Das Leben annehmen

In ihrem neuen Roman „Alter, fremdes Land“ erzählt Natascha Wodin von den Lasten und Lüsten des Alters

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lea heißt die Heldin in Natascha Wodins neuem Roman „Alter, fremdes Land“. Lea – die Löwin, folgt man der lateinischen Bedeutung dieses Namens. Im Hebräischen freilich bedeutet Le’ah etwas anderes, nämlich „die Ermüdete“. Wodins Protagonistin – die Autorin hält sie sich mit der dritten Person ein wenig vom Leib, obwohl sie ihr wie früheren Figuren ihrer Romanwelten viel von sich selbst mitgegeben hat – erlebt gerade ihren dreiundsechzigsten Frühling, als sie von einer unerklärlichen Schwäche befallen wird und erkennen muss, dass das Alter sich offenbar über Nacht darangemacht hat, ihren Körper und ihre Seele auf unterschiedliche Wege zu schicken: „Innerlich war Lea noch ein Teenager, eine Lebensanfängerin, aber aus dem Spiegel starrte sie eine fremde alte Frau an, eine Frau, deren Lebensfaden schon brüchig geworden war und deren Kopf der schwarze Gedanke auszufüllen begann, dass sie gehen musste, bevor sie angekommen war“.

In ihrem Wohnbezirk, dem Prenzlauer Berg in Berlin, gehört Lea mit ihrem Alter zu einer Minderheit. Nach der Wende hat sich dieser Stadtteil, zu DDR-Zeiten der literarischen und künstlerischen Bohème vorbehalten, von Jahr zu Jahr weiter verjüngt. Nun wird das Straßenbild dominiert von kinderwagenschiebenden Yuppies, vergnügten jungen Leuten in Straßencafés und wie Pilze aus dem Boden schießenden Bioläden. Dass es daneben auch die gescheiterten Existenzen gibt, die schon um die Mittagszeit betrunken auf den Parkbänken vor und neben den Supermärkten sitzen, bleibt Lea nicht verborgen.

Doch hauptsächlich konfrontiert sie das Treiben auf den sommerwarmen Straßen und Plätzen rund um die Gethsemane-Kirche mit dem Problem ihrer Einsamkeit. Einst mit einem Mann und viel Hoffnung nach Berlin gekommen, macht ihr die Metropole inzwischen Angst. Besorgt registriert sie, dass die große Freiheit, deren Ruf sie aus dem Westen Deutschlands ohne nachzudenken gefolgt war, inzwischen wieder im Verschwinden begriffen ist. Nachdem es eine Zeitlang so schien, als entstünden ganz neue Verhältnisse zwischen den Menschen, sind längst wieder Zäune aufgetaucht, die das eine Eigentum gegen das andere abgrenzen und eine „Einsamkeitskultur“ etablieren, die Lea aus früheren Lebensabschnitten nur zu bekannt ist.

„Altwerden ist nichts für Feiglinge“ behauptete 2011 ein Buchtitel von Joachim Fuchsberger. Und dessen Schauspielkollegin Ruth Maria Kubitschek legte zwei Jahre später nach und forderte, „anmutig älter“ zu werden. Schaut man sich auf dem großen Ratgebermarkt um, scheint das Alter generell kein großes Problem mehr zu sein. Von „Steinalt & kerngesund. 100 Jahre erfüllt leben“ bis „Gelassen älter werden. Eine Lebenskunst für hier und jetzt“, von „Das neue Zeit-Alter. Warum es gut ist, immer älter zu werden“ bis „Die Methusalem-Strategie. Vermeiden, was uns daran hindert, gesund älter und weiser zu werden“, von „Alter Sack, was nun?“ bis „Hurra, endlich 50“ – Hunderte von Titeln vermitteln ihrem Zielpublikum den Eindruck, es gäbe nichts Schöneres als schlaffer werdende Haut, nachlassende Potenz und die Eintrübung des Sichtfeldes. Für Wodins Heldin freilich sind das alles Katastrophen. Als „Prozess zunehmender Selbstentfremdung“ erlebt sie das Alter, als „Mühlstein, der das Ego zermahlte, langsam, aber unerbittlich“, als etwas „Unwirkliches“, schwer zu begreifen, nicht zu vermeiden und bestenfalls stoisch zu ertragen.

Allein Lea ist nicht der Typ, gelassen hinzunehmen, was ihr schlaflose Nächte, schwarze Gedanken und körperliches Unbehagen verursacht. Und so greift sie zu, als ihr der Zufall einen Weg eröffnet, die großen Leidenschaften und Begierden, von denen sie sich längst innerlich verabschiedet hatte, noch einmal aufflammen zu lassen. Als ihr, der Schriftstellerin, die es nie zum ganz großen Erfolg gebracht hat, der Drucker kaputt geht, entschließt sie sich nicht nur zur Anschaffung eines neuen, sondern ersetzt gleichzeitig auch den schon etwas in die Jahre gekommenen Rechner. Und entdeckt mit dem plötzlich zur Verfügung stehenden Internet eine Welt, in der sie sich all das, wovon sie sich gedanklich bereits verabschiedet hatte, noch einmal zurückholen lässt.

Der Ort „der namenlosen, körperlosen Wesen, die sich vorübergehend in Form von Worten materialisierten“, wird ihr zur „neuen Arche“, zu einem Rettungsschiff, das sie sich herbeiwünschte, seitdem sie ihr Leben allein zu bewältigen hatte. Fortan verbringt sie einen Großteil ihrer Zeit in Chaträumen und lässt die Sprache tun, was sie ihrem gealterten Körper nicht mehr zutraut: „Sie hatte einen Ort gefunden, der ausschließlich aus Worten bestand, einen durch und durch literarischen Ort, den Ort der Selbst- und Welterfindungen, […], den Wortort schlechthin, nach dem sie, wie ihr schien, immer schon gesucht hatte und an dem ihr eigentliches Leben nun erst anfing.“

Doch es bleibt für Lea nicht bei der virtuellen Jagd auf die großen Gefühle. Schon bald mischt sich in die digitale wieder die analoge Welt. Aus dem Jonglieren mit erfundenen Identitäten wird unvermittelt Ernst. Denn sie trifft auf Männer, denen das „Fantasiespiel“ nicht genügt, weshalb sie auf einem realen Treffen bestehen. Das führt zu desaströsen Erlebnissen, konfrontiert sie allerdings auch mit der Erfahrung, dass sie durchaus noch Begehren auszulösen vermag. Eine dauerhafte Beziehung, die sie über die seelischen Nöte des Alters hinwegretten könnte, findet sie allerdings nicht.

Natascha Wodins Roman folgt, jede Seelenregung genau – auch sprachlich präzise – registrierend, einer Frau in die Einsamkeit des Alters. Wenn nämlich am Ende der Reiz des Neuen erloschen ist, die Welt des Cyberspace sich auch nur als eine der ständigen Täuschungen und Selbsttäuschungen herausgestellt hat und dabei Stück für Stück von ihrem anfänglichen Reiz verlor, wird Lea wieder zu dem Menschen, der sie eingangs war. Allein sie hat gelernt, sich anzunehmen, Illusionen zu durchschauen, Ungelebtem nicht mehr nachzutrauern. Ihr Traum vom Suchen hat sie nicht verlassen – allein sie bezweifelt nun, dass es etwas zu finden gibt außerhalb ihrer selbst. Nichts als „die tägliche Erschütterung über das Rätsel des Lebens“, das tapfer ausgehalten werden muss.

Titelbild

Natascha Wodin: Alter, fremdes Land. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien 2014.
214 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783990270578

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