Mehr als ein Schmuddelfilm

David Wnendts gelungene Adaption des Bestsellers „Feuchtgebiete“

Von Yvette RodeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvette Rode

2008 veröffentlichte die ehemalige Viva-Moderatorin Charlotte Roche ihren Debütroman Feuchtgebiete und sorgte damit für den Bestseller des Jahres. Im Zentrum steht die 18-jährige Schülerin Helen Memel, die sich nach einer misslungenen Intimrasur einer Operation im Analbereich unterziehen muss. Im Krankenhaus verliebt sie sich nicht nur in ihren Pfleger Robin, sondern will auch ihre getrennt lebenden Eltern wieder zusammenbringen. Zwischendurch philosophiert Helen unverblümt über Geschlechtsverkehr, Hämorrhoiden, Masturbation, Menstruationsblut, „Muschischleim“, Sperma und die Hygienenormen der Gesellschaft. Wegen der expliziten Sex- und Ekelszenen wurde der Roman im deutschsprachigen Feuilleton kontrovers diskutiert. Annabel Wahba bezeichnete Feuchtgebiete in ihrem Artikel Die Schmutzkampagne, der am 5. Dezember 2008 in der Onlineausgabe der Zeit veröffentlicht wurde, treffend als „ein Buch, das polarisiert. Das viele genial und manche einfach nur eklig finden.“ Trotz oder gerade wegen des großen medialen Interesses verkaufte sich Feuchtgebiete bis heute 2,5 Millionen Mal.

Im August 2013 kam der Film in die deutschen Kinos. Regie führte David Wnendt, der 2011 mit dem Neonazi-Drama Kriegerin bekannt wurde. Produziert wurde der Film von Peter Rommel, das Drehbuch schrieb Claus Falkenberg. Der Film kann sich durchaus am Erfolg des Romans messen. Er stieg bereits in der ersten Woche auf Platz drei der Kinocharts ein und lockte insgesamt mehr als eine Millionen Besucher in die Kinos. Im Februar dieses Jahres wurde Feuchtgebiete auf DVD veröffentlicht.

Ähnlich wie im Roman gibt es auch im Film einige Ekelszenen, die aber zum Teil anders komponiert werden. So wird beispielsweise gezeigt, wie Helen (Cara Juri) mit ihrer „Muschi“ eine verdreckte öffentliche Toilette abwischt und sich mit ihrem Finger stöhnend Zinksalbe in die Pofalte einführt und wie sie mit ihrer besten Freundin Corinna (Marlen Kruse) „Blutsschwesternschaft“ schließt, indem sie ihre benutzten Tampons miteinander tauschen (im Roman heißt die Blutsschwester Irene). Auch im Roman macht es Helen einen „Riesenspaß“, sich auf eine „dreckige Klobrille“ zu setzen, die sie „in einer kunstvoll geschwungenen Hüftbewegung einmal komplett im Kreis sauber“ wischt. Auf der ersten Seite wird zudem geschildert, wie sie sich Zinksalbe einführt – jedoch nicht, ob sie dies auf einer schmutzigen Toilette tut. Trotz der Ekelszenen ist Feuchtgebiete dennoch weit von einem Schmuddelfilm entfernt, da Wnendt sowohl auf Detailaufnahmen von Genitalien als auch auf explizite Sexszenen verzichtet. So wird in der Szene, in der Helen sich in der Badewanne mit Gemüse und dem Duschkopf befriedigt, zwischen Nahaufnahmen von Gemüse bzw. Duschkopf und ihrem erregtem Gesichtsausdruck beim Orgasmus hin- und her geschnitten.

