Charlotte, Caroline und die Liebe in all ihren Reichtümern

Eine Dreiecks-Konstellation in Friedrich Schillers Leben und in Dominik Grafs Film „Die geliebten Schwestern“

Von Gert SautermeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gert Sautermeister

 I

Dominik Grafs Film hat sich als Publikumsmagnet erwiesen. Schon seine Darbietungsformen machen ihn attraktiv: historischer Kulissenfilm, der die authentische Wiedergabe einer vergangenen Epoche verspricht, die prägnante Epochenzäsur durch die Französische Revolution, romantische ständeübergreifende Liebesbegegnungen, das Wechselspiel von Salonkultur und malerischen Naturszenen, Familienkonflikte mit ausladenden Seelendramen, Einblendungen einer tödlichen Krankheitsgeschichte.

Die Anziehungskraft insbesondere der Liebesbegegnungen ist wohlkalkuliert. Eine ältere Generation, die vor mehr als drei Jahrzehnten für ihr Liebesleben die unsägliche, von Unvermögen und Langeweile geprägte Formel „Beziehungskiste“ erfunden hat, mittlere Generationen, die ihren erschöpften Ehebindungen durch neue Beziehungspartner entrinnen und ihre Kräfte in „Patchwork“-Familien investieren, jüngere Generationen, denen die nüchterne Lebenspragmatik noch nicht die Träume von einer großen Liebe ausgetrieben hat: sie alle können sich beflügeln lassen von der im Film inszenierten Liebesromantik. Denn diese hat ein faszinierendes Doppelgesicht. Sie findet als leidenschaftliche Dreiecksgeschichte statt und wird von den Leidenschaften anderer Akteure begleitet. Leidenschaften bilden die Signatur dieses Films.

II

Dominik Graf, der Regisseur, hat auch das Drehbuch der „Geliebten Schwestern“ verfasst, in freier Anlehnung an eine historische Konstellation, von der zunächst die Rede sein soll. Es handelt sich um die Liebe Friedrich Schillers zu den Schwestern Caroline und Charlotte von Lengefeld, den Töchtern einer Adelsfamilie, die relativ früh den Tod ihres treusorgenden Ernährers zu beklagen und daher ein materiell eingeschränktes Leben zu führen hatte. Caroline, die ältere Tochter, half dem Übelstand opferwillig ab, indem sie eine Ehe mit dem ungeliebten, aber wohlhabenden Adelsspross Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz einging.

Es bedarf keiner soziologischen Hellsicht, um zu ermessen, was eine Verbindung mit der Adelsfamilie von Lengefeld für Schiller bedeuten musste: die schmeichelhafte Teilhabe des dem Kleinbürgertum entstammenden Dichters an der Reputation eines höheren Standes. Teilhabe aber auch am Leben zweier gebildeter junger Frauen, die Französisch als zweite Muttersprache beherrschten und ihre Lieblingslektüre sowohl aus der deutschen wie aus der englischen und französischen Literatur bezogen. Der Dichter der aufsehenerregenden „Räuber“ war für sie selbstverständlich kein Unbekannter. Indem sie ihr Interesse an ihm bekundeten und ihm ihre Freundschaft antrugen, sprengten sie keine Standesgrenzen, aber sie gaben ein Beispiel für einen großzügigen Verkehr zwischen den Ständen. Im Sommer 1788, als sich die freundschaftliche Begegnung zwischen Schiller und den Adelstöchtern anbahnte, ein Jahr also vor Beginn der französischen Revolution, wirkte dieses Zusammentreffen wie ein evolutionärer Vorklang zum revolutionären Umbruch in Frankreich. Aus dem freundschaftlichen Zusammentreffen wurde bald eine Liebe zu dritt. Sie machte den Beteiligten alle Ehre. Sie führte Schiller und die Lengefeld-Töchter auf eine seltene, höchst delikate Ebene des Liebens. Es handelte sich um die Überwindung der ‚monogamen‘ Liebesform, der überlieferten abendländischen und zur Norm gewordenen Zweierbeziehung, zugunsten einer erotischen Beziehung zwischen drei Personen. Schiller machte die vielversprechende Erfahrung, dass er als Liebender sich nicht ausschließlich auf eine einzige Person beziehen müsse, dass er vielmehr die seelische und geistige Potenz besitze, seine Liebesart individuell nach jeder Schwester auszurichten, und das heißt: kein Konkurrenzverhältnis zwischen beiden zu stiften, sondern jede nach Maßgabe ihrer Eigenart zu umwerben und dergestalt ein Komplementärverhältnis zwischen ihnen zu ermöglichen, das ihm, dem Liebenden, erlaubte, verschiedene Seiten seines Wesens je nach Bezugsperson zur Geltung zu bringen.

