Als Oliver Kahn durch die blauen Lüfte flog

Albert Ostermaiers „ode an kahn“

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Wer Kahn ist, weiß jeder. Enthusiastische Lobeshymnen, allerdings auch missgünstige Spottgesänge der Fans begleiteten die spektakulären Auftritte dieses weltberühmten Torwarts viele Jahre lang. Aber eine poetische Ode in Versen hat ihm doch erst der Lyriker und Dramatiker Albert Ostermaier gewidmet:

ode an kahn
wenn er beim eckball wie
eine blonde katze aus dem
tor stürmt auf einer welle
der begeisterung durch die
blauen lüfte fliegt – jetzt
müsste man eigentlich die
beach boys einspielen – &
im sprung er hört gar nicht
mehr auf zu fliegen seinen
teleskoparm über den
rotierenden rasurköpfen &
dauerwellen ausfährt dann
ist es für einen moment ach
könnte er doch verweilen als
wollte er die sonne aus ihrer
laufbahn fausten & die flügel
stürmer in einem schwarzen
loch zurücklassen als wäre die
welt nur zwischen seinen zwei
handschuhen zu fassen &
kein planet der halbaffen der
auf der gegengeraden hinter
seinem schon wieder zum
sprung gekrümmten rücken
durchdrehte & sich die brust
haare raufte wenn er der flash
gordon der strafräume in die
neue angriffsflut hechtet
abtaucht in ein meer von
strudelnden schienbeinen &
sich mit bloßen händen die
kugel fischt niemand schifft
sie an ihm vorbei ohne in das
haupt der medusa zu schauen
seine arme sind wie skylla &
charybdis & wer könnte diese
enge passieren ohne um sein
leben zu fürchten selbst seine
mannen macht er rund &
schreit sie an als hätten sie
wachs in den ohren & könnten
ihn nicht hören den rauhen
aufbrausenden sirenensang
ihres felsen in der brandung

Ob es sich freilich bei diesem Gedicht wirklich um eine „Ode“ handelt, würde der strenge Literaturwissenschaftler, fragte man ihn, wohl bezweifeln; vermutlich würde er sehr gelehrt von der sapphischen, der alkäischen, der horazischen und der asklepiadeischen Ode reden, dann einen Blick auf Albert Ostermaiers Kahn-Gedicht werfen und kurz, aber entschlossen entscheiden: Nein, mein Lieber, eine formstrenge Ode ist das nicht.

Und eine Ode ist es doch! Nicht nur deshalb, weil Ostermaier sein Gedicht so genannt hat (Dichter dürfen das); sondern vor allem, weil er mit der altehrwürdigen Bezeichnung für ein feierliches lyrisches Gedicht oder Lied an eine Tradition anschließt, die bis in die Antike zurückreicht. Ostermaier erfüllt nicht eine metrische Form der Ode, sondern er zitiert ihre alte Bezeichnung. Denn Oden auf die Sieger in sportlichen Wettkämpfen schrieb und sang man schon im Altertum. Die bekanntesten sind die Oden des griechischen Dichters Pindar aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert auf die Wettkämpfer, die bei den olympischen, pythischen, isthmischen oder sonstigen Spielen den Sieg im Wagenrennen mit Pferden oder Maultieren, im Faust- oder Ringkampf, beim Laufen oder im Mehrkampf errungen hatten.

