Und immer zu wenig

Hermann Peter Piwitt skizziert ein reiches Leben

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Geschichten aus einem kurzen Leben“ verspricht Piwitt im Untertitel seines neuen Buches. Das klingt ein wenig kokett. Jemand, der beinahe 80 Jahre alt ist, sollte doch (denkt man) keinen Grund zur Klage über zu wenige Lebensjahre haben. Doch wird bald deutlich, dass die Rede vom „kurzen Leben“ berechtigt ist, und nicht nur für Piwitt: Kaum hat man sich ein wenig orientiert, die ärgsten Beschädigungen aus der Jugendzeit verdrängt und einigermaßen gelernt, im Alltag zurechtzukommen, da beginnt auch schon der Verfall. Offenkundig lässt die Attraktivität des eigenen Körpers nach, und bald melden sich auch schon Krankheiten. Die Schreibweisen und Ansichten, mit denen man als Autor aufstieg, gelten als veraltet – beinahe nur Opportunisten bleiben mehr als zwanzig Jahre in der Öffentlichkeit präsent. Und irgendwann fehlen einem die Wörter, die Erinnerungen. Selbst wenn sie am nächsten Tag wieder da sind, traut man dem eigenen Denken nicht mehr.

Auch weil das alles sich immer in zu kurzer Zeit vollzieht, hat Piwitt keine Autobiografie geschrieben, sondern eine Abfolge autobiografischer Vergegenwärtigungen. Der Titel „Lebenszeichen“ gewinnt dadurch eine zweifache Bedeutung. Er meint zunächst das, was das Wort im Alltag meint: Jemand macht darauf aufmerksam, dass es ihn noch gibt. Außerdem haben die Stationen seines Lebens, die Piwitt skizziert, eine zeichenhafte Funktion. Sie stehen beispielhaft für ein ganzes Leben, und so spart man sich den öden, chronologischen Rechenschaftsbericht, wie ihn viele Autobiografien abarbeiten.

Was Piwitt auswählt, das deutet bei oberflächlicher Betrachtung auf knapp 80 trübe Jahre hin. Am Anfang steht eine lieblose Familie: „Und immer herrschte ständig dicke Luft“, heißt es mit gewollter Wortdoppelung gleich auf der ersten Seite. Der Vater ein kleiner Nazi-Funktionär, der es immerhin bis 1945 auf ein 12-Zimmer-Haus brachte und dann samt Familie in eine Kammer umquartiert wurde; die Mutter normal „im Rahmen des geschlossenen Wahnsystems, in dem sie lebte“, nämlich in dem Glauben, völlig ohne Dank immer nur Gutes getan zu haben. Der Sohn weicht zunächst in eines der vielen unbewohnten Zimmer oder in den Garten aus; verweigert sich schließlich der Schule und wird darum auch noch Jahre nach 1945 von einer Clique von Nazi-Lehrern, die nicht dulden wollen, dass er sich „aus der Gemeinschaft“ ausschließen wolle, beinahe um den Abschluss gebracht.

Das Frankfurter Studium beschreibt Piwitt dann nicht als Reihe von Bildungserlebnissen, sondern als durch Freund- und Liebschaften geprägt. Es geht ihm auch hier darum, das Erlebte und Erinnerte mit dem Zeittypischen zusammenzubringen. Entsprechend zeichnet er seine literarische Laufbahn auch nicht als Abfolge von Werken, Lesereisen und intellektuellen Triumphen. Der Literaturbetrieb kommt nur in schlaglichtartigen Porträts vor, und im raschen Wechsel der Moden: „Freunde holten mich nach Berlin zurück. Der Mai ’68 war vorüber, und eine neue Bohème stellte ihre Fahnen und Transparente in unsere alten Kneipen. Sie hatten ihre Sache gemacht; so gut es eben ging. Was sie hatten tun können, hatten sie erledigt. Die Sitten, die Umgangsformen der gewachsenen Produktivität anzupassen, mehr ging nicht.“