In diesen Liebes-Horizont lassen sich Briefstellen einrücken[1], die sich – nach Schillers Verlobung mit Charlotte verfasst – an beide Schwestern zugleich wenden: „Meine Seele ist jezt gar oft mit den Scenen der Zukunft beschäftigt; unser Leben hat angefangen (…) und aus dem Spiegel, der mir gegenüber hängt, sehe ich euch beide. Ich lege die Feder weg, um mich an eurem schlagenden Herzen lebendig zu überzeugen, daß ich euch habe, daß nichts nichts euch mir entreissen kann.“ (10. Sept. 1789) – Diesem Bekenntnis zur Gleichzeitigkeit und zum Ineinanderspiel seiner beiden Liebesrichtungen gesellt Schiller die Differenzierung seiner Liebesarten zu, eine Differenzierung, die nicht wertet und Prioritäten setzt; vielmehr versteht Schiller seine verschiedenartigen Liebesempfindungen als einander ebenbürtig, wenn er den Schwestern versichert, „daß ich dem andern nicht entziehe, was ich dem einen bin. Frey und sicher bewegt sich meine Seele unter Euch – und immer liebevoller kommt sie von einem zu dem andern zurück – (…) derselbe Lichtstrahl (…) derselbe Stern, der nur verschieden wiederscheint aus verschiedenen Spiegeln. / Caroline ist mir näher im Alter und darum auch gleicher in der Form unserer Gefühle und Gedanken. Sie hat mehr Empfindungen in mir zur Sprache gebracht als Du meine Lotte – aber ich wünschte nicht um alles, daß dieses anders wäre, daß Du anders wärest als Du bist. Was Caroline vor Dir voraus hat, mußt Du von mir empfangen: Deine Seele muß sich in meiner Liebe entfalten, und mein Geschöpf mußt Du seyn, Deine Blüthe muß in den Frühling meiner Liebe fallen. Hätten wir uns später gefunden, so hättest Du mir diese schöne Freude weggenommen, Dich für mich aufblühen zu sehen.“ (15. Nov. 1789)

Ein scharfsichtiger Leser mag aus diesem Bekenntnis gleichwohl auf eine unterschiedliche Intensität der Liebesarten Schillers schließen. Seine Bezugnahme auf Caroline, die ältere Schwester, erfolgt in der Form des Hier und Heute, die auf Charlotte bedarf auch der nahen Zukunft. Die „Seele“ der Jüngeren und die „Blüthe“ ihrer Liebe werden sich noch „entfalten“ – dank des künftigen Gatten (der jetzt noch ihr Verlobter ist). Während im Hier und Heute Caroline ein „Mehr“ an „Empfindungen“ und eine stärkere Ähnlichkeit der „Gefühle“ und „Gedanken“ bei Schiller weckt, erblickt er in Charlotte sein entwicklungsfähiges „Geschöpf“ in puncto Liebe. Mag Caroline ihn zur Zeit mehr anziehen und gefühlsstärker bewegen als Charlotte, so verschafft ihm Letztere die ihn inspirierende Aussicht, ihr zur vollständigen Liebe zu verhelfen. Das hat einen patriarchalischen, dem damaligen Rollenverhalten der Geschlechter entsprechenden Akzent, zweifellos, erklärt aber zugleich, dass die Bindung Schillers an Charlotte durch die unmittelbare Zukunftserwartung mitgeprägt und vertieft wird. Diese Erwartung bezieht auch die bevorstehende Ehe mit Charlotte ein; Caroline dagegen kann als schon verheiratete Frau in den Gesichtskreis einer solchen Erwartung von vornherein nicht rücken. Indem Schiller sie gleichwohl mit seiner Liebe umwarb, gewann er ihre Gunst, die sie ihm mit einer großzügigen Handlung bezeugte. Sie ermutigte Schiller, um die Hand ihrer Schwester anzuhalten, zunächst in Form einer Verlobung, dann, nachdem Caroline auch die Einwilligung der Mutter erstritten hatte, im Entschluss zur Ehe. Vielleicht war die Großmut der Initiative Carolines von dem Gedanken begleitet, durch die Bindung Schillers an die Familie dem künftigen Schwager ihrerseits nahe zu bleiben. Damit hätte sie auch ein persönliches Interesse mit verfolgt, das demjenigen Schillers durchaus entsprach; er hatte sich ursprünglich selbst eine „ménage-à-trois“, eine häusliche Dreierkonstellation erträumt.

