Zeit vergeht

Ökonomie der Exotik in Thomas Hettches neuem Roman „Pfaueninsel“

Von Andreas SolbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Solbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende brennt das lange unzugänglich gebliebene Palmenhaus auf der Pfaueninsel, angezündet von der achtzigjährigen Hauptheldin, der kleinwüchsigen Maria Dorothea Strakon, die in dem erinnerungsbelasteten Gebäude ihre letzte imaginäre Begegnung mit dem legendären, im Roman aber realistisch erscheinenden Peter Schlemihl feiert. Hettches Roman umfasst mehr oder minder die Lebensdaten seiner Hauptheldin, nämlich die ersten achtzig Jahre des 19. Jahrhunderts, die er wie in einem Brennglas auf der Pfaueninsel im südlichen Berlin kurz vor Potsdam lokalisiert. Marie und ihr Bruder Christian werden als Kinder auf die Pfaueninsel gebracht und begleiten und erleiden dort die Wendungen der preußischen Gesellschaft ihrer Zeit. Das Ende im brennenden Palmenhaus ist dabei nur die letzte Konsequenz einer von der Hauptheldin als Folge von dramatischen Lebenskatastrophen erfahrenen persönlichen Geschichte.

Das Bezaubernde an diesem Roman ist allerdings zugleich auch das zumindest milde Verstörende: Hettche erzählt keine Geschichte, seine Helden erleben keine Entwicklung im Sinne eines Bildungsromans, sondern sie existieren, und daraus macht der Autor leider eine kleine Theorie, gleichsam als Naturformen. Damit ist zum einen ihre Kleinwüchsigkeit gemeint, zum anderen aber ihre Zugehörigkeit zur Pflanzen- und Tierwelt. Hettche nennt seine beiden Zentralhelden beim Wort ‚Zwerge’, und bei der Rechtfertigung dafür unterläuft ihm eine von nicht wenigen künstlerischen Ausdrucksschwächen. Die Emphase, mit der er die Leser in die Dramatik der gering geschätzten Helden hineinzieht, führt den Erzähler über eine bemerkenswert lange Passage zur Zwangsverpflichtung des Lesers durch „wir“-Reflexionen. Das erscheint ebenso störend wie überflüssig.

Sein Bemühen, die unglücklichen menschlichen Beziehungen, die sein recht übersichtliches Romanpersonal miteinander verbindet, mit Hilfe eines Ordnungsschemas von Flora und Fauna symbolisch darzustellen, bleibt allerdings auf halber Strecke stecken. Unglücklicherweise unterlegt er die Trennung von Tier und Pflanze der Romanfigur Gustav, der sich bei aller Faszination und Liebe, die er für Marie empfindet, doch zunächst einer intimen Vereinigung unter Berufung auf eben jene Trennung verweigert, die im Roman dann leider mit Hilfe von Zitaten aus Hegels Philosophie vom Protagonisten untermauert wird. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn man den Eindruck hätte, dass all das Bestandteil eines größeren ordnungsgebietenden Gedankens wäre; es bleibt aber leider bei der ohnehin nur schwach motivierten Zuordnung hegelscher Gedanken zu einer Romanfigur, die späterhin ihre Hemmung gegenüber der Zentralheldin verliert und zum Vater ihres einzigen Kindes wird, das er ihr, nachdem er ihr in einem ebenfalls nur schwach motivierten Anfall von Wahnsinn, in dem er ihren Bruder auf brutale Art und Weise tötet, wegnimmt.

Parallel zu diesen Gefühlsverirrungen und -verwirrungen wird die Insel im Stile der Zeit und nach dem sehr subjektiven Wandel ihrer königlichen Besitzer zunächst als eine Art von idyllischem Musterhof geführt, nach dem dynastischen Wechsel erlebt sie dann eine Veränderung durch den berühmten Gartenbauarchitekten Lenné, der aus ihr eine zwanghaft exotisierte Menagerie macht, in der unsere Haupthelden sich mehr oder minder ebenfalls als Schaustück wiederfinden, bis nach erneutem Sinneswandel die Menagerie aufgehoben und der vorige Zustand nahezu wiederhergestellt wird, bis die Insel durch Desinteresse der graduellen Verwahrlosung anheim gegeben wird.