Wnendt verwendet im Film an einigen Stellen einen Off-Kommentar, in dem Helen andere Personen vorstellt, rückblickend von ihrer Kindheit und der Zeit im Krankenhaus berichtet oder die ZuschauerInnen auf Ereignisse vorbereitet und diese antizipiert. Helens Intimrasur etwa wird aus dem Off mit den folgenden Worten eingeleitet: „Es weiß vielleicht nicht jeder, was eine Analfissur ist. Es ist ein kleiner, feiner Riss in der Rosettenhaut. Man kann ihn leicht kriegen, zum Beispiel beim Rasieren. Das verursachte bei mir einen der größten Schmerzen, die ich je hatte.“ Im Laufe des Films wird der Off-Kommentar immer seltener verwendet, während er in den Szenen vor der Operation in nahezu jeder Sequenz präsent ist.

An einigen Stellen übernimmt Wnendt Passagen aus dem Roman in den Kommentar, wie beispielsweise „Solange ich denken kann, habe ich Hämorrhoiden“, „Als Scheidungskind wünsche ich mir wie fast alle Scheidungskinder meine Eltern wieder zusammen“, und „weil ich mich innerlich sehr gegen das Rasieren wehre, mache ich das immer viel zu schnell und zu dolle“. Dennoch handelt es sich bei seiner Verfilmung nicht um eine Kopie des Bestsellers. Ein gravierender Unterschied zwischen dem Roman und dem Film besteht darin, dass Wnendt ausführlicher auf Helens Kindheit eingeht, die im Roman nur grob umrissen wird. Die Kindheitsszenen unterscheiden sich filmisch durch die verringerte Tiefenschärfe von den späteren. Dies hat zur Folge, dass das Bild leicht verschwommen aussieht und auch die Farben nicht so intensiv wie an anderen Stellen erscheinen. Durch die Reduktion der Tiefenschärfe wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf diese Stellen des Films gelenkt, da hier die negativen Charaktereigenschaften von Helens Eltern hervorgehoben werden. Wnendt zeichnet die Mutter (Meret Becker) hier als zynische Narzisstin, die ihre Tochter zurückweist. So erklärt sie Helen in der ersten Kindheitsszene: „Vertraue niemandem. Nichtmal deinen Eltern. Lieber jetzt ein zerschrammtes Knie als später ein gebrochenes Herz.“ Zuvor hatte sie ihre Tochter dazu aufgefordert, von einer Mauer in ihre Arme zu springen: Sie lässt sie fallen, und die kleine Helen bleibt weinend am Boden liegen.

Auch Helens Vater (Axel Milberg) wird im Film als negative Figur vorgeführt. Wnendt zeichnet ihn als nachlässigen Vater, dem seine Tochter scheinbar gleichgültig ist. Eine Kindheitsszene, in der Helen mit ihm vom Einkaufen kommt, wird mit dem Off-Kommentar eingeleitet: „Das ist mein Papa. Er tut mir oft sehr weh, ohne es zu merken.“ In der Szene sieht man, dass sich Helen ihre Hand in der Autotür einklemmt, vor Schmerz laut aufschreit und dennoch von ihrem Vater nicht beachtet wird. Die Gleichgültigkeit des Vaters wird verstärkt in der Szene deutlich, in der Helen im Krankenhausbett in seiner Anwesenheit weint. Anstatt sie zu trösten und nach dem Grund für ihre Tränen zu fragen, schaut er aus dem Fenster und erklärt, dass er zur Arbeit gehen müsse. Gleichzeitig wird dem Zuschauer in Nahaufnahme gezeigt, wie die Tränen über Helens Gesicht fließen – so dass sie als äußerst verletzlich und durch die emotionale Indifferenz ihrer Eltern versehrt erscheint. Im Roman dagegen weint Helen nicht in Gegenwart ihres Vaters, sondern in Anwesenheit von Pfleger Robin, der sie in den Arm nimmt und über ihr Haar streicht.