Es existiert das eine und andere Zeugnis, das die Vermutung bestärken könnte, Schiller habe Caroline im Grunde seines Herzens den Vorzug gegenüber Charlotte gegeben, so, wenn Schiller als Verlobter der älteren Schwester schreibt: „Wenn der Zwang außer uns erst hinweg sein wird, wenn unser Leben endlich unser ist, und Gegenwart und Zukunft in großen weiten Räumen vor uns ausgebreitet liegen, dann kann auch die Liebe alle ihre Reichtümer zeigen und sich mit immer neuen und immer schöneren Blüten überraschen.“[2] Doch wer will ermessen, ob mit dieser intim klingenden Hinwendung Schiller nur seine Dankbarkeit gegenüber Caroline als die Stifterin seiner Verlobung ausdrücken will oder sie dafür trösten möchte, dass sie damit der jüngeren Schwester einen Liebes-Vorteil einräumt oder ob er mit seiner Rede vom „Zwang außer uns“ auf die herrschenden Ehekonventionen anspielt, die eine „ménage-à-trois“ verbieten, aber in einer unbestimmten Zukunft außer Kraft sein könnten. so dass seine Liebe „ihre Reichtümer“ auch für Caroline entfalten würde. Die schwebende Vieldeutigkeit dieser Briefstelle lässt sich nicht einer dezidiert eindeutigen Interpretation unterwerfen. Selbst wenn Schiller hier auf seine bevorstehende Ehe mit ihren konventionellen Einschränkungen anspielen sollte – er war doch Realist genug, um als Angehöriger des bürgerlichen Standes die Ehe mit einer Adligen zu schätzen, für die er eine tiefe Neigung empfand. Sein Realismus sagte ihm auch, dass eine Ehe ihn, den Schriftsteller, in seiner täglichen Arbeit nur fördern könnte. Sie würde den schützenden Rahmen bilden, der die Außenwelt, namentlich die weiblich fordernde Außenwelt, von ihm fernhalten würde. Nicht zufällig hat Schiller, um diesen Rahmen zu gewährleisten, seit seiner Verlobung die erotisch-sexuellen Ansprüche der Charlotte von Kalb, einer früheren Geliebten, ohne Federlesens zurückgewiesen.

Dass Schiller mit seinen Ehe-Erwartungen sich keinesfalls täuschte und Charlotte ihm die ersehnte Atmosphäre einer schützenden Liebe und einer konzentrierten Arbeit ermöglichte, zeigt ein Brief an Körner, den engen Freund und Vertrauten, dem gegenüber sich taktische Schönrednerei verbot: „Was für ein schönes Leben führe ich jetzt. (…) mein Herz findet eine immerwährende sanfte Befriedigung außer sich, mein Geist eine so schöne Nahrung und Erholung. Mein Daseyn ist in eine harmonische Gleichheit gerückt; nicht leidenschaftlich gespannt aber ruhig und hell giengen mir diese Tage dahin.“ (1. März 1790)