Und spätestens nach 1989 folgte die Verdrängung jeder linken Opposition aus der Öffentlichkeit: „Der Literaturmarkt: Warum sollte er weniger korrupt sein als der für Immobilien? Und streiten mit seinen Hiwis, hier und heute? Debattieren womöglich? Dass die wahren oder unterstellten politischen Ansichten eines Autors dem Werk nicht einerseits als Bonus zugeschrieben, andererseits als Malus aufgehalst werden konnten: Alles, was wir bei großen bürgerlichen Wissenschaftlern gelernt hatten, wurde nun kassiert. ‚Wie können Kommunisten Dichter sein? Sie wissen ja alles schon im Voraus.‘ Das wussten sie im Voraus.“

Piwitt, der niemals Mitglied einer kommunistischen Partei war, ist gleichwohl nicht eingeknickt. Auch jetzt noch will er nicht glauben, dass der Kapitalismus das letzte Wort der Geschichte sei. Was er anrichtet, wird anschaulich in den Schilderungen von Orten, die einen gewichtigen Teil des Bandes füllen. Das Berlin der 1960er-Jahre erscheint dabei in fast nostalgischer Beleuchtung: Ein Ort, der für unvernünftiges Leben und Armut noch Raum lässt. Gut ist dabei nicht die Armut an sich, sondern dass es noch keinen Zwang gab, sich zu stylen und das perfekte Leben vorzutäuschen. Gegenbild zu Berlin ist Hamburg, knickerig in jeder Hinsicht, mit Geld wie mit Gefühlen: „Kaum ein anderes Wort beschreibt besser hanseatische Gefühlstradition. Es meint nicht schlicht Geiz. In wohl kaum einer anderen deutschen Großstadt ist mehr Geld in den falschen Händen weniger. Man knickert am Leben selbst, an allen Lebensäußerungen.“

Auch Italien, Fluchtort für fast zwanzig Jahre, ist mittlerweile zerstört: die Natur zubetoniert, verwüstet, privatisiert; das Verhalten der Bewohner abweisend geworden, ganz an den scheinbaren Notwendigkeiten eines Lebens im Kapitalismus ausgerichtet. Piwitt fühlt sich aus der Zeit gefallen, in der italienischen Provinz wie auch, zurück in Deutschland, unter jüngeren, provinziellen Dichtern: „Was sie in erster Linie zu interessieren scheint, ist, außer ihrer Arbeit, ihr Standing, ihre Platzierung im Literaturbetrieb, das Feuilleton.“ Und so bleibt – außer der Beschäftigung mit Krankheiten – der Rückzug in ein norddeutsches Dorf, mitten unter streitsüchtige Nachbarn, die mit Piwitt eine Straße bewohnen, die bald den Spitznamen „Mäkelstraße“ hat.

All dieses Bittere zu lesen ist eine große Freude. Piwitt weiß die miesen Verhältnisse mit einer Sprache von großer Prägnanz und Schönheit darzustellen. Er ist ein Meister der genau gesetzten, sinnlich anschaulichen Wörter wie auch der knappen, scharf umrissenen Szenen – die Welt auf solche Weise zu fassen, bedeutet schon einen ersten Sieg über sie. Und auch die Position des Dagegen hat, nimmt man sie nur ausreichend bewusst ein, bei allen alltäglichen Misshelligkeiten ihren Vorteil. Sie gibt der Persönlichkeit eine Stütze, die es erlaubt, eine überlegene Haltung zu bewahren.

Zudem gibt es, von der Kindheit an, die schönen Momente in der Natur oder mit Menschen. Nicht zufällig haben es 14 Nothelfer in den Titel geschafft: 14 Menschen, vom verständnisvoll helfenden Deutschlehrer bis zum konkret-Verleger Hermann L. Gremliza, mit dem sich Piwitt in der unbestechlichen Opposition gegen die herrschenden Verhältnisse einig weiß. Die 14 Nothelfer, das waren einst Heilige mit festgelegten Zuständigkeiten, die es in jeweiligen Problemlagen anzurufen galt. Ihre Verweltlichung bei Piwitt, und dass sie in immerhin stattlicher Anzahl auftreten, all dies schafft Momente von Zuversicht und Geborgenheit auch in ungünstigen Zeitläuften. Das Leben, mag es auch zu kurz sein, ist ein reiches Leben.

Titelbild

Hermann Peter Piwitt: Lebenszeichen mit 14 Nothelfern. Geschichten aus einem kurzen Leben.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
144 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313798

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