Im Roman spielt das Familiendrama der Memels eine bedeutende Rolle, da Helens Mutter sich und ihren Sohn Tony mit Gas umbringen wollte und erst in letzter Sekunde gerettet wurde. Da der Suizidversuch in der Familie tabuisiert wurde, ist Helen sich nicht sicher, ob sie sich womöglich alles nur eingebildet hat. Während im Roman der Suizidversuch bereits nach dem ersten Drittel thematisiert wird, wird er im Film erst gegen Ende aufgelöst und bildet somit seinen dramaturgischen Höhepunkt. Im Gegensatz zum Roman, in dem Helen ihre Mutter und Tony leblos auf dem Küchenboden vor dem Gasherd findet, hört sie im Film einen Schrei ihres Bruders, woraufhin sie ins Haus läuft. Dieser Schrei ist zugleich eine Art Hilferuf an die große Schwester und bereitet den Zuschauer darauf vor, dass etwas Schreckliches passiert ist. Im Schlafzimmer sieht Helen, wie ihre Mutter leblos neben Toni im Bett liegt. In der folgenden Szene erkennt man, wie die beiden im Krankenwagen mit Sauerstoffmasken künstlich beatmet werden. Dabei wird deutlich, dass der Zustand der Mutter kritischer als der ihres Sohnes ist, da sie bewusstlos auf einer Trage liegt, während Tony auf dem Arm seines Vaters ist. Die darauffolgende Szene, in der die 18-jährige Helen ihrem Bruder von dem Suizidversuch der Mutter erzählt, wird mit ihrem Off-Kommentar eingeleitet: „Alle haben gehofft, dass ich es vergesse. Aber durch ihr Schweigen ist es immer größer geworden. Bis es mich verschluckt hat.“ Im Gegensatz zum Roman erscheint sie im Film durch diese Äußerung glaubwürdiger und nicht wie eine halluzinierende Psychopathin.

Der Film verzichtet zugunsten der Glaubwürdigkeit seiner Hauptfigur entschieden auf Romanpassagen, in denen Helen lügt oder simuliert (z.B. täuscht sie den Ärzten und ihrer Mutter eine Blinddarmentzündung vor, um eine Französischklausur nicht mitschreiben zu müssen) – und lässt somit auch keine (im Roman durchaus berechtigten) Zweifel der LeserInnen an der Zuverlässigkeit ihrer Erzählerin aufkommen.

Zu loben sind am Film vor allem die schauspielerischen Leistungen. Die Schweizerin Carla Juri, die in ihrem Heimatland mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet wurde, überzeugt als Helen, da sie dem Zuschauer sowohl ihre rebellische als auch ihre sensible Seite demonstriert. So wirkt sie beispielsweise in der Szene, in der sie mit Corinna Drogen konsumiert und wilde Partys in der U-Bahn feiert wie eine Punkversion von Pippi Langstrumpf, während sie in der Krankenhausszene, in der sie in Gegenwart ihres Vaters weint, als verletzliches Mädchen gezeichnet wird, das gerne in den Arm genommen werden will. Auch die Nebendarsteller stellen glänzend ihre schauspielerischen Fähigkeiten unter Beweis. Meret Becker brilliert als Helens narzisstische Mutter, Axel Milberg als ihr nachlässiger Vater und Edgar Selge als zynischer Proktologe Prof. Dr. Notz.

Wnendt ist mit Feuchtgebiete eine hervorragende Romanverfilmung gelungen. Anstatt den Roman zu kopieren, geht er verstärkt auf das Familiendrama ein, wodurch der Film deutlich tiefgründiger gerät als der Roman. Dennoch distanziert er sich nicht komplett von der Textvorlage – und das ist auch gut so, da gerade diese Mischung aus Provokation und Melancholie den Film interessant machen.

„Feuchtgebiete“ (Deutschland 2013)
Regie: David Wnendt
Drehbuch: Claus Falkenberg
Darsteller: Carla Juri, Meret Becker, Axel Milberg, Christoph Letkowski, Marlen Kruse, Peri Baumeister, Edgar Selge
Laufzeit: 105 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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