Mit Schillers Eheschließung ließ sich die bisher gelebte Dreierkonstellation nicht mehr vereinbaren, schon räumlich nicht. Eine „ménage-à-trois“ im selben Haus schickte sich auf Grund gesellschaftlicher Konventionen nicht – die Mitmenschen wären durch ihr Gerede lästig geworden. Die Intimgemeinschaft der Ehe hätte wohl auch die mitfühlende, mithörende und beobachtende Gegenwart der erotisch interessierten Dritten schwerlich ertragen. Musste nicht die bisherige Vertrautheit der drei Personen in dem Augenblick eine Störung erleiden, da zwei von ihnen sich im Ehebett absonderten? Welche Entschädigung hätte die Dritte erwarten dürfen für das ihr zugemutete Alleinsein? Caroline hatte daher eine eigene Wohnung in Jena gemietet und bald der Stadt den Rücken zugekehrt, mit verständlichem Missvergnügen über die unvermeidliche Aufhebung des so schönen und fruchtbaren Zusammenlebens bisher. Sie hat sich jedoch ihre erotische Natur bewahrt, hat sich in den Freiherrn von Dalberg, den Statthalter von Erfurt, verliebt und während des Verlaufs ihrer Ehescheidung einen Jugendfreund Schillers, Wilhelm von Wolzogen, zum verlässlichen Begleiter und künftigen Ehemann erwählt. Und sie hat das Ehepaar Schiller wiederholt besucht und ihm auf Reisen Gesellschaft geleistet. Man darf mit gutem Grund annehmen, dass Caroline und Schiller ihre wechselseitige erotische Anziehungskraft zu sublimieren verstanden im Medium von Carolines Romanprojekt „Agnes von Lilien“, dem Schiller als engagierter Leser, Ratgeber und Publizist ‚beiwohnte‘. Er hat die ersten Teile in Form eines Fortsetzungsromans anonym in seiner Zeitschrift „Die Horen“ veröffentlicht und dem entstehenden Werk zu großer Resonanz verholfen; später wurde die Anonymität aufgehoben und Caroline von Wolzogen im Weimarer Herzogtum als Bestseller-Autorin gefeiert. Ob sie und Schiller über die platonisch-literarische Zusammenarbeit hinaus sich auch unsublimierter Erotik hingaben, entzieht sich unserer Kenntnis. Caroline hat nicht nur ihre Korrespondenz mit Schiller vernichtet, sie hat auch in ihrer Biographie „Schillers Leben“ von 1830 jede erotische Bezugnahme auf den Dichter und früheren Geliebten sorgfältig vermieden.

III

Diese biographische Leerstelle war ein Ansporn für Dominik Grafs cineastische Phantasie. Er konnte über die freie Verwendung der biographischen Zeugnisse hinaus seiner Einbildungskraft weitere Freiheiten großzügig gewähren. Und diese setzte er für die erwähnte Inszenierung von Leidenschaften ein. Das ist durchaus nicht so unhistorisch, wie mancher historisch interessierte Betrachter denken mag. Es entspricht vielmehr einem ästhetischen Postulat in der Epoche von Schillers literarischer Sozialisation. Damals (1775) hatte sein schwäbischer Landsmann Friedrich Daniel Schubart moniert, dass die deutsche Literatur arm an der erhellenden Vorführung leidenschaftlich bewegter Menschen und Verhältnisse sei (in seiner Erzählung „Zur Geschichte des menschlichen Herzens“). In den „Räubern“ (1881) hatte Schiller diesem ästhetischen Defizit exemplarisch abgeholfen durch den Sog der Leidenschaften, in den seine Personen geraten. Wie der frühe Schiller holt Grafs Film (unabsichtlich) nach, was einmal als Versäumnis beklagt wurde und erneut aktuell zu sein scheint – eine psychologisch vertiefte Darstellung der Affekte und Passionen. Letztere kontrastieren reizvoll mit dem auf Dezenz angelegten Auftreten der Zeitgenossen, ihren stilvollen Interieurs und ihrer wohlgeordneten Kleidung. Die mit historischer Treue im Film vorgeführte Schicklichkeit der öffentlichen Verkehrsformen und die privaten Leidenschaften der Standespersonen bilden ein genussvoll inszeniertes Spannungsverhältnis. Ihm zuliebe wagt Graf manchen pittoresk-signifikanten aber auch manchen überdrehten Einfall.

Zum Einfallsreichtum der ersten Art gehört die humoristische Vorführung der Schillerschen Liebeskorrespondenz. Der von den Schwestern umworbene und sie umwerbende Dichter schreibt die Briefe an sie gleichzeitig – mit der rechten und im selben Atemzug mit der linken Hand. Und er verfasst sie in einer nur den Schwestern zugänglichen Geheimschrift, an der die mütterliche Neugier hilflos erzürnt abprallt. Überhaupt widmet der Film dem damaligen luxuriösen Briefverkehr eine respektvolle, bisweilen leicht ironische Sorgfalt; handgeschrieben und versiegelt mutet der Brief wie das Zeugnis einer versunkenen Zeit an, die das Wort des Schreibenden mit schöner Umständlichkeit verbindlich fixierte, im Gegensatz zur Flüchtigkeit der telefonischen oder digitalen Übermittlung von Auskünften heute. Erhielt dann eine Liebende ihre gesamte Briefschaft von ihrem abtrünnigen Freund zurück, zu einem ansehnlichen Haufen mitleidlos gebündelt, so wog die verschmähte Korrespondenz mit Zentnerlast auf ihrem Herzen.

