Streifzüge durch ein unbekanntes St. Pauli

Der Open-Mike-Sieger Jens Eisel überzeugt mit seinem ersten Prosaband

Von Katharina GraefRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Graef

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein Preis geht an einen Autoren [sic] und eine Geschichte, die von einem profunden Interesse für andere Menschen zeugt […]“, leitet die Jury des Open Mike Literaturpreises der Literaturwerkstatt Berlin 2013 ihre Laudatio auf Jens Eisel ein. Er bekommt den Preis für seine Erzählung Glück, die neben 16 anderen „Stories“ in seinem ersten Kurzgeschichtenband Hafenlichter enthalten ist. Dass 17 Geschichten auf 136 Seiten Platz finden, kann zunächst irritieren, ist aber die große Stärke des Bandes.

Hamburg und der Hafen sind das, was die Figuren in Hafenlichter verbindet, seien sie auf der Suche nach einem Heimathafen oder überzeugte Weltenbummler. Die meisten Erzählungen spielen in St. Pauli, rund um die Reeperbahn, in Kneipen, einem Pflegeheim oder einem Boxclub. Ganz in der Tradition der klassischen Short Story beginnen die Geschichten in medias res, geben einen kurzen Blick in Lebensgeschichten und -entwürfe der Figuren und zeichnen unterschiedlichste Wendepunkte in ihren Biographien nach. Es geht um Gewinnen und Verlieren, um verpasste Chancen und die großen Themen im Leben, Liebe und Tod. Die Protagonisten sind Flaschensammler, LKW-Fahrer, Pfleger und Automechaniker. Jens Eisel gebe „Protagonisten eine Stimme […], die normalerweise keine haben“, bringt es die Open Mike Jury auf den Punkt.

Und das geschieht mit viel Empathie für jede Figur und Geschichte. So wird der einzelne Text für sich ein „Riesending“ – wie Clemens Meyer unlängst die Gattung Short Story nannte. Leerstellen und bildmächtige Beschreibungen greifen ineinander und lassen so die Lebenswelten der Figuren lebendig werden, ohne die Vorstellungskraft zu begrenzen. Ein Paradebeispiel dafür ist Glück, der Siegertext des Open Mike, der von einem bosnischen Emigranten erzählt, der in Hamburg noch nicht seine neue Heimat finden konnte: „Samir bewegte sich langsam durch das trübe Licht der Neonschilder. Er musste an Sarajevo denken, an die Berge und den Geruch und daran, wie er als junger Mann durch die Straßen und Gassen der Stadt gezogen war. Er hatte damals studieren wollen, um später als Lehrer zu arbeiten, und er hatte die Stadt geliebt, die milden klaren Sommernächte. In Hamburg war der Himmel meistens bedeckt, und in den Nächten sah man nur selten die Sterne.“

Die Stories werden gestärkt durch die detailgenaue Dramaturgie des Bandes. Mit jeder Geschichte erweitert sich das Netz von Verweisen. Auf diese Art gewinnen die Erzählungen im Zusammenspiel miteinander an Bewegung. Der Protagonist der einen Geschichte kann eine Neben- oder Erzählerfigur einer anderen sein. Beim genauen Hinsehen schließen sich Leerstellen, und aus den flüchtigen Blicken ins Leben der einzelnen Figuren wird ein großes Ganzes, das sich um den Hafen anordnet. Die erste Erzählung Hunde und die letzte Frei bilden hierfür einen logischen Rahmen: Genervt von der „Hausplenumsscheiße“ in dem besetzten Haus, in dem er wohnt, zieht der Hunde-Erzähler mit Henning zusammen, der „erst seit Kurzem wieder draußen“ ist und nach Hamburg ziehen möchte, um in einem Tattoo-Studio anzufangen. Eine Schlägerei durchkreuzt jedoch seine Pläne und Henning muss zurück ins Gefängnis. In Frei hat er seine Strafe abgesessen, nimmt den ICE nach Hamburg („Er musste an eine Modelleisenbahn denken und an seinen Großvater, mit dem er in seiner Kindheit einmal nach Frankreich gefahren war“) und freut sich auf das Tätowieren. „In den nächsten Tagen wollte er sich ein paar Laufschuhe kaufen, und er stellte sich vor, wie er morgens vor der Arbeit am Fluss entlanglief und dann zu Hause ankam, duschte und frühstückte.“

Die Feuilletons greifen gerne auf, dass Eisel selbst – vor seinem Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig – einige der Berufe seiner Protagonisten ausgeübt hat und sprechen seinen Texten daher eine große Authentizität zu. Das ist nachvollziehbar und dennoch unnötig: Die genauen Zeichnungen seiner Figuren und der unverkennbar eigene Ton und Rhythmus seiner Erzählungen machen Hafenlichter so stark, dass sie ohne Zweifel für sich alleine stehen können. Ein überzeugender Debutband, in dem man auf Spurensuche gerne noch einmal vor- und zurückblättert.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jens Eisel: Hafenlichter. Stories.
Piper Verlag, München 2014.
144 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783492056656

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