezeigt werden. Die Kriegszerstörungen in seinen Zeichnungen von 1915 kontrastieren mit seinen Gemälden der heilen Landschaft in Flandern und an der Nordseeküste in den Jahren 1916 bis 1918 – „Sehnsuchtsbilder“ sind sie genannt worden. Sein Gemälde „Roquairol“ geht auf die Lektüre von Jean Pauls „Titan“-Roman im Jahr 1917 zurück. Die Figur des gequälten Roquairol assoziierte Heckel mit seinem nervenkranken Brücke-Kollegen Kirchner, der in die Schweiz geflohen war.

Otto Mueller war in den ersten Kriegsjahren, in denen er kein Einberufungsbefehl erhielt, als Maler recht erfolgreich. Im Sommer 1916 musste er dann als Landsturmmann in den Krieg ziehen und war in Frankreich, Belgien und Russland stationiert – er hat nur wenige Arbeiten in den Kriegsjahren geschaffen, die zudem nichts von seiner seelischen Not verraten. Akte inmitten der Natur blieben sowohl in der Grafik als auch in den Gemälden das Leitmotiv seiner Kunst. Nur eine Lithografie „Schützengraben“ (1918) ist erhalten geblieben, die einen krassen Gegensatz zu seinen arkadischen Figurenbildern darstellt. Mit seiner Rückkehr nach Berlin in den künstlerischen Alltag begann eine neue intensive Phase seines Schaffens, die sich jedoch stilistisch von seinen Arbeiten der Vorkriegszeit kaum unterschied.

Noch vor seiner Einberufung entstanden 1915 bei Schmidt-Rottluff zahlreiche Porträts von befreundeten Künstlern wie dem Maler Lyonel Feininger, dem Architekten Paul Thiersch sowie der Sammlerin Rosa Schapire. Sie bilden den Schlusspunkt seines bisherigen Künstleralltags. Als Soldat in einem Armierungsbataillon erlebte er den Vormarsch nach Russland, die Kriegsrealität veränderte seine deutsch-nationale Gesinnung, er beschrieb die Kämpfe als „Mord zwischen Mensch und Mensch“. Im Oktober 1916 verbesserte sich seine Lage, er wurde der Presseabteilung im Stab Ober-Ost in Kowno (heute Kaunas, Litauen) zugeordnet und konnte nun selbst wieder künstlerisch tätig werden. Er schuf Skulpturen aus Holz – viele sind von afrikanischen Skulpturen inspiriert –, beklemmende religiöse Holzschnitte und einige Aquarelle. Im Oktober 1917 schrieb er nach Berlin über den „Wahnsinn, zu dem sich dieser Krieg ausgewachsen hat“. Seine sogenannte „Kristus“-Mappe (1918, Holzschnitte) enthält Szenen aus dem Leben Christi, aber auch Themen wie Liebe, Verrat und Leiden. Das Blatt eines von Strahlen umgebenen Christus, der die Jahreszahl 1918 auf seiner Stirn trägt, erregte damals größte Aufmerksamkeit und wurde als Appell an eine neue Zeit verstanden.

Das Ringen um die Identität als Künstler im Angesicht des Krieges spiegelt sich auch in zahlreichen Selbstbildnissen der Brücke-Künstler wider. Bei Kirchner ist der zunehmende psychische Verfall in drastischer Weise zu erkennen. Das „Selbstbildnis mit Zigarette“ (1915) mit selbstbewusster Haltung wird von dem „Selbstbildnis zeichnend“ (1916), nach Kirchner „in einer Nacht entstanden, wo sich das Bewusstsein halb aufgelöst hatte“, und dem „Selbstporträt mit tanzendem Tod“ (1918) voll „tiefer Traurigkeit“, die sich durch die Arbeit lösen sollte, abgelöst. Auch Heckel fertigte im Laufe des Krieges einige nach innen gekehrte, nachdenkliche Selbstbildnisse an. Pechsteins „Selbstbildnis mit Pfeife“ (1917, Öl auf Leinwand) meldet entschlossenen Widerstand an.

Ausführlich geht Aya Soika auf die Kunst und Künstler der „Brücke“ im Ersten Weltkrieg ein, beschäftigt sich mit den damaligen Debatten um eine neue Kriegskunst und gibt eine Chronik der Jahre 1914 bis 1918 in Form eines Kriegstagebuches, das alle biografischen Fakten und künstlerischen Ereignisse der Brücke-Künstler erfasst. Auch ihre Ausstellungen in den Kriegsjahren werden einbezogen.

