Internationale Perspektiven auf ein altes Projekt

Ariane Brill analysiert Europabilder in der deutschen, britischen und amerikanischen Presse

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Teilung und Einigung, Krise und Hoffnung, Sicherheit und Bedrohung“, dies seien „nur einige der prägnantesten Begriffe“, mit denen sich das Europabild von Journalisten nach dem Zweiten Weltkrieg charakterisieren lasse: „‚Europa’ bezeichnete einen Kontinent der Gegensätze, stellte eine geistige und politische Konstruktion, ein Zukunftsprojekt dar.“ Wie sich Journalisten dies vorstellten, wie sie darüber im Wandel der Zeiten und Konstellationen schrieben und urteilten: Davon handelt Ariane Brills Studie, ursprünglich eine an der Universität Potsdam eingereichte und verteidigte Dissertation.

Ausgewertet hat sie nicht die britische, deutsche und amerikanische Presse, wie der Untertitel etwas vollmundig verheißt, sondern nur drei Organe, diese allerdings von erheblichem Renommée, die Londoner Times, die New York Times (NYT) und die Frankfurter Allgemeine (FAZ) beziehungsweise für die Jahre vor deren Gründung die Süddeutsche Zeitung (SZ). Im Blick darauf, daß jene eine eher konservative, diese eine eher liberale ‚Linie‘ verfolgte, ist die getroffene Entscheidung wenig überzeugend, fällt indes unter praktischen Gesichtspunkten nicht ins Gewicht, da die SZ wegen geringer redaktioneller Ressourcen und Papierkontingente kaum einschlägige Artikel zu bieten hatte. Wenn Europa ein ‚von oben‘ implementiertes Elitenprojekt war, dann findet dies in der Auswahl der Zeitungen seine Entsprechung. Denn die wurden nicht von den breiten Schichten der Bevölkerung konsumiert, sondern richteten sich an die gebildeten und wohlsituierten Stände. Insofern könnte es für künftige Untersuchungen eine reizvolle Aufgabe sein, die Europabilder des gehobenen mit denen des Boulevardjournalismus entweder punktuell oder – wie hier – über längeren Perioden hinweg zu kontrastieren.

Die Frage, die schon andere Autoren umgetrieben hat, lautet, ob und wenn ja auf welche Weise sich nach den Schrecken des Krieges so etwas wie ein gemeineuropäisches Bewusstsein oder gar eine europäische Identität herauskristallisiert hat. Aus den Befunden, die Ariane Brill für die Jahrzehnte zwischen 1945 und 1980 ausbreitet, lässt sich darauf bestenfalls in Ansätzen schließen. Berichtet und kommentiert wurde überwiegend aus nationalpolitisch gefärbter Perspektive und Interessenlage. Ein westeuropäischer Patriotismus existiere vermutlich, war im März 1948 in der Times zu lesen, jedoch nur in einem kleinen, privilegierten Kreis von international orientierten Zeitgenossen. Die große Mehrheit in allen sozialen Klassen werde von Konzeptionen einer einheitsstiftenden, den Kontinent überwölbenden Kultur jedoch nicht erreicht. Das galt nicht nur für das Vereinigte Königreich, sondern auch für Westdeutschland und die entstehende Bundesrepublik, obwohl es unmittelbar nach dem Krieg gerade hier, wie Carlo Schmid, der erste Präsident der Europa-Union, sich 1973 mokierte, fast nur Europäer gegeben habe. Aber in solchen Zuschreibungen steckte nicht zuletzt der wohlfeile Versuch, sich einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu entschlagen, war weniger Bekenntnis als Flucht nach vorn.

Ariane Brill gliedert ihr Buch in vier Abschnitte. Im ersten geht es um „Sicherheit und Bedrohung“, um den wachsenden Gegensatz zwischen der kommunistischen und der nicht-kommunistischen Welt, zwischen dem westlichen und dem östlichen Militärbündnis. In jenem operierten die Vereinigten Staaten als „Schutzpatron“, was sämtliche der von der Autorin konsultierten Zeitungen so sahen, wobei auf amerikanischer Seite Überlegenheitsgefühle unverkennbar waren. In einer Karikatur der NYT vom Mai 1950 war in diesem Sinne unter der Spitzmarke „Selbstverteidigung“ der westeuropäischen Nationen die untere Hälfte eines Soldaten zu sehen, in der Hand ein Gewehr, in das eingraviert war: „Made in U.S.A.“ Als Gegenüber figurierte Osteuropa jenseits des ‚Eisernen Vorhangs‘, das ohne größere Differenzierung als das von der Sowjetunion dominierte Andere wahrgenommen wurde, von dem die eigentliche Bedrohung des Friedens ausging. Projekte, wie von französischer Seite ventiliert, die sich auf ein „Europa vom Atlantik bis zum Ural“ kaprizierten (ältere deutsche Mitteleuropa-Konzepte aus der Epoche des Ersten Weltkriegs waren dem verdächtig nahe), entpuppten sich rasch als Utopie und wurden als machtpolitische Alternative in der Presse nicht ernsthaft diskutiert.