Just diese Last hat die unglückselige Charlotte von Kalb zu tragen, als Schiller ihr das Liebesverhältnis durch die ungerührte Rückgabe ihrer Briefe aufkündigt, um frei zu sein für die Schwestern von Lengefeld. Die jahrelange leidenschaftliche Zuneigung der Frau von Kalb steigert sich zu verzweifelter Brunst durch Schillers unwiderruflichen Abschied. Ihre empörte und rückhaltlos flehende Passion zählt zu den bewegendsten Momenten im Panorama der Leidenschaften dieses Films. Sie ist eine Seelenverwandte der Frau von Stein, die der Regisseur in der Stunde ihres heillosen Schmerzes zeigt, als Goethe ihr aus Italien die Trennung mitteilt. Wie Charlotte von Kalb stürzt die Charlotte von Stein in einen Abgrund der Verlassenheit, den Graf erneut mit vielfältigen stimmlichen, mimischen und gestischen Mitteln freilegt. Diese extreme, affektgesteuerte Körperlichkeit zählt zu den eindrucksvollsten Zeichensprachen in Grafs Film.

Und die Schwestern selbst? Wie entflammt der Regisseur ihre seelischen Zustände?

Er legt ihrem Verhältnis unter anderem ein Melodram zugrunde. An dem prächtig tosenden, mit Ungestüm niederstürzenden Rheinfall von Schaffhausen lässt er die Schwestern den Schwur leisten, einander nie zu verlassen und keine Geheimnisse voreinander zu haben; dem Wasserfall akustisch ebenbürtig, geloben sie sich bedingungsloses Vertrauen und immerwährenden, von keinem männlichen Wesen zerstörbaren Beistand. Die Sprache der Natur, die wie das göttliche Donnerwort ertönt, reißt das Schwesternpaar zu diesem effektvollen, aber spätpubertären Gelöbnis hin, das nicht mehr glaubwürdig im Munde der siebzehnjährigen Charlotte und ihrer zwanzigjährigen, schon verheirateten Schwester ist. Die eine steht an der Schwelle zum Erwachsenenalter, die andere hat diese bereits überschritten. Zum Erwachsensein gehört die Möglichkeit selbstgewählten Schweigens und selbstbestimmten Alleinseins. Vertrauensseligkeit und schrankenloses Beieinandersein sind weniger ein Zeichen der Reife als anlehnungsbedürftiger Kindlichkeit. Wozu also dieser Schwur? Caroline enthüllt alsbald seine Unglaubwürdigkeit, als sie, noch in den Anfängen der Beziehung zu Schiller, wortbrüchig wird. Sie verführt eines Nachts – in Abwesenheit der Schwester – den gemeinsamen Freund, ohne Charlotte hernach ins Vertrauen zu ziehen. Die Verführung Schillers gerät zu einem Akt wechselseitiger Ekstase und währt bis zum Morgengrauen, als unversehens Carolinens gehörnter Gatte das Haus betritt und Schiller die Flucht ergreift, halb unbekleidet, über Stock und Stein: ein virtuos inszeniertes Liebesdrama mit komödiantischem Ausgang. Ließe sich dieser doppelte Eklat – der Betrug am Gatten und an der Schwester – je in Worte fassen, ohne Vertrauen nachdrücklich, vielleicht für immer, zu zerstören? Wie kann elementare Leidenschaft, die sich in einem Dreierbund zwischen zwei Personen Bahn bricht, zur Sprache kommen, ohne die Dritte / den Dritten im Bunde zu verstören und zu kränken? Caroline verschweigt denn auch wohlweislich das nächtliche Geschehen. Nicht auszuschließen ist, dass der Betrug an der Schwester und Freundin unbewusst als zusätzliche Triebkraft erlebt wurde, als jener lustvoll-schuldhafte Stachel, der einer Tabu-Verletzung häufig innewohnt. So darf die Leidenschaft einen ihrer feurigsten Exzesse in diesem Film feiern – zum Nachteil der Dritten im Bunde, Charlotte. Die Offenheit und Transparenz des Liebesdreiecks, die der historische Schiller gemeinsam mit den Lengefeld-Schwestern bis zur Eheschließung erprobte, wird im Film relativ früh zum Trugbild entwertet. Der Vollzug der intimsten körperlichen Fühlungnahme zu zweit belastet die Liebesverbindung zu dritt mit Geheimnissen und Verheimlichungen.

