In weiter Ferne so nah am Rand

Über Jennifer duBois Gedankenspiel in ihrem neuen Roman „Ein gutes Mädchen“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es wird vorab betont: Es geht nicht um den Mordfall Meredith Kercher in Italien und die Tatverdächtige Amanda Knox. Die Protagonistin des Romans, die amerikanische Studentin Lily Hayes ist kein Alter Ego von Amanda Knox. Man kann jedoch davon ausgehen, vergleicht man die Fabel des Romans mit den Ereignissen um den Mordfall Meredith Kercher, das die grundlegende Problematik des bisher immer noch unaufgeklärten Mordfalls und die Figurenkonstellation sich weitgehend an der Wirklichkeit orientiert. Man könnte es mit einer groben „Wirklichkeitsskizze“ vergleichen, die Jennifer duBois als Vorlage für ihren Roman gedient hat. Außerdem sichert ein medial so exponierter Fall auch für eine gewisse Aufmerksamkeit dem Buch gegenüber – was im vorliegenden Fall nur nutzbringend sein kann.

Jennifer duBois verlegt die Handlung nach Argentinien, nach Buenos Aires. Sie wird zunächst aus der Perspektive des Vaters der des Mordes verdächtigen Protagonistin erzählt. Er fliegt nach Argentinien, um seine Tochter zu unterstützen. Er trifft die Anwälte und wird mit den Schwierigkeiten konfrontiert, die das Rechtssystem für einen sprachfremden Ausländer bereithält. Er darf seine Tochter nur einmal in der Woche besuchen. Die Begegnungen gestalten sich schwierig. Vor allem die schlechten Haftbedingungen in dem südamerikanischen Gefängnis machen Lily Hayes zu schaffen.

Der Autorin gelingt es eindringlich, die Konsequenzen für die Familie und das soziale Umfeld der des Mordes verdächtigen Lily Hayes zu beschreiben. Im weiteren Fortgang wird eine Rekonstruktion der faktischen Abläufe aus der Perspektive der Beteiligten und der ermittelnden Polizei versucht. Hinzu kommt ein eindringliches emotionales Porträt der Beschuldigten, in dem sich nach und nach für die Angehörigen, die Betroffenen und die Ermittelnden überraschende und auch erschreckende Erkenntnisse ergeben. Diese „Aufklärung“ des Geschehenen wird von einem intensiven Medieninteresse begleitet. Und so wird sehr deutlich, wie die Ermittlungen und die Interpretationen der Ermittlungsergebnisse in vieler Hinsicht von den Medien abhängig sind. Die differenzierte und multiperspektivische Beschreibung dieses Prozesses zeigt das sprachliche Können der Autorin, das Verena von Koskull gekonnt in ihrer Übersetzung übertragen hat.

Letztendlich schafft es Jennifer duBois, ein feines, differenziertes Bild der Charaktere zu zeichnen. Dabei ist es besonders verwunderlich und verweist auf das hohe sprachliche Niveau der Autorin, dass es ihr gelingt, die Charaktere in der Schwebe zu halten, kein Urteil zu fällen und die Polyvalenz der Beziehungen und Bindungen der Figuren als ein nicht abschließend zu beurteilendes Geflecht zu beschreiben. Dabei bleibt der Leser zum Ende der Lektüre seltsam verloren zurück. Auf den letzen Seiten heißt es dazu: „Jedermann verbüßte lebenslange Freiheitsstrafen: Mann saß sie drinnen oder draußen ab, aber irgendwo saß man sie ab.“ Verstörend und irritierend – was kann man mehr von guter Literatur erwarten?

Titelbild

Jennifer DuBois: Ein gutes Mädchen. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Verena von Koskull.
Aufbau Verlag, Berlin 2014.
480 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351035747

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