Ein neuer Marx auf erweiterter Datenbasis?

Thomas Pikettys Buch über das Kapital im 21. Jahrhundert bringt die Entwicklungsdynamik sozialer Ungleichheit auf eine bestechend einfache Formel

Von Martin SchröderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schröder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer hat, dem wird gegeben, so kann man Thomas Pikettys zentrales Argument zusammenfassen. Mit seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert hat er ein beeindruckendes Werk geschrieben, das ihm schon Vergleiche mit Karl Marx einbrachte. Interessant sind dabei gerade auch Pikettys Kritiker. Denn wirtschaftsliberalen Zeitungen wie dem Wall Street Journal, der Financial Times und dem Economist fällt wenig auf, was faktisch falsch an Pikettys Argument ist. Wenn man sich dahingegen durchliest, wie das Wall Street Journal Pikettys Argumente als kommunistisch zurückweist, anstatt darlegen zu können, was denn falsch an ihnen sein soll, so gewinnt man den Eindruck, dass Piketty einen wunden Punkt getroffen hat. Auch seine ärgsten Kritiker finden kaum plausible Gründe, ihm zu widersprechen.

Piketty vertritt auf 800 Seiten eine These, die eigentlich bestechend einfach ist. Er argumentiert, dass die Zinsen auf Kapital in der Regel höher sind als das allgemeine Wirtschaftswachstum. Er findet eine Reihe von Belegen dafür, dass die Wirtschaft in der Zukunft langfristig pro Jahr nur noch um circa 1,5 Prozent wachsen wird, während Kapital Erträge von 3 bis 4 Prozent liefern wird (beides jeweils nach Abzug der Inflation). Bei ihm heißt das „r > g“, und diese Formel besagt: Die Rendite auf Kapital ist größer als das Wirtschaftswachstum. Damit bekommen diejenigen, die sowieso schon Kapital haben, einen immer größeren Anteil vom zu verteilenden Kuchen ab – und das nicht als Folge einer geplanten Ungerechtigkeit, sondern als fast automatische Konsequenz kapitalistischer Dynamik. Piketty möchte Marx mit dieser Analyse in der Tat nicht nur ergänzen, sondern sogar ersetzen. Und diesem Anspruch kommt er ziemlich nahe, denn tatsächlich stehen ihm viele der Daten zur Verfügung, die Marx damals schon gebraucht hätte.

Piketty kommt dabei zugute, früh erkannt zu haben, dass die wirklich relevanten Einkommensunterschieden nicht zwischen dem ärmeren und dem reicheren Teil von Gesellschaften bestehen und nicht einmal zwischen den reichsten 10 Prozent und dem Rest der Gesellschaft. Solche Unterschiede werden mit Hilfe von Umfragen ermittelt, an denen die reichsten Angehörigen der Gesellschaft in der Regel gar nicht teilnehmen. Gestützt auf die World Top Incomes Database hat Piketty sich zusammen mit Kollegen durch Steuerdaten gegraben, um zu zeigen, dass die wirklich relevante Ungleichheitsentwicklung zuweilen darauf beruht, dass die reichsten 1 Prozent und besonders die reichsten 0,1 und 0,01 Prozent der Gesellschaft immer reicher werden. Dies ist vorher schlicht niemandem aufgefallen, da die entsprechenden Daten gefehlt haben. Pikettys Datenbasis ist jedoch beeindruckend. Anhand von fast 30 Ländern kann er teilweise mit Zeitreihen von über 100 Jahren zeigen, dass das Vermögen von Kapitalbesitzern in der Regel tatsächlich schneller wächst als die Wirtschaft insgesamt. Nur durch Weltkriege und andere geschichtliche Ereignisse, die Kapital massenweise vernichteten, wurde der zunehmende Reichtum einer extrem kleinen Elite an Kapitalbesitzern mitunter begrenzt. Früher oder später, wenn Kapital sich ungehindert akkumulieren kann, tritt wieder der ökonomische Normalfall ein und die Besitzer von Vermögen können erneut zusehen, wie sich dieses schneller vermehrt als die Wirtschaft wächst. Von dieser Sichtweise heraus ist es denn auch nur logisch, dass Piketty empfiehlt, Vermögen ab einer Million Euro mit einer Steuer von jährlich 1 Prozent zu belegen und ab 5 Millionen Euro mit zwei Prozent. Für Vermögen über 1 Milliarde spricht er sogar von einer Besteuerung von 5 bis 10 Prozent. Das würde solche Vermögen längerfristig vernichten, denn selbst bei sehr optimistischen Annahmen werden Vermögensbesitzer dieses kaum mit mehr als 10 Prozent Rendite anlegen können.

Pikettys Analysen sind umfassend und wichtig, allerdings neigt er dazu, seine Daten zu überdehnen, wenn er keine Daten aus seiner gut recherchierten World Top Incomes Database zur Verfügung hat. Dass er Romane von Jane Austen und Honoré de Balzac nutzt, um auf „typische“ Ungleichheiten der Vergangenheit hinzuweisen, kann man noch als Ausdruck von Kreativität verstehen. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts, so lässt sich laut Piketty aus diesen Romanen ablesen, hat Arbeit sich nicht gelohnt, da Kapital eine höhere Rendite abgeworfen hat.

Doch vergangenes Wirtschaftswachstum und typische Zinsen auf Kapital bis zum Jahre 0 zurückzuverfolgen und umgekehrt seine Daten 100 Jahre in die Zukunft zu projizieren, wie Piketty es in Kapitel 2 macht, ist doch recht gewagt und beruht auf Spekulation statt gesicherter Empirie. Man stelle sich vor, jemand hätte 1914 versucht vorherzusehen, wie der Kapitalismus sich in den nächsten 100 Jahren entwickeln werde. Man kann getrost davon ausgehen: Wer auch immer das gewagt hätte, hätte schwer danebengelegen. Piketty leitet zwar etliche Vorhersagen logisch aus recht einsichtigen Postulaten ab. Doch formuliert er auch immer wieder problematische Annahmen, die ganz anders lauten könnten, zum Beispiel in Kapitel 10, wo er prognostiziert, dass fiskalischer Wettbewerb dazu führen wird, dass Kapital ab 2050 nicht mehr besteuert wird.

Doch bei allen Zweifeln an einigen sehr gewagten Prognosen Pikettys steht doch fest, dass er mit seiner Formel einen Sachverhalt kennzeichnet, der sich kaum bezweifeln lässt. Aufzuzeigen, dass dieser fast automatisch zu steigender sozialer Ungleichheit führt, ohne dass dahinter eine bestimmte Sozialpolitik oder auch nur irgendeine Art politischer Planung steckt, und die dahinterstehende Dynamik mit großer Sorgfalt zu dokumentieren, ist Pikettys Verdienst. Sein Buch hat dafür die ihm gebührende öffentliche Aufmerksamkeit gefunden.

Titelbild

Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert.
Aus dem Französischen Ilse Utz und Stefan Lorenzer.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
912 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783406671319

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