Zusammenbruchs-Gesellschaft
Ralf Blank rekonstruiert „die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs im Ruhrgebiet“
Von Jens Flemming
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm Ende schwirrt einem der Kopf vor lauter Zahlen, Typenbezeichnungen und Operationsdaten. Dazu gehören die über dem Ruhrgebiet eingesetzten Flugzeuge, die zwei- oder viermotorigen Bomber, die Tag- und Nachtjäger, die Flugabwehrkanonen, die Panzerfahrzeuge, die Tonnen an abgeworfenen Spreng- und Brandbomben, die Toten unter der Zivilbevölkerung, die abgeschossenen Piloten und Crewmitglieder, die gefallenen Soldaten, nicht zuletzt die Namen der Akteure auf Gau-, Kreis- und Ortsebene: insgesamt ein dicht verwobenes, facettenreiches Geflecht von Informationen, mit denen Ralf Blank die Entwicklung vom Oktober 1944 bis zum Frühjahr 1945 minutiös rekonstruiert. Militärische Handlungsfelder werden ebenso berücksichtigt wie zivile, wobei sich zeigt, dass am Ende des Krieges beides kaum noch auseinander zu halten war, die Partei und deren Repräsentanten sich zunehmend einmischten in die Kompetenzen, Aufgaben und Entscheidungen der Behörden wie der Generäle und ihrer Stäbe.
Das letzte halbe Jahr war, wie der Autor gleich eingangs den Rahmen absteckt, diejenige Phase des Krieges mit den meisten Verlusten. Pro Monat wurden „mindestens“ 300.000 Kombattanten und Nichtkombattanten getötet, „zwischen Juli 1944 und Mai 1945 betrugen allein die Verluste der Wehrmacht etwa 2,6 Millionen Soldaten“, was „ziemlich genau“ denen sämtlicher Gefallener in den fünf Kriegsjahren zuvor entsprach. Parallel dazu erreichte die „Zahl der zivilen Kriegsopfer“ ihren Scheitelpunkt: „nicht zuletzt durch die verheerenden Auswirkungen des Luftkriegs, der auch das Erscheinungsbild von zahlreichen Städten und Gemeinden nachhaltig und vielfach bis in die Gegenwart verändert hatte.“
All dies lässt ahnen, welch apokalyptische Ausmaße das Geschehen hatte. Das galt für den Endkampf um Berlin ebenso wie für den um das Ruhrgebiet. Dessen Städte wurden von den alliierten Luftgeschwadern in Schutt und Asche gelegt. Das damit verfolgte Ziel, die Bevölkerung durch fortgesetzte Flächenbombardements moralisch zu zermürben und gegen das NS-Regime aufzubringen, wurde allerdings verfehlt, denn Widerstand blieb vereinzelt, der Glaube an den „Führer Adolf Hitler“ hingegen erstaunlich ungebrochen. Das war so, wie Anfang Oktober 1944 ein italienischer Geistlicher in Dortmund beobachtete, ungeachtet des Infernos, das die niedergegangenen Bomben entfacht hatten. „Überall Knochen, Fleischfetzen“, und doch, „mitten in einer rauchenden Stadt mit Tausenden von Opfern“, wunderte sich der Priester, gebe es immer noch Leute, die den Mut hätten, „ihrem Tyrannen zuzujubeln“.
Blanks Studie bewegt sich – Monat für Monat – entlang der Chronologie, jeweils eingebettet in systematisch argumentierende Abschnitte. Dabei schälen sich vier Erzählstränge und Dimensionen heraus: zum einen die Analyse der operativen und taktischen Details der britischen und amerikanischen Luftkriegsführung, die sich auf Infrastruktur, Industrieanlagen und Verkehrsknotenpunkte konzentrierte, was stets die umliegenden Wohnquartiere in Mitleidenschaft zog. Tagsüber machten Tiefflieger Jagd auf alles, was sich bewegte, und das seit 1942 praktizierte, undifferenzierte area bombing blieb auch in dieser Phase, in welcher der Krieg eigentlich schon entschieden war, weiterhin in Kraft, eine Strategie, die hauptsächlich die Bevölkerung traf und treffen sollte. Durch Abwurf von Staniolstreifen wurden die Radargeräte der deutschen Flugleitsysteme lahmgelegt, so daß vor allem die Nachtjäger buchstäblich erblindeten, die Bomberverbände nicht orten konnten, zu spät in den Kampfzonen eintrafen oder witterungsbedingt gar nicht erst aufstiegen. Entsprechend gering waren die Abschussquoten.