Relativ intensiv berichteten die drei Blätter über wirtschaftliche und politische Unionsbestrebungen. Ihnen ist der ausführlichste Teil des Buches gewidmet. Auch hier wird deutlich, daß ein „Europa des Volkes“ ferne Utopie war und, wie Ariane Brill resümiert, „das Bild eines sich vereinenden Europas“ vornehmlich „in den Köpfen von einflußreichen Politiker-Eliten entstanden war.“ Hochphase der Debatten darüber waren die 1960er-Jahre, in denen wie in der Sicherheitspolitik der französische Präsident de Gaulle mit seinen Vorstellungen vom ‚Europa der Vaterländer‘ die Spalten der Kommentare beherrschte. Über eine gesamteuropäische Ordnung nachzudenken, hieß Antworten finden auf die Frage, wie Europa zu organisieren sei, als Föderation nach dem Vorbild der USA oder als punktuell gemeinsam agierender Bund von ansonsten souverän bleibenden Staaten. Für die Times standen nach dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, was faktisch das Scheitern der Europäischen Freihandelszone implizierte, ökonomische Aspekte im Vordergrund. Einer politischen Einigung begegnete man dort mit Skepsis, zeigte sich im Blick auf Europa allerdings aufgeschlossener als die britische Regierung, während die Redaktion der FAZ an der Vision einer „überstaatlichen Lösung“ weiterhin festhielt. Eingebettet war dies alles in eine mit beträchtlicher Dynamik voranschreitende Entwicklung, in deren Verlauf Europa sich aus den desaströsen Hinterlassenschaften des Krieges herausgearbeitet und sich trotz interner Differenzen und nicht immer kongruenter Ziele zu einem wirtschaftlichen und politischen Faktor von Gewicht gemausert hatte.

Die abschließenden Kapitel lenken das Augenmerk auf das weite Feld der Kultur, weniger auf das der Hoch- als das der Populärkultur, auf Rundfunk und Film, Bildung und Wissenschaft, Sport und Tourismus. Damit bis heute eng verknüpft, wenngleich in Wellenbewegungen von teils größerer, teils geringerer Intensität daherkommend, war und ist das Räsonnement über Tendenzen einer Amerikanisierung der europäischen Alltagskultur. Die Neigung, den Amerikanern im Gestus kultureller Überlegenheit zu begegnen, schliff sich allerdings zusehends ab. Über transnationale sportliche Ereignisse wie Europameisterschaften wurde gewöhnlich aus jeweils nationalem Blickwinkel berichtet, nur bei Veranstaltungen von globalem Zuschnitt, fanden sich im Vergleich der Kontinente Anflüge einer europäischen oder genauer: einer westeuropäischen Solidarität. Regelmäßig publizierte Reiseberichte förderten die Kenntnisse der Zeitungsleser über die Eigenheiten der anderen Völker, aber auch dies war durchwirkt von Stereotypen, abzulesen etwa an einer Karikatur in der NYT vom April 1960, in der die unterschiedlichen Erwartungen von Kellnern im Blick auf das Trinkgeld in Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland visualisiert wurden.

Leider erfahren wir aus Ariane Brills klug konzipierter Studie so gut wie nichts über diejenigen, die für die in imponierender Fülle rekonstruierten Europa-Vorstellungen verantwortlich waren: über die Journalisten, deren Herkunft und Prägungen, nicht zuletzt deren generationelle Verortung. Diejenigen, die schon vor 1945 im Beruf waren, dürften anders gedacht und geurteilt haben als diejenigen, die erst nach dem Krieg dazu stießen. Oder um es an einem deutschen Beispiel aus der Redaktion der FAZ zu personalisieren: Erich Dombrowski kam aus anderen Traditionen und war bestückt mit anderen Erfahrungen als Jan Reifenberg. Auch die drei Zeitungen werden nur sehr knapp vorgestellt, so daß deren Stellenwert in den jeweiligen Gesellschaften, der binnen dreier Jahrzehnte gewiß nicht statisch war, blaß bleibt. Insofern fehlt den für sich genommen eindringlich analysierten Bildern und Diskussionen bisweilen das materielle Substrat, fehlt die Grundierung durch zweckdienliche Verknüpfungen mit der Presse- und Journalismusforschung.

Titelbild

Adriane Brill: Abgrenzung und Hoffnung. »Europa« in der deutschen, britischen und amerikanischen Presse, 1945-1980.
Herausgegeben von Frank Bösch und Christoph Classen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
293 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783835315372

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch