Drei Todesfälle und eine Feministin

Über das Science-Fiction-Jahrbuch des Jahres 2013

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahrzehnten erscheint im Heyne Verlag regelmäßig ein Science-Fiction-Jahrbuch. Und das ist gut so, wenngleich manches darin nicht immer ganz so gut ist. Im jüngsten Band des Jahres 2013 erscheint das Genre zumindest auf den ersten Blick nach wie vor so maskulin wie ehedem, sind die vierzehn Essays doch ausnahmslos von Männern verfasst. Die ersten drei würdigen mit Boris Strugatzki, Harry Harrison und Jack Vance zudem ebenfalls Männern. Dies mag allerdings dem Umstand anzulasten sein, dass sie kürzlich verstarben und die Nachrufe den Band eröffnen. Der vierte Text schließlich ist James Tiptree jr. gewidmet, also keineswegs einem weiteren Mann, sondern einer Frau – die allerdings (meist) unter einem männlichen Pseudonym schrieb. Karsten Kruschel hat ihn verfasst. Der Anlass seines Beitrags ist wesentlich erfreulicher als derjenige der drei vorangegangenen. Denn der Österreichische Septime Verlag hat nicht nur jüngst eine umfangreiche Biografie der amerikanischen Autorin auf den Markt gebracht, sondern außerdem vor einigen Jahren damit begonnen, eine auf sieben Bände angelegte Ausgabe ihrer Erzählungen herauszugeben.

Hinter dem Pseudonym Tiptree verbarg sich die 1987 verstorbene Schriftstellerin Alice B. Sheldon. Kruschel lobt sie für den „sicheren Stil, die einfühlsame Schilderung der Charaktere, die souveräne Handhabung der Psychologie der Figuren und den unaufdringlichen Spannungsaufbau“ sowie für die „geradezu nüchtern-naturwissenschaftliche Konsequenz, in der die einmal gegebene Prämisse des Gedankenexperiments zu einem konsequenten Ende hin durchexerziert wird“. Soweit, so gut. Weniger gut ist, dass Kruschel die feministische Tendenz der Storys par tout nicht wahrhaben will. Der Subtext seines Beitrags offenbart sogar einen tief verwurzelten Antifeminismus, etwa wenn er feministischen Lesarten „Einäugigkeit“ vorwirft und ihnen entgegenhält, man müsse schon „genau hinschauen“. So will er gegen das „weithin verbreitete Urteil“ anschreiben, Sheldon sei „eine Vertreterin der feministischen Science Fiction“. Ein Urteil, das im Übrigen auch von Sheldon selbst geteilt wurde, erklärte sie 1980 doch in einem Interview klipp und klar, sie sei eine „überzeugte Feministin“. Kruschel aber wirft die literaturwissenschaftlich und gendertheoretisch gleichermaßen unbeleckte Frage in den Raum: „Wird eine Geschichte allein dadurch feministisch, dass alle Männer darin sich wie Schweine benehmen und die Heldin, die einzige Frau darin, nicht?“ Selbst wenn Kruschel diese Frage nur rhetorisch meinen würde, wäre sie noch ausgesprochen naiv. Doch meint er sie völlig ernst und fügt an, Sheldon sei sich „dieser Fragestellung offenbar bewusst“ gewesen.

Auch werden seine eindimensionalen Lesarten den vielschichtigen und mehrfach codierten Stories schwerlich gerecht. Und was das genaue Hinschauen betrifft, so merkt Kruschel zwar an, dass Tiptree nicht selten Geschlechterrollen und Gleichberechtigung thematisiert, doch erweist er sich im konkreten Fall genau dafür blind. So übersieht er etwa das Geschlecht der Protagonistin, wenn er meint, bei der Story „Das ein- und ausgeschaltete Mädchen“ handele es sich schlicht um ein „Gleichnis auf die Manipulierung des Menschen“, ohne zu bemerken, dass in ihr – auch – Geschlechterfragen abgehandelt werden.

Nicht um ein bestimmtes Œuvre geht es in Gary Westfahls Beitrag, sondern um die „Fallstricke des Prophezeiens“. Zu Beginn seines Textes merkt er völlig zutreffend an, dass es die Science Fiction ganz und gar nicht darauf anlegt, „Vorhersagen über die Zukunft zu treffen“. Merkwürdigerweise legt er anschließend jedoch ausführlich dar, warum eben dieses Unterfangen scheitert. Als Ursachen führt er „sieben falsche Grundannahmen“ an, die zu „Trugschlüssen der Vorhersagen“ führen, um sodann die „logische Schlussfolgerung“ zu ziehen, „dass Vorhersagen, die sich radikal von den solcherart aussortierten unterscheiden, wahrscheinlich zutreffen“. Es ist nur schwer vorstellbar, dass dieser Paralogismus ernst gemeint sein sollte.

Bartholomäus Figatowski unternimmt hingegen einen „kursorischen Querschnitt durch ausgewählte All-Age-Dystopien“ und Uwe Neuhold begibt sich auf einen unterhaltsamen „Streifzug durch die Alternativdeutungen unserer Welt“ wie etwa die „Kollisionstheorie“, der zufolge das Sonnensystem durch den Zusammenstoß großer Himmelskörper entstand, die „Expansionstheorie“, die besagt, die Erde dehne sich durch auf den Planeten treffende Neutrinos aus, oder die überaus obskure aber unter Nazi‚größen‘ wie Himmler und Hitler beliebte „Welteislehre“. Natürlich fehlen auch die „Hohlwelttheorie“ mit ihrer Behauptung, wir lebten im Inneren eines Himmelskörpers sowie die kruden Annahmen der „Kreationisten“ nicht.

Cory Doctorow wiederum findet in seinem Beitrag „Digitale Übermütter“ die Teleskopprothesen von Hugh Herr zwar „cool“, nur leider auch zu teuer. Daher prognostiziert er, dass die „Frage, wer Nutzer und wer Besitzer“ dieser und ähnlicher Hochtechnologien ist, zu einem „globalen Bürgerkrieg“ um den „Allzweckcomputer“ führen werde.

Georg Seeßlen richtet sein Augenmerk auf die Filme Ridley Scotts und blickt somit weit über die Grenzen des Science-Fiction-Genres hinaus. Denn bevor er sich näher mit den „drei ‚reinen‘ Science-Fiction-Filmen“ des Regisseurs befasst, beleuchtet er kursorisch dessen bisheriges Gesamtwerk. Von diesen dreien lobt er „Alien“ als den „intelligentesten“ und verwirft „Prometheus“ als den „schwächsten“. Wer wollte da widersprechen?

Rund 400 der etwa 1.000 Seiten des Jahrbuches füllen kurze Besprechungen von Büchern, Comics, Hörspielen, Filmen und Computerspielen. „Wann gibt es das schon mal: einen Dichter, der sich derart emphatisch der literarischen Moderne und der Science Fiction verschreibt“, freut sich Sven-Eric Wehmeyer angesichts von Reinhard Jirgels Roman „Nichts von euch auf Erden“ und Hartmut Kaspar dankt „Sprengmeister“ Dietmar Dath für dessen Roman „Pulsarnacht“. Karsten Kruschel wiederum hält Heidrun Jänchens Erzählband „Willkommen auf Autora“ für „hervorragend“. Doch werden nicht nur fiktionale Werke besprochen, sondern mit Franz Rottensteiners „Im Labor der Visionen“ auch schon mal ein Sachbuch. Rottensteiners Band enthält „anderthalb Dutzend“ Texte, die der Autor im Laufe des letzten Jahrzehnts veröffentlichte. Rainer Eisfeld macht in ihnen „einige höchst bedenkenswerte Anmerkungen“ aus und empfiehlt den Lesenden ansonsten: „Urteilen Sie selbst!“.

Bei den besprochenen Filmen mag der Verlag noch immer nicht auf die unsägliche Wertung durch die Vergabe von Sternen verzichten. „Cloud Atlas“ etwa erhält ebenso wie „Frankenweenie“, „Der Hobbit – Eine unerwartete Reise“ und die Literaturverfilmung „Die Wand“ fünf von sechs möglichen Sternen, „Hugo Cabret“ hingegen gerade mal drei, „Prometheus – Dunkle Zeichen“ sogar nur zwei und „Snow White and the Huntsman“ muss sich mit der niedrigsten aller möglichen Wertungen abfinden.

In der abschließenden Rubrik „Facts“ lassen sich Informationen zum jüngsten Geschehen auf dem englisch- und den deutschsprachigen Science-Fiction-Markt finden. Zudem werden die Nominierungen und PreisträgerInnen sämtlicher relevanter in- und ausländischer Science-Fiction-Auszeichnungen des letzten Jahres genannt sowie in Form einer Bibliografie der „Fantastik im Wilhelm Heyne Verlag“ etwas Eigenwerbung betrieben.

Titelbild

Sascha Mamczak / Sebastian Pirling / Wolfgang Jeschke: Das Science Fiction Jahr 2013.
Heyne Verlag, München 2013.
992 Seiten, 36,99 EUR.
ISBN-13: 9783453534445

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