Er hat das kulturelle Gesicht Berlins mitgeprägt

Michael Bienert spürt den literarischen Schauplätzen Erich Kästners in Berlin nach

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Bienert, Kulturjournalist und Verfasser zahlreicher Bücher zur Berliner Literatur- und Kulturgeschichte, führt uns als Literaturdetektiv durch Erich Kästners Berlin. Wie stehen die Texte, der Autor und die Stadt miteinander in Verbindung? Dazu Bienert: „Die Absicht dieser topografischen Nachforschungen besteht nicht darin, Erzählungen und Fiktionen auf eine außerliterarische Realität zurückzuführen. Es handelt sich mehr um ein Spiel, das hilft, die Stadt und ihre Literatur, vielleicht auch den Autor Kästner im Detail genauer kennen zu lernen. Mit Texten durch die Stadt zu flanieren, ist eine fröhliche Wissenschaft – und im Sinne Kästners, dem der alltägliche Gebrauchswert seiner Texte so sehr am Herzen lag.“

So begeben wir uns denn auf die Suche nach den Schauplätzen, wo Kästner gelebt oder sich immer wieder aufgehalten, seine Eindrücke in Gedichten, Feuilletons und Erzähltexten verarbeitet hat, wo seine Gedichte der Öffentlichkeit vorgestellt und die Theaterfassungen seiner Kinderbücher aufgeführt wurden, an welchen Orten der Film „Emil und die Detektive“ gedreht wurde. Vieles ist heute nicht mehr auffindbar, kann nur noch in alten Fotografien wahrgenommen werden. Und Fotografien aus den Endzwanziger- und Anfangdreißiger-Jahren und – in Gegenüberstellung – aus dem Jahr 2014 bietet der Band reichlich. Das Café Carlton am Nürnberger Platz, Kästners Stammcafé Ende der 1920-Jahre, das ihm als Büro und Konferenzzimmer diente, ist ebenso verschwunden wie die Cabarets und Kinos, die er besuchte. In der Roscherstr. 16 leistete sich Kästner 1929 eine eigene Wohnung, die im Februar 1944 abbrannte.

Ergiebig wird die Suche dort, wo Bienert Emils Verfolgungsjagd durch Berlin recherchiert, wo er Pünktchens und Antons Erfahrungen krasser Gegensätze im Berlin der Weimarer Republik nachspürt oder Fabians Gänge durch die Stadt verfolgt. Bei allem Realismus des Berliner Milieus – stilistisch bis in die Aufnahme der Berliner Gassensprache spürbar – trägt der Kinderroman „Emil und die Detektive“ ja utopische Züge. Die Kinder vereinigen sich zu einer „Interessengemeinschaft der Anständigen“. Kästner glaubte an eine Verbesserung der Menschheit durch Erziehung durch Vernunft. Aber er verlor die präzise Erfassung der Wirklichkeit aus den Augen, vielmehr erhoffte er sich durch einen „guten Menschen“ die Überwindung der gesellschaftlichen Misere. Die Jungen sind wie die Erwachsenen mit gesundem Menschenverstand ausgerüstet und klären allein den Fall. So als seien sie erfahrene Kriminalisten. Die Zeichnungen von Walter Trier haben zum Erfolg des 1928 erschienenen Buches beigetragen. Schon zwei Jahre später wurde der Roman in dramatisierter Form in Berlin mit Theo Lingen als „Herr Grundeis“ und in Breslau unter der Regie von Max Ophüls aufgeführt. Zur gleichen Zeit sicherte sich die Ufa die Filmrechte, und dort, wo Kästner – nach eigener Aussage – den Emil-Roman geschrieben hatte, im Café Josty und in seiner Umgebung, da wurden auch im Sommer 1931 die entsprechenden Passagen der Verfilmung gedreht. Es gibt sie noch, die Litfasssäule an der heutigen Kreuzung Bundesallee / Trautenaustraße, die Walter Trier zeichnete und die uns auf dem Buchdeckel jeder Emil-Ausgabe wiederbegegnet. Der Litfaßsäule gegenüber lag auf der anderen Seite der Bundesallee eben dieses Café Josty. Und hier soll Kästner auch in die Dreharbeiten hineingestolpert sein und sich über die lebendig gewordenen Gestalten seines Buches gewundert haben.

Großstädtisches Nachtleben karikiert Kästner ausgiebig in seinem Roman „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“. Für den Protagonisten Jakob Fabian sind Berlins Nachtlokale Stationen seiner Demoralisierung. Fabian will sich dem Konflikt entziehen, indem er möglichst wenig handelt, herumstreunt, räsonniert und sich als Zuschauer im Zerstreuungsprozess abreagiert. Das wird ihm leicht gemacht, weil er gerade seine Arbeit verloren hat. Er bleibt vom Zwang zur Entscheidung suspendiert. War Bienert schon der Moral der Emil-Geschichte vieles schuldig geblieben, so schöpft er den sozialkritischen Gehalt des Fabian-Romans nur ungenügend aus. Denn Fabian, dem Intellektuellen, ist die Veränderung der Verhältnisse gleichgültig, wenn sie nicht die allein wichtige Veränderung des Menschen einschließt. „Ich sehe zu und warte. Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen“. Die Rolle des Zuschauers, des Mannes der „gerechten Gefühle“, der sich selbst beobachtet, führt zur Scheu vor Verantwortung.