Unter solchen Vorzeichen kann eine „ménage-à-trois“ im Rahmen der Ehe Schillers nicht gedeihen. Caroline, die Schwägerin, zieht sich schweren Herzens zurück und entfernt sich aus dem Gesichtskreis des frisch vermählten Paars. Doch der selbstgewählte Verzicht auf Schiller wird begleitet von Carolines unbewusster Rebellion. Die durchbricht alle Konvention und Moral, als Caroline vier Jahre später dem Schwager während seiner Reise in die schwäbische Heimat wiederbegegnet – und ihm daselbst beischläft, ähnlich wie er von verdrängter Leidenschaft überwältigt. Damit nicht genug. Der Film dichtet ihr, Caroline, an Ort und Stelle noch eine Affäre mit einem prominenten Politiker, dem Reichsfreiherr von Dalberg (und Koadjutor von Mainz) an, eine mit klingender Münze bezahlte Affäre. Die Regie flirtet mit dem haut goût der Frivolität und stilisiert Caroline zur umtriebigen femme fatale. Gleichzeitig hat die zur Ehescheidung entschlossene und auf Wiederverheiratung erpichte Frau den Nimbus einer bürgerlichen Moralistin. Eine wahrhaft schillernde Gestalt, die schließlich auch als Schriftstellerin von sich reden macht-. Schiller-Verehrer könnten im filmischen Ehebruch des Dichters eine pietätlose Provokation des Regisseurs erblicken. Zu Unrecht. Hat Schiller denn nicht unmissverständlich einmal sein Faible für unbürgerlich-amoralische Frauen bekannt ? (in einem Brief an Körner am 19. Nov. 1787) Der Film rückt Schillers Begehren in ein Zwielicht, das der biographischen Realität teilweise korrespondiert.

Nachdem Caroline ihre Schwester mit Schiller hintergangen hat, fühlt sie sich der Betrogenen gleichwohl verbunden, in Erinnerung an das wasserumrauschte Gelöbnis von einst, das mehrmals eingeblendet wird. Es hat die Funktion, die Wiederbegegnungen der Schwestern zu einem moralischen, halbherzig akzeptierten Gebot zu machen. Das Pikante an Carolinens schwesterlicher Anhänglichkeit ist, dass sie als Schwangere in das Haus Schillers, des mutmaßlichen Urhebers ihrer Schwangerschaft, zurückkehrt. Und dass sie zu nächtlicher Stunde im Dachgeschoß, unter Schillers professioneller und zugleich zärtlich werbender Anleitung, an ihrem Roman schreibt, während Charlotte ein Stockwerk tiefer im Ehebett ausharrt. Dominik Graf scheut weder vielsagende Anspielungen noch emotionale Komplikationen und Keckheiten. Schillers wiedererwachte und ständig sich steigernde Leidenschaft für Caroline entzieht sich freilich moralischer Kritik. Sie ist die glaubwürdige Passion für eine Frau, die sich immer wieder entfernt und als schwer fassbare, rätselhafte Gestalt Faszination ausübt. Schiller begehrt sie mit allen Fasern seines Leibs und vermählt sich mit ihr zumindest geistig durch die gemeinsame Arbeit an ihrem Roman „Agnes von Lilien“. Frivol spielt der Titel auf die vorausgegangene sexuelle Vereinigung der beiden in einem schwäbischen Schlafgemach mit Lilienmuster an.

