Der Tod ist die See

Benjamin Leberts bildgewaltiger, düsterer Roman „Mitternachtsweg“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Benjamin Leberts Roman „Mitternachtsweg“ sammelt der junge Gothic-Fan und Historiker Johannes Kielland düstere Geschichten. Als sich die Frau eines auf Sylt gestrandeten Toten, Helma Brandt, an ihn wendet und ihm erzählt, dass ihr Mann „genauso wie viele ertrunkene Männer“ zurückgekehrt sei und nachts schwerfällig durch ihr Haus läuft, wird Kielland von einer unheilvollen Strömung erfasst. Der Sog zieht ihn in die Vergangenheit, bis in den Sommer 1939. Kielland recherchiert und findet heraus, dass damals ein Paar auf Sylt den Mitternachtsweg gegangen ist – ein Sylter Brauch: Die Liebenden gingen hinaus auf das schlickige Wattenmeer, um ihre Liebe durch die Elemente besiegeln zu lassen. Auf einer Sandbank liebten sie sich und liefen zurück, ehe das steigende Wasser die Wege abschnitt. Doch es kehrte nur einer der beiden zurück.

Sagen und Legenden werden entstaubt. Lebendig und frisch lässt Benjamin Lebert seine Figuren Geschichten von den Badefrauen auf Sylt, von Klabautermännern, toten Seemännern und Wiedergängern erzählen. Es ist, als wolle er die Atmosphäre aus den Novellen Theodor Storms in die Moderne überschreiben. Wie der Schimmelreiter steht sein Protagonist nachts im kalten, prasselnden Regen und blickt in die erleuchteten und dekorierten Fenster. In den Friesenhäusern sieht es aus, „als gäbe es nichts Schlimmes auf der Welt“. Doch Träume bedrängen die Seele von Johannes Kielland, die Realität um ihn verschwimmt, als tauche er in das kalt brausende Meer ein.

Benjamin Lebert beschreibt bildgewaltig die Farben und die Weite des Wattenmeeres, das Tosen und Donnern der Brandung. Lebert zelebriert die Tiefe des Meeres, die Dunkelheit, die das Reich der Träume ist, und ebenso zelebriert er die Unvollkommenheit. Das vermeintlich Starke trägt stets das Böse in sich. Wie das Meer, das den Tod bringt („Der Tod ist die See.“). Der Zimmermann Lorenz Christiansen, der prahlt, dass er Dachbalken tragen und einen Menschen in zwei hätte brechen können, packt das Objekt seiner Begierde, dreht ihr die Arme auf den Rücken, nimmt sie und sagt: „Es ging ganz leicht. Ich habe sie gut festgehalten.“ Das vermeintlich Schwache entpuppt sich hingegen als das Gute: Die nie umschwärmte Malou Sainte-Luce, die als Kind stotterte, wird erweckt und besiegt gemeinsam mit Johannes ihre Ängste. Wer in Leberts Roman Stärke erlangt, muss in Kauf nehmen, dass mit ihr das Böse einhergeht. Mithilfe eines mysteriösen Handschuhs wächst der schwächliche Johannes über sich hinaus und kann seine Freundin Malou gegen Angreifer beschützen, obwohl er in der Schule immer derjenige war, „der verprügelt worden war“; aber nur, indem er selbst Gewalt ausübt und einen der Angreifer noch schlägt, während dieser schon am Boden liegt. Das Böse übermannt ihn.

Ob das Gute oder das Böse siegen darf und siegen wird, bleibt bis zum Ende des Buches offen. Der Roman bleibt spannend bis zur letzten Seite. Was ist Realität, was ist Traum? Was ist im Sommer 1939 wirklich im Wattenmeer geschehen? Wer musste im Schlick sterben und warum? Und was im Sommer 2006 aufgedeckt wird, wer gerettet wird, indem er aus seiner Rolle ins Leben hinausgeführt wird, und wen Schuld trifft, wird in einem erschütternden, die Seele aufwühlenden Finale zu Tage gefördert. Benjamin Lebert hat eine fesselnde, düstere Geschichte geschrieben, die es schafft, die Grenze zwischen Grauen und Schönheit verschwimmen zu lassen.

Insbesondere hat Benjamin Lebert aber seit seinem Millionenbestseller „Crazy“ einen weiten Weg zurückgelegt. Die ersten Werke des jugendlichen Autors wurden zwar gefeiert, aber sie waren voller erzählerischer Schwächen. „Crazy“ sei sprachlich unspektakulär, habe lange, in sich nicht konsequente Stücke indirekter Rede und der Erzähler verliere seine Figuren aus dem Blick schrieb Manu Slutzky bei literaturkritik.de. Seither sind über fünfzehn Jahre vergangen. Aus dem Teenager-Star, der dünne Heftchen wie „Der Vogel ist ein Rabe“ schrieb, und um den man bangen musste, dass er nicht den Boden unter den Füßen verliert, ist ein grandioser Erzähler geworden.

Mit seinem neuen Roman „Mitternachtsweg“ greift Benjamin Lebert den alt bekannten Grundkonflikt des Lebens an der Küste auf, die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Meer; er versteht es, sprachlich brillant eine Nebelwand aus Spuk und Aberglauben zu errichten, die der Kraft der Sprache Theodor Storms in nichts nachsteht. Da verlieren sich im Regendunst falsche Fährten, die im Erzählen Helma Brandts ausgelegt wurden. Verschiedene Erzählebenen sind gekonnt miteinander verknüpft. Wenn der friesische Schuster Tham Nickels als Binnenerzähler erzählt, was er noch aus dem unheilvollen Jahr 1939 weiß, passen sich ihm die Wortwahl und die Geschwindigkeit der Erzählung an. Der Leser spürt die Beklommenheit, wenn von der Leiche eines jungen Mannes berichtet wird, „die im Meer getrieben ist“. Die Dramatik steigert sich. Dem Leser schnürt es dank der detaillierten Schilderung des Todes durch Ertrinken die Kehle zu: „Er besteht aus vielen kleinen Toden, die nach und nach alles, was einmal wie in einem Traum als Ich zusammengewirkt hat, vernichtet“. Der Tod habe immer die Vorherrschaft, schallt es dem Leser im Roman nüchtern entgegen. Das Leben werde lediglich wie ein kleines Stück Land, wie die Insel Sylt dem Wasser abgetrotzt. „Das Meer will sich die Insel wieder einverleiben“, sagte Benjamin Lebert im Radio: „Und unser Leben ist wie Sylt ein ganz schmaler Streifen, der sowohl von den Menschen lebt, die die Geschichte anreichern, als auch von ihnen und von den Gewalten des Lebens gefährdet ist“. „Mitternachtsweg“ ist ein komplexes Meisterstück, eine Ode an die Kraft der Liebe, ein Mahnmal für das Leben, die Macht der Vergangenheit und die Herrschaft des Todes.

Titelbild

Benjamin Lebert: Mitternachtsweg.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2014.
240 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783455404371

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