Kästners Fabian-Roman, der ursprünglich „Der Gang vor die Hunde“ heißen sollte, schildert Großstadtmilieu vom Standpunkt eines Außenseiters, der sich einerseits hineinziehen lässt, andererseits moralisierend abseits bleibt. Fabian durchstreift das Berlin der Weimarer Republik und erfasst als ratlos-passiver Beobachter Ausschnitte des Lebens seismographisch (es handelt sich hier ja um einen Stationenroman). Treffend Bienerts Hinweis, dass die Romanschauplätze „Bühnenbildern für eine satirische Zeitrevue“ ähneln. In diesem satirischen Spiegelbildnis finden sich mit Ehebruch, Arbeitslosigkeit, kapitalistischem Streben, unerfüllter Liebe, manipulierbaren Menschen und entfesselter, zügelloser Sexualität lediglich Ausschnitte von Symptomen des kränkelnden Patienten Zeit. Eine die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen umfassende Krankheitsanalyse unterbleibt allerdings. „Fabian“ ist kein Warn-Roman vor den „Sturmzeichen der nahenden Krise“ geworden, wie das Kästner dann im Vorwort zur Neuausgabe 1950 behauptete.

Die Weidendammer Brücke und ihre Umgebung sind Handlungsort des Kinder-Romans „Pünktchen und Anton“. Es ist die Geschichte eines ungleichen Kinderpaares. Pünktchen, die Tochter eines Fabrikanten, wohnt südlich der Spree im noblen Stadtviertel Unter den Linden und dem Brandenburger Tor. Anton ist der patente Sohn einer alleinerziehenden Mutter und wohnt nördlich der Spree im Viertel an der Oranienburger Straße. Der Fluss trennt die Wohnorte, aber die Brücke führt sie symbolisch und als zentraler Handlungsort zusammen.

Kästner hat dann am 10. Mai 1933 die Bücherverbrennung auf dem Opernplatz miterlebt. Unter den 24 von den Nationalsozialisten am meisten gehassten Schriftstellern war auch Kästner, dessen Werke verbrannt wurden. Seine Anwesenheit wäre ihm fast zum Verhängnis geworden, denn er wurde von einer jungen Kabarettistin erkannt und konnte sich glücklicherweise davonstehlen. Das Nachkriegs-Berlin hat er zwar noch oft besucht – hier lebte seine langjährige Freundin Friedel Siebert mit ihrem gemeinsamen Sohn Thomas –, aber es war doch nicht mehr „sein“ Berlin. Es kam nicht mehr zur „kreativen Symbiose von Autor und Stadt“ wie 1927 bis 1933, schreibt Bienert.

Aber hätte Michael Bienert bei seinem „Spiel, das hilft, die Stadt und ihre Literatur, vielleicht auch den Autor Kästner im Detail genauer kennen zu lernen“, nicht eben auch grundsätzlichere Fragen erörtern müssen, die jedem Kästner-Leser in den Sinn kommen? Worin besteht die literarische Leistung Kästners, was hat seinen Berlin-Texten eine solche durchschlagende Wirkungskraft verliehen? Ist die Welt des „Fabian“ auch die Welt des „Emil und die Detektive“ und des „Pünktchen und Anton“? Gibt es einerseits eine aufklärerische, anklägerische, „linksradikale“ Gesellschaftskritik und eine Lust am Zerstören bürgerlicher Tabus in Kästners Texten für Erwachsene und andererseits eine fröhliche, harmlose Unterhaltung für Kinder und Jugendliche, die ihnen jene utopische Welt des „guten Menschen“ vorweist? In seinen Berlin-Gedichten, die von Bienert recht stiefmütterlich behandelt werden, ließ Kästner von Anfang an das Bild einer Großstadt erstehen, in deren hektischem Treiben der Einzelne zur Anonymität und Einsamkeit verdammt ist. Die häufigsten Gründe hierfür sind materielle Not, Desinteresse am Schicksal des anderen und krankhafte Lebensgier. Viele dieser Gedichte nehmen schon Themen aus „Fabian“ vorweg. Und in vielen dieser Gedichte überwiegt der Ton des ironischen Kommentators, oft liegt der Effekt der Gedichte oder Strophen in ihrer scheinbaren Unlogik oder Ungereimtheit, und zwar nur „scheinbar“, weil Kästner hier auch den formalen Aufbau zum Ausdrucksträger der Ungereimtheiten werden lässt, die er in Berlin vorfand.

Dennoch wird die Lektüre von Bienerts „Spiel“-Buch dem Kästner- wie Berlin-Freund Spannung, Vergnügen und Gewinn bei den topografischen Recherchen vermitteln. „Fröhliche Wissenschaft“ eben, so wie es der Verfasser wollte.

Titelbild

Michael Bienert: Kästners Berlin. Literarische Schauplätze.
Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2014.
160 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783945256008

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