Episches Meditieren

Herman Bangs wunderbarer Roman „Ludvigshöhe“

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind Sternstunden der Literatur, wenn Romane, die bereits ihre goldene Zeit hatten, nach Jahrzehnten in neuer Gestalt wieder ans Licht der Öffentlichkeit treten und dem Leser demonstrieren, wie viel sie der heutigen Zeit noch zu sagen haben. Ein Beispiel hierfür ist Herman Bangs impressionistischer Roman „Ludvigshöhe“.

Der 1912 im 55. Lebensjahr verstorbene Schriftsteller veröffentlichte ihn 1896, und Rainer Maria Rilke hatte gar vor, ihn ins Deutsche zu übersetzen. Die Bitte an einen Verleger ist überliefert, zur Ausführung kam es aber leider nicht. „Ludvigshöhe“ erschien in einer von Bang autorisierten Übersetzung, wurde aber nun von Aldo und Ingeborg Keel neu ins Deutsche übertragen und überzeugt mit einer Geschichte, deren beste Passagen voller Frische und Leichtigkeit vom Leser genossen werden.

Man braucht ein wenig Zeit, um Anschluss an Herman Bangs Erzählen zu finden, sind seine impressionistischen Episoden in längeren und kürzeren Erzählsplitter doch lose aneinandergekettet. Neben den linear dargestellten Ereignissen wird die Vorgeschichte von Bangs Hauptfiguren erzählt, die ebenso unsystematisch und fragmentiert immer wieder angerissen wird. Dennoch ist es eine Prosa, in die sich der konzentrierte Leser versenken kann.

Es handelt sich um die Geschichte von Ida. Sie ist eine junge Frau und arbeitet als Pflegerin auf der psychiatrischen Station eines Krankenhauses in Kopenhagen. Sie stammt von einem Gutshof in Jütland, der Idylle ihrer Kindheit, einem Hort längst vergangener Jahre: Es ist das titelgebende Anwesen Ludvigshöhe, an das in Rückblenden und in Passagen, die in der Vergangenheit spielen, immer wieder erinnert wird. Bang verwendet hierzu ein reichhaltiges Arsenal an Nebenfiguren, Sommerfrischlern, Nachbarn und Familienmitgliedern, um diese Jahre möglichst eindrücklich und sinnlich vor dem inneren Auge des Lesers erstehen zu lassen. Ida ist die Tochter der Gutsbesitzer. Doch als ihr Vater stirbt, gerät das ganze Gefüge ins Wanken, vom Autor angereichert um viele Details der soziokulturellen Umstände und der gesellschaftlichen Normen im Dänemark des 19. Jahrhunderts. Auch Idas Mutter beginnt zu kränkeln und ihr Tod bedeutet schließlich den Verkauf von Ludvigshöhe und Idas Umzug in die Großstadt.