Der Film mutet der Ehe Schillers ein verstörendes Unrecht zu. Es besteht darin, dass durch die Schwerkraft, die Caroline gewinnt, Charlotte zum Leichtgewicht heruntergestuft wird: zur unerotischen Hausfrau und Mutter. Graf verheimlicht die historische Wahrheit, dass diese kultivierte Frau noch zu Lebzeiten Schillers sich als Schriftstellerin hervortat. Der Regisseur zieht es vor, den alten Gegensatz von treusorgender Hausfrau und erotisch anziehender Geistesaristokratin wiederzubeleben. Das verrät den Mangel an Modernität in seinem Film. Aus dem vielversprechenden Gleichgewicht, das die Schwestern anfangs ersehnten und vorlebten, erwächst eine streitsüchtige Ungleichheit. Im Banne ungelüfteter Geheimnisse allzu lange verharrend, entladen die Schwestern am Ende ihre Affekte in bösen lautstarken Anschuldigungen, wobei sie nicht bloß das kostbare Erbe der zu Besuch weilenden Mutter teilweise zertrümmern, sondern wohl auch einen Blutsturz Schillers auslösen. Das suggerieren zwei scharf aufeinander folgende Bildsequenzen. Die Regie treibt die Affekte und Leidenschaften unbedenklich in Höhen, die der Filmbetrachter mit behaglichem Schauder besichtigen kann.

Graf setzt für seine emotionale Gipfelstürmerei etliche zeitraubende Familienszenen ein, die den Film auf mehr als zweieinhalb Stunden ausdehnen. Zuviel des Guten. In puncto Komposition lässt es der Film an Ökonomie fehlen. Und fehlen lässt er es an Geist, am Geist des Dichters und Denkers Schiller, zumindest über weite Strecken. Gewiss, es ist bemerkens- und sehenswert, wie der Film Schillers leibliches Wohl und Wehe, seine Lustbarkeiten und physischen Anfeindungen in Szene setzt. So erhält der Klassiker, den man gern im Äther des Erhabenen wandeln sieht, einen begehrenden Körper von angreifbarer Konstitution. Und sehenswert ist es, wie dieser leibhaftige Schiller sich für die technische Reproduktion von Manuskripten interessiert und neue Buchdruckverfahren inspiziert. Darüber hinaus erlebt der Filmbetrachter einige Augenblicke lang Schiller ja durchaus in seiner Doppelgestalt als Leib und Geist, wenn er mit Elan seine Antrittsrede als Jenaer Professor vorträgt und die Fortschrittlichkeit des Geschichtsprozesses mit leuchtendem Antlitz zu Gehör bringt. Dass diese Idee einer kontinuierlichen geschichtlichen Progression nicht Stich hält angesichts der Empirie, zeigt der Film prägnant durch ein Bild der Straßen von Paris, die während der Revolution vom Blut der Gewalt gezeichnet sind. Da ist die spätere Geschichtsskepsis Schillers in eindrucksvoller Abbreviatur eingefangen.

Doch diese knappen Hinweise auf einzelne Ideen Schillers deuten sein geistiges Profil nur flüchtig an. Der über die Kunst philosophierende Denker, der die europäische Geschichte vom 16. bis zum 19. Jahrhundert durchleuchtende Historiker, der von der Theaterbühne faszinierte Dramatiker, der mit Goethe befreundete Kritiker, Anreger und Ratgeber – über diesen vielgestaltigen Schriftsteller und leidenschaftlichen Intellektuellen ist kaum ein Wort zu hören. Etwas weniger Beziehungsmelodram zugunsten der weitausgreifenden Leidenschaft des Geistes hätte die filmische Aussagekraft verdichtet und die Handlung vor ausschweifenden Familienszenen schützen können.

Anmerkungen:

[1]  Zu den folgenden Briefzitaten vgl. Schiller. Bilder und Texte zu seinem Leben. Hrsg. von Axel Gellhaus und Norbert Oellers. Köln, Weimar, Wien 1999.

[2]  Zit. nach Walter Hoyer: Schillers Leben dokumentarisch in Briefen, zeitgenössischen Berichten und Bildern. Kiepenheuer u. Witsch 1967, S. 342.

Die geliebten Schwestern. Regie und Buch: Dominik Graf. Kamera: Michael Wiesweg. Schnitt: Claudia Wolscht. Musik: Sven Rossenbach, Florian van Volxem. Mit Hannah Herzsprung, Florian Stetter, Henriette Confurius, Claudia Messner, Ronald Zehrfeld. Verleih: Senator, 139 Minuten, Deutschland 2014.

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