Was den Protagonisten geschieht, geschieht ihnen nicht als Ausdruck ihres zielgerichteten Handelns, dazu sind sie viel zu passiv, erleidende Beobachter wechselnder Schicksale ihrer Selbst und derer, die sie begleiten. Die Kapitel des Romans präsentieren uns tableaux vivants mit Situationen wie in einem Reagenzglas, die eine kurzzeitige Handlungsverdichtung durch Hinzufügung eines Elementes provozieren. Manches davon ist beiläufig, und man zögert, diese Episoden unnötig zu nennen, aber nur, weil es keinen Erzählbogen und keine Notwendigkeit gibt. Man mag das als Fehler betrachten, aber genau darin besteht der wohl größte Reiz dieses Romans, dem es vor allem in der zweiten Hälfte gelingt, stimmungsvolle Bilder zu zelebrieren, in denen sich im günstigsten Fall eine melancholisch getönte Memento-mori-Stimmung mit Beifügung einer nicht selten bitteren Resignation ausdrückt. Das passt dann auch zu der Beobachtung, dass Hettche eine Reihe von reflektierenden Passagen mit dieser Strategie der Sentimentalisierung verbindet, die sich allerdings – glücklicherweise – nie wirklich zu einem übergreifenden Argument verdichten. Leider besteht der Roman aber nicht nur aus diesen bittersüßen Stimmungsbildern im Theorieschatten, sondern auch aus allerlei kleineren und manchmal durchaus störenden fatalen Beimengungen: Obgleich Hettches Erzähler eindeutig aus der Gegenwart heraus erzählt, benutzt er zahlreiche Wörter, die entweder ungebräuchlich oder aber in ihrer Schreibart gezwungen antiquiert sind. Wir finden einen Shawl, es gibt Planteure, denen so allerlei obliegt, sie oculieren, copulieren, recrutieren und rapportieren, es gibt Bandelwerk und Rocaillen, und die Heldin fühlt, wie ihr Fleisch mazeriert wird. Dem entspricht eine Unzahl von Pflanzennamen, die aber zumindest noch den Vorteil der Anschaulichkeit besitzen. Problematischer wird es, wenn Hettche aus dem Stimmungsbild in den lexikalischen Informationsmodus rutscht und etwa die Entwicklung eines ansonsten beiläufigen Umstandes bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts referiert. Diese in jedem Fall stilbrechenden Passagen finden sich aber nicht nur auf Seiten des Erzählers, sondern auch die Protagonisten, in diesem Fall Marie, verfügen über das Ausdrucksregister eines Reiseführers oder eines Lexikons. An diesen Stellen wird deutlich, dass der Roman sicher nicht ganz unbewusst auf ein Lesepublikum zielt, das sich in der kleinteiligen und einfach nachzuvollziehenden Beschreibung von Umständen und Handlungen wohlfühlt, vor allem wenn dieses Wohlgefühl von einem nicht allzu schwierigen gedanklichen Nachvollzug begleitet wird. So berichtet das vorletzte Kapitel von einer allenfalls für die Erlebniswelt der Heldin interessanten späten sexuellen Begegnung mit einem Koch, wobei aber weniger die erotische Situation, als das durch genaue Handlungsbeschreibung mitgeteilte Rezept für gebratenen Ochsenschwanz überzeugt.

Hettches Roman ist auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, und es ist nicht schwer zu begreifen, warum er dort gelandet ist. Der aus früheren Werken wohlbekannte Autor präsentiert in seinem jüngsten Roman eine Erzählung von sprachlich und inhaltlich exotisierten Bildern, Protagonisten, die durch eine ungewöhnliche geistige oder körperliche Erscheinung Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und er verdichtet diese Bilder zu stimmungsvollen literarischen Séancen, die er mit bedeutungsschwangeren fragmentarischen Reflexionen begleitet. Die anderwärts als Stilbruch empfundenen lexikalischen Belehrungen werden von einem deutschen Lesepublikum dagegen sicher überwiegend mit Freude aufgenommen, und die Antwort auf die Frage, ob Hettche den Buchpreis bekommen wird oder nicht, wird gleichzeitig die Antwort darauf sein, ob diese sanfte sentimentale Melancholie, die der Roman befördert, gerade dem höchsten Ausdruck des deutschen Leserbewusstseins entspricht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Thomas Hettche: Pfaueninsel. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.
352 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783462045994

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