Zu weit hergeholt? Keineswegs! Gleich dreimal sieht man sich in Ostermaiers Kahn-Gedicht auf die antike Mythologie verwiesen. Da ist vom „haupt der medusa“ die rede, von „skylla & charybdis“ und vom „sirenensang“. Die Anwendung dieser mythologischen Anspielungen auf Oliver Kahn ist so schlicht wie überzeugend: Wie die dämonische Medusa einst jeden versteinerte, der sie anschaute, so versteinert auch Oliver Kahn die gegnerischen Spieler, die auf ihn einstürmen, so dass sie bewegungslos werden und kein Tor erzielen können; nur Perseus, einem Sohn des Zeus, gelang es seinerzeit mithilfe eines Spiegeltricks (also ohne die Medusa direkt anzuschauen), ihr das Haupt abzuschlagen. Dieses Schicksal wird dem Keeper Kahn ja hoffentlich erspart bleiben. – Oliver Kahns Arme werden sodann mit der sprichwörtlich gewordenen Meerenge verglichen, in der die vorbeifahrenden Schiffe von gleich zwei Seeungeheuern – Skylla und Charybdis – bedroht werden; daher kann niemand, sagt Ostermaier, „diese / enge passieren ohne um sein / leben zu fürchten“. Odysseus, heißt es, verlor bei der Durchfahrt durch diese Gefahrenstelle, die man meist in der Meerenge von Messina lokalisiert, immerhin sechs seiner Gefährten! Diese von Kahns Armen ausgehende Drohung dürfte genügen, um den gegnerischen Angreifern den Schneid abzukaufen. – Schließlich der Sirenengesang: Oliver Kahns aktive und temperamentvolle, ja einpeitschende Anstachelung seiner Mitspieler („seine / mannen macht er rund“) wird als Gesang der Sirenen bezeichnet, der betörend wirkt, aber auch tödlich sein kann. Als Odysseus auf der Rückfahrt von Troja an der Insel der Sirenen vorbeikam, ließ er die Ohren seiner Mannschaft mit Wachs verstopfen, damit sie den Verlockungen der Sirenen nicht erliegen konnten. Oliver Kahn dagegen versucht die scheinbar verstopften Ohren seiner Mannschaft mit seinem Sirenengesang zu überschreien, um ihnen die äußersten sportlichen Leistungen abzuverlangen.

Man kann also sagen: Mit Hilfe der Erinnerungen an Geschehnisse und Situationen aus der griechischen Mythologie verleiht Ostermaier seinem Oliver Kahn geradezu heldische, wenn nicht gar übermenschliche Qualitäten. Er macht ihn selbst zu einer mythologischen Figur.

Diese Metamorphose des Fußballspielers Kahn in eine mythologische Figur vollzieht sich in einem einzigen Satzgebilde, das sich ohne Punkt und Komma in konsequenter Kleinschreibung über die 44 Verse des Gedichts erstreckt: Pausenlose und atemlose Begeisterung beherrscht den Text. Das Geschehen auf dem Fußballfeld und die schnell wechselnden Situationen, in die Kahn verwickelt wird, erlauben es nicht, eine Pause einzulegen und Atem zu holen, um den Glanzparaden des Torhüters Kahn die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen und ihrer Kurzfristigkeit etwas Dauerndes entgegenzusetzen, obwohl sie es eigentlich verdienen würden. Es ist, heißt es,

für einen moment ach
könnte er doch verweilen als
wollte er die sonne aus ihrer
laufbahn fausten

Eine hinreißende Faustabwehr des Torhüters wird mit diesem Bild der aus ihrer Laufbahn geworfenen Sonne in geradezu kosmische Dimensionen hochstilisiert. Zugleich adelt Ostermaier den Wunsch, diesen Augenblick festzuhalten und ihn so der Vergänglichkeit zu entreißen, durch eine Anspielung auf nichts Geringeres als Goethes Faust, und stattet ihn so mit höchster Autorität aus, worauf das Wort „fausten“ sicherheitshalber und leicht kalauernd hinweist. „Verweile doch! du bist so schön!“, heißt es in Faust I, in der sogenannten Teufelspakt-Szene, die sich in Fausts Studierzimmer abspielt. Hier diktiert Faust dem Mephisto die Bedingung, unter der er sich ihm ausliefert: Wenn dieser Fall eintreten würde, wenn Faust sich also einmal ganz und gar an einen einzigen Augenblick verlieren und sich wünschen würde, dieser Augenblick möge nie vergehen, dann soll Mephisto seine Seele haben. Das ist der Pakt, das ist die berühmte Wette, die Schlüsselszene der Gelehrtentragödie, die in die Gretchentragödie einmündet. – In Ostermaiers Gedicht ist der wettentscheidende Augenblick, der Faust noch bevorsteht, bereits eingetreten: Angesichts der Schönheit der Situation, in der Oliver Kahn seinen „teleskoparm […] ausfährt“, um den Ball zu fangen, wünscht der Odensänger Ostermaier diesem „moment“ Dauer zu geben: „ach / könnte er doch verweilen“.