Dort befindet Ida sich in der erzählerischen Gegenwart des Romans und trifft einen Freund aus Kindheitstagen wieder, Karl von Eichbaum, der früher zur Sommerfrische mit seiner Mutter oft zu Gast auf Ludvigshöhe war und nun als Büroangestellter im selben Krankenhaus arbeitet. Mittlerweile hat er das ganze Vermögen durchgebracht und vom Glanz alter Tage ist nichts mehr geblieben. In dieser Konstellation dringt natürlich das Kindheitsidyll Ludvigshöhe immer wieder an die Oberfläche der Erinnerung: „Ida lächelte. In letzter Zeit dachte sie oft an früher und an jenes Jahr, das herrliche Jahr, bevor Mutter erkrankte – all die anderen Jahre, es war fast, als hätte es sie nie gegeben, sondern nur jene Zeit, die helle Zeit […], was wohl auch daher rührte, dass sie ihnen, fast allen von zu Hause, von Ludvigshöhe, wieder begegnet war: Fräulein Rosenfeld, die sie besucht hatte, und Karl von Eichbaum, auf den sie tagtäglich hier im Haus traf.“ Da Karl in einer finanziell prekären Lage ist, kann ihm Ida, die aufgrund ihrer Erbschaft über ein beträchtliches Vermögen verfügt, in einem Akt des Altruismus aushelfen. Und natürlich kommt es zu mehreren Annäherungen zwischen Karl und Ida, eine zarte Liebesgeschichte entspinnt sich. Die erste Nacht ist mit einer narrativen Ellipse nur angedeutet, aber bereits dort scheinen sich Zeichen eines drohenden Verlusts einzuschreiben und doch stellt Karl sich auch die Frage, ob eine Heirat wohl möglich sei.Zu den gelungensten Passagen des Romans dürfen die Szenen in der Wohnung von Karl von Eichbaums Mutter gelten, weil diese mit großer erzählerischer Kraft und atmosphärischer Anschaulichkeit geschildert werden: Szenen in ihrem Salon, Einladungen, in deren Genuss auch Ida kommt, und Tischszenen. Dort ist einmal ein Butterhändler geladen, der zu großem Reichtum gekommen ist, und plötzlich geht es in den Gesprächen um den geplanten Kauf von Ludvigshöhe. Die Räumlichkeiten des Guts, die Einrichtungsgegenstände und das Licht des Sommers existieren nur noch in der Erinnerung. Die Bekannten der von Eichbaums entschließen sich dann auch tatsächlich, den Gutshof zu erwerben, und verkünden, ihn anschließend umzubauen. Damit sind dem Leser alle Rupturen deutlich, die Herman Bangs Roman nun auch unterschwellig durchziehen werden: der Verlust von Ludvigshöhe und die Zerstörung, die in seine Mauern einziehen wird, können auch die Liebe von Ida und Karl nicht gelingen lassen. In einem von Melancholie getragenen Moment berichtet er Ida von dem vollzogenen Kauf und in sehr eindrücklichen Worten bekommen beide auch Einsicht in die Umbaupläne des Anwesens, das eigentlich für sie beide bestimmt zu sein schien. Doch schließlich, der Entfremdungsprozess zwischen Karl und Ida ist bereits eingetreten, will Ida sich, die bisher in einem Zimmer im Krankenhaus wohnte, eine eigene Wohnung nehmen, in der sie jedoch nicht heimisch werden wird: schon die Möbel passen nicht in die neuen Zimmer. Wiederum sind das Gelingen und Scheitern des Lebens an die Situation des Wohnens und an den Raum geknüpft. Anhand von Idas Entscheidungen kommt allerdings auch eine Schwierigkeit zum Ausdruck, die den Roman für heutige Leser prägt: Bei allen Handlungen der Figuren, bei allen bewussten Akten und Reaktionen, spart Bang so gut wie immer eine Schilderung der Motivierung, einen Einblick in Beweggründe und Absichten aus. Dieses Charakteristikum ist bezeichnend für Bangs subtilen Stil, der eher beschreibend ist und vom Innenleben der Figuren nichts mitteilt. Diese narrative Leerstelle muss der Leser mit eigener Interpretation füllen. Aldo Keels kenntnisreiches Nachwort berichtet, dass Bang als Erzähler psychologische Spekulationen fern lagen: „Gefühle und Affekte drückt er durch Gesten und Gebärden aus.“ Eine andere Auffälligkeit von Bangs Roman ist die Strukturierung der Zeit, das dem Leser erst nach vielen Seiten einleuchtende Hin und Her der Zeitebenen, die Präsentation von vielen kleinen, immer wieder durch Ellipsen unterbrochenen Eindruckssplittern. Der gründliche Anmerkungsapparat im Anhang der Ausgabe hilft, viele historische Details und Anspielungen zu verorten und liefert wichtige Hinweise.Als Titel für seinen Text hatte Herman Bang ursprünglich „Mütter“ vorgesehen, um die von Idas und Karls Müttern ausgehende Dominanz hinsichtlich des scheiternden Glücks zu verdeutlichen. Er tat jedoch gut daran, das Gut Ludvigshöhe stärker ins Zentrum zu rücken und so Ida zur impliziten Hauptfigur zu machen. Doch „[j]ederzeit bereit, anderen zu helfen nimmt sie ihre eigenen Interessen nicht wahr und endet so als Opfer ihrer Hingabe und Vertrauensseligkeit.“ Bereits zu Beginn des Romans erzählt Karl von Eichbaum Ida, „wie oft ich an Ludvigshöhe denke, seit ich in diesem elenden Büro gelandet bin“, und Ida, noch auf Ludvigshöhe wohnend, stellt einmal traurig fest: „[K]aum noch einer von den Alten war auf Ludvigshöhe“. Alles Tradierte geht in irgendeiner Weise verloren. Die Freundin Olivia bemerkt anlässlich eines Besuchs Idas in ihrem Haus ihrem Mann gegenüber: „Weißt du, wie dankbar die Glücklichen eigentlich sein sollten“, um dann aber resigniert das Ende vorwegzunehmen: „Und dann kommt trotzdem der Tod.“ Bis dahin erzählt Bang in „Ludvigshöhe“ nicht, aber wir können uns die Traurigkeit denken, die sich ihren Weg bahnen wird. Der Zürcher Manesse-Verlag legt mit „Ludvigshöhe“ ein sehr schönes Buch dieses von vielen Schriftstellern wie zum Beispiel auch von Thomas Mann hochgeschätzten Literaten vor, der es wert wäre, in größerem Stil wiederentdeckt zu werden.

Titelbild

Herman Bang: Ludvigshöhe. Roman.
Übersetzt aus dem Dänischen von Aldo und Ingeborg Keel.
Manesse Verlag, Zürich 2014.
448 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522966

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