Zum andern wird der Vormarsch der alliierten Bodentruppen geschildert, die zum Teil auf hartnäckigen Widerstand stießen. Die deutsche Abwehrfront war bestückt mit Verbänden der Wehrmacht und der Waffen-SS, mit Kompanien und Bataillonen des Volkssturms, zumeist ältere, ungenügend ausgebildete und schlecht bewaffnete Männer, sodann mit Trupps aus Hitlerjungen und einem in Westfalen-Süd vom dortigen Gauleiter Albert Hoffmann, einem besonders ehrgeizigen und rabiaten Vertreter der regionalen NS-Elite, aufgestellten „Freikorps Sauerland“. Damit zusammenhängend lenkt der Autor drittens das Augenmerk auf die Maßnahmen der regionalen und lokalen Funktionsträger von Staat und Partei, die einen beispiellosen Prozess der Radikalisierung und Brutalisierung entfesselten, um die Geschlossenheit der allmählich erodierenden NS-Volksgemeinschaft durch realitätsferne Propaganda, Terror und verschärfte Repression zu erzwingen. Gestapo, Standgerichte, Amtswalter der Partei, Polizisten und Angehörige von Wachmannschaften, Hitlerjungen, SA-Leute und mobile Eingreifkommandos waren verantwortlich für zahllose Exzesse, für Lynchmorde an abgeschossenen britischen und amerikanischen Piloten, zu denen Gauleiter Hoffmann ausdrücklich aufgerufen hatte, für Erschießungen von ‚Fremdarbeitern‘, Insassen der Haftanstalten, Deserteuren, tatsächlichen oder vermeintlichen Plünderern, auch, wie es in einer Verfügung der Partei-Kanzlei hieß, von Personen, deren Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart „Anlaß zu Zweifeln an ihrer nationalen und weltanschaulichen Festigung gegeben hatten“.
Viertens schließlich die Zivilbevölkerung, der der Krieg im „Ruhrkessel“, in den von den alliierten Armeen eingeschlossenen Gebieten des Industriereviers, buchstäblich bis an die Haustür rückte. Bei einem Besuch in einer der Leichenhallen, die in der Hagener Marienkirche eingerichtet worden war, beobachtete ein Bürger den Abtransport der Toten: „Ein einfacher Kasten-Lieferwagen fuhr vor dem Hauptportal vor und als erstes wurde eine Zinkblech-Waschwanne hineingetragen, die hoch voll Leichenteile war. Aus dem Wagen, der hinten keine Türe hatte, sahen die Füße von verschiedenen Frauen und Männern heraus, die aufeinandergeschichtet lagen.“ In Bochum, notierte Propagandaminister Goebbels, der im Dezember 1944 auf Stippvisite vorbei gekommen war, „wohnen noch etwa hunderttausend Menschen, d. h. wohnen ist zu viel gesagt; sie hausen in Erdlöchern und Kellerwohnungen“.
Man wisse bald nicht mehr ein und aus, sorgte sich im Januar 1945 ein Techniker der Hagener Stadtwerke; ein Arzt in Hamm hatte in seiner Sprechstunde Menschen vor sich, die Tage und Nächte lang in Bunkern dahin vegetierten. „Stumpf“ seien sie, „roh und gleichgültig“, schrieb er, ungepflegt, „verdreckt und stinkend“. Anfang April, als das Ende nahe war, entrüstete sich ein ehemaliger sozialdemokratischer Kommunalpolitiker über die „Organisation Werwolf“, die als Guerilla hinter den feindlichen Linien Sabotageakte verüben sollte: Man müsse mit diesen „Schmutzfinken und Verbrechern schnell aufräumen“ und dürfe vor „drakonischen Mitteln“ nicht zurückschrecken. Der Betriebsobmann der DAF in den Hagener Stadtwerken ließ nach dem Angriff vom 15. März 1945 alle Hoffnung fahren: „Unter dem Eindruck dieser Nacht habe ich mein Parteiabzeichen abgelegt.“ Einen Monat später, als man beschlossen hatte, den einmarschierenden Amerikanern keinen Widerstand entgegenzusetzen, schrieb er in sein Tagebuch: „Niemand weiß, wo der Gauleiter sich aufhält. Alle Parteiführer sind nicht mehr zu sehen. An den Hauswänden ließen sie noch vor Tagen großspurige Schlagzeilen anmalen. Jetzt haben sie als Erste das Feld geräumt. Wir sind belogen und betrogen worden. Von Wahnsinnigen in namenloses Elend gestürzt worden.“
Das war ein Stück später Einsicht, fast eine Art Selbstentnazifizierung. Der erwähnte Gauleiter Hoffmann war tatsächlich geflüchtet, tarnte sich als Landarbeiter, wurde im Oktober 1945 von der Militärpolizei aufgegriffen, interniert, zwei Mal vor einem britischen Militärgericht wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen angeklagt, aber mangels Beweisen freigesprochen. Im Dezember 1948 verhängte die Spruchkammer im Entnazifizierungsverfahren eine mehrjährige Freiheitsstrafe gegen ihn. Im April 1950 vorfristig entlassen, brachte er es danach, gleichsam in einem zweiten Leben, als Unternehmer zu einigem Wohlstand: auch dies ein ‚deutsches Schicksal‘.