Genau das: das Schöne der unumgänglichen Vergänglichkeit zu entreißen und es im bleibenden Kunstwerk zu bewahren, ist seit jeher eine der vornehmsten Aufgaben aller Kunst und Poesie gewesen. Der alte Pindar wusste das sehr wohl. Er hat den von ihm besungenen Sportkoryphäen regelmäßig in Erinnerung gebracht, dass es eine Auszeichnung für sie sei, von ihm besungen und auf diese Weise verewigt zu werden. Die Attraktivität der Poesie beruhte über viele Jahrhunderte hinweg auf ihrem Privileg, dem sonst Vergänglichen Dauer zu verleihen. Davon profitierten Könige und Fürsten, Helden und Sänger, Freunde und Geliebte, Hochzeitsleute und Trauergemeinden, für die oder in deren Auftrag die Poeten ihre Verse verfassten. Das musste nicht unbedingt in liebedienerische Gefälligkeitsdichtung ausarten, weil mit dem Lob, das der Dichter in seinen Gedichten reichlich austeilte, zugleich sein Anspruch an den Besungenen verbunden war, sich darum zu bemühen, dem Ideal zu entsprechen, das die Dichtung zeichnete.

An solche Lobdichtungen schließt Ostermaier mit seiner ode an kahn an. Allerdings macht seine Eloge auch deutlich, dass sein Held nicht mehr das vorbildliche und nachahmenswerte Ideal früherer Zeiten ist, sondern ein unnachahmliches und unerreichbares Idol der Gegenwart, ein Popstar, dessen Aktionen von einer „welle der begeisterung“ der Massen getragen werden. Neben der sportlichen Leistung spielt deshalb der Unterhaltungswert der spektakulären Show-Aktionen des Torhüters eine hervorragende Rolle. Es handelt sich um eine Show, zu der passenderweise die entsprechende musikalische Untermalung gehört: „jetzt / müsste man eigentlich die / beach boys einspielen“, heißt es. Die Westcoast-Music dieser populären kalifornischen Pop- und Rockmusikband würde Kahns Flug „durch die / blauen lüfte“ im Anschluss an einen Eckball vorzüglich begleiten, weil sie die artistische Unbeschwertheit der Leute aus dem fröhlichen, sonnigen Westen repräsentiert. Mit den „blauen lüften“ spielt Ostermaier zugleich auf romantische Formen der Poetisierung der Welt an, denen man bei Eichendorff („Laue Luft kommt blau geflossen“), bei Sophie Mereau („Ein Segensstrom wallt durch die blauen Lüfte“), bei Friedrich Rückert und bei anderen begegnen kann.

Neben die Popmusik tritt die Welt des populären Kinofilms in der Form des Science-Fiction-Films, auf die gleich zweimal Bezug  genommen wird; einmal, wenn Kahn dem Filmhelden Flash Gordon verglichen wird, dem Unbesiegbaren, der in ferne Welten vorstößt, wie man dem Film-Klassiker Reise zum Mars (1939) und seinen jüngeren Remakes entnehmen kann; und zum anderen, wenn auf den Film Planet der Affen (1967) angespielt wird, in dem die auf einem fernen Planeten gelandeten Menschen von den dort lebenden Affen als ihre Vorläufer betrachtet werden. Der „planet der halbaffen“ erinnert zugleich daran, dass Kahn selbst vor allem in den Stadien der Gegner des FC Bayern München vom Publikum oft höhnisch als Affe begrüßt und dementsprechend mit Bananen beworfen wurde, wodurch seine Aggressivität gewiss noch einmal gesteigert wurde.

Alles in allem: Albert Ostermaiers ode an kahn ist sogar für den Altphilologen Wilfried Stroh ein „Meisterwerk moderner Sportlyrik“. Jedenfalls gehen Popkultur und humanistisches Erbe, gediegene traditionelle Bildung und die Phänomene moderner Massenkommunikation hier eine Verbindung ein, die in der Lyrik unerhört und neuartig ist.

Hinweise: Das Gedicht erschien in der Süddeutschen Zeitung am 25.5.2001 und ist unter anderem nachgedruckt in Albert Ostermaier: Flügelwechsel. Fußball-Oden. Mit Bildern von Florian Süssmayr und einem Vorwort von Oliver Kahn. Insel Verlag, Berlin 2014 (Insel Bücherei Nr. 1395).

Anmerkung der Redaktion:

Der Beitrag gehört zu der Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.