Als „blutigen Karneval“ hat Kirchner den Ersten Weltkrieg erlebt. Sein Holzschnittzyklus zu Adelbert von Chamissos Novelle „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1915) zeigt ihn als gebrochene, von Krankheit, Angstzuständen und Depressionen gezeichnete Figur. Das Brücke-Museum kann in seiner Ausstellung erstmals alle fünf Folgen dieses Zyklus präsentieren, der einen Höhepunkt nicht nur in Kirchners druckgrafischem Werk, sondern für den expressionistischen Holzschnitt überhaupt darstellt. Ein Exemplar dieser Bilderfolge, die aus 6 Holzschnitten, einem Titelblatt und einer Umschlagslithografie besteht, besitzt das Brücke-Museum selbst, die anderen sind vom Kunstmuseum Basel, dem Städel in Frankfurt am Main, dem Museum Folkwang in Essen und der National Gallery of Art in Washington ausgeliehen worden. Jede Folge, jedes Blatt, jeder Abzug unterscheidet sich voneinander – und kann somit als Unikat angesehen werden. Alle einzelnen Motive sind einander gegenübergestellt, so dass der Betrachter die Unterschiede im Druck und die Farbvariationen unmittelbar vergleichen kann. Auch die Publikation über Kirchners Schlemihl-Zyklus vermag in einer technisch und gestalterischen Meisterleistung – durch die Gegenüberstellung von Klein- und Großformaten, durch mehrfach ausklappbare Seiten, durch eine hervorragende Druck- und Farbqualität wie auch durch eine aufzufaltende Beilage, auf der man alle fünf Exemplare überblicken kann – diese Vergleiche von Folge, Blatt und Abzug transparent zu machen.

Am 3. Dezember 1915 plante Kirchner, die Arbeit an den Holzblöcken für seinen Zyklus aufzunehmen. Eine Woche später war die 8-teilige Holzschnittserie fertig. Die Beschäftigung mit der Figur des Peter Schlemihl, des Mannes ohne Schatten, war eben auch eine Beschäftigung mit sich selbst und seiner eigenen verzweifelten Lebenssituation in den Kriegsjahren. Das Gehetzte und Gejagte seiner Ich-Figur ist Ausdruck von Kirchners Angst, von dem „uniformierten Teufel“ wieder zum Militär eingezogen zu werden. Drogenkonsum und Nahrungsverweigerung hatten seinen Körper zerrüttet. Kirchners Bilder sind keine Illustrationen im herkömmlichen Sinne, er ließ sich von der literarischen Vorlage zu eigenen Bildgedanken anregen und gab Darstellungen des eigenen, zerrissenen Ich, seiner seelischen und körperlichen Qualen.

Der Künstler hat hier die Tragik des Verlustes von Selbstvertrauen und Identität in erschütternder Weise dargestellt. Die Zur-Schau-Stellung des sich entblößenden Künstlers erinnert an die Bildtradition des Ecce Homo („Sehet, ein Mensch!“). Die ungebrochenen transparenten Farben verleihen den Holzschnitten eine besondere Leuchtkraft, wie man sie von mittelalterlichen Glasfenstern kennt. Von Blatt zu Blatt steigert sich mit der Dramatik des Geschehens auch der Farbreichtum. Indem Kirchner die Farben wie Bauelemente einsetzte, sie übereinander druckte, vermochte er souverän die visuelle Wirksamkeit verschiedener Formen, die eine innere und äußere Bewegtheit suggerieren, unabhängig vom dargestellten Gegenstand einzusetzen. In dem Blatt „Kämpfe“ etwa, das die Unvereinbarkeit von Künstlertum und bürgerlicher Existenz thematisiert, liegt auf dem Blau-Schwarz-Weiß der beiden Köpfe ein blutroter Farbstreifen, der auf den Lippen des Mannes, in seinem Kopf und in der nach seinem Herzen greifenden Krallenhand der Geliebten wiederkehrt.

Günther Gerken, dessen siebenbändiges Werkverzeichnis der Kirchner’schen Druckgrafik in Kürze erscheinen wird, führt in den Schlemihl-Zyklus ein und analysiert tiefschürfend dessen Komposition, Stil und Technik wie Themen und Motive. Blatt für Blatt beschäftigt er sich mit den inhaltlichen und formalen Aspekten der Folge. Dagegen widmet sich Magdalena M. Moeller dem Dichter des „Schlemihl“ und untersucht, warum er diese Geschichte geschrieben hat. Während Chamisso seine Schlemihl-Figur zwar in der Schattenlosigkeit belässt, ihr aber mit Hilfe der Siebenmeilenstiefel letztlich doch eine sinnvolle Existenz gibt – damit sein eigenes Schicksal als Weltumsegler und Naturforscher vorwegnehmend –, bleibt Kirchners Schlemihl-Ich ein Ausgestoßener, ein Fremder, ein Einsamer, der Verzweiflung überlassen. Kirchners Lebenslinie hat durch den Ersten Weltkrieg einen solchen Bruch erfahren, den er – auch durch den Rückzug in die Einsamkeit der Schweizer Bergwelt – nicht mehr bis zu seinem selbstgesetzten Lebensende überwinden konnte.

Titelbild

Ernst Ludwig Kirchner: Peter Schlemihls wundersame Geschichte.
Herausgegeben von Magdalena M. Moeller und Günther Gerken.
Prestel Verlag, München, London, New York 2014.
207 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-13: 9783791353753

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Titelbild

Aya Soika: Weltenbruch. Die Künstler der Brücke im Ersten Weltkrieg 1914-1918.
Herausgegeben von Magdalena M. Moeller und vom Brücke-Museum, Berlin.
Prestel Verlag, München, London, New York 2014.
238 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783791353760

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