Eine produktive und heterogene Kunstform

Albert Meier hat eine Einführung in die Gattungsentwicklung der Novelle aus poetologischer Perspektive vorgelegt

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen Christoph Martin Wielands „Das Hexameron von Rosenhain“ (1805) und Jürg Amanns „Pornographischer Novelle“ (2005) liegen zwei Jahrhunderte. Es liegen aber auch thematische Welten dazwischen sowie diverse ästhetisch-konzeptionelle Veränderungen. Gemeinsam ist beiden Texten die Zuschreibung der Gattungsbezeichnung Novelle, bei Amann sogar als „schmückendes“ Attribut eines provokativen Titels. Um so weniger kann man folglich dem Goethe-Wort widersprechen, wonach es sich bei der „Novelle“ um eine „Rubrik“ handle, „unter welcher gar vieles wunderliches Zeug kursiert“. Zugleich zeigt ein Blick in die Buchhandlungen und Bibliotheken, dass novellistisches Erzählen über Jahrhunderte hinweg einen festen Anteil am literarischen Markt für sich behaupten konnte, nicht zuletzt, da ein Diktum Friedrich Schlegels bis dato für die fluide, für gestalterische Innovationen offene Gattung gilt: „die Kunst gut zu erzählen“.

Die Beschäftigung mit Novellen zählt für Germanisten zum Standardrepertoire. Ursprünge und Entwicklungen novellistischen Erzählens zu kennen und wissenschaftlich analysieren zu können, nimmt in vielen Modulbeschreibungen germanistischer Studiengänge eine wichtige Rolle ein. Für angehende Deutschlehrkräfte ist die Beschäftigung mit der Blütezeit der Novelle im 19. Jahrhundert eine conditio sine qua non solider Ausbildung. Insoweit kann der Kieler Germanist Albert Meier auf viele erwartungsfrohe und wissensdurstige Leserinnen und Leser hoffen, die sich mit dem Band „Novelle. Eine Einführung“ einen ersten Überblick zu den Standards der Gattung verschaffen wollen. Erschienen in der Reihe „Grundlagen der Germanistik“ des Berliner ESV-Verlages, bleibt dieses Buch den Reihenkonventionen treu, was sich unter anderem am klassischen Layout, an Rahmenkästen mit thematischen Zusammenfassungen und an den Markierungen von Schlüsselbegriffen im Fließtext erkennen lässt. Neun Kapitel und ein umfangreicher Anhang mit der Nennung von Primär- und Sekundärliteratur zum Thema sowie ein Namens- und Titelregister steigern die alltägliche Nutzbarkeit des Bandes. Basierend auf einer langen wissenschaftlichen Beschäftigung des Autors mit Merkmalen novellistischen Erzählens, verdankt das Einführungswerk seine Entstehung der Vorlesung „Geschichte des novellistischen Erzählens“, die Meier im Wintersemester 2011/12 an der Universität Kiel gehalten hat. Entsprechend konstruiert und „proportioniert“ wirken die einzelnen Kapitel, was aber keineswegs stört: Nicht selten gelingt es dem Autor, komplexe Tendenzen und ästhetische Spezifika treffend auf den Punkt zu bringen.

Der Aufbau des Einführungswerkes ist gut strukturiert. Bereits nach der Lektüre des ersten Kapitels zum Thema „Inwiefern es Novellen geben kann“ ist nachvollziehbar herausgearbeitet, dass es die Novelle schlechthin nicht gibt, sondern immer von einer hohen Variabilität novellistischen Erzählens auszugehen ist. Gerade im geschichtlichen Längsschnitt zeigt sich, dass die Gattung als „Abfolge neuer Lösungen für das immer gleiche Problem“ zu lesen ist, „an sich kunstlose Motive literarisch zu nobilitieren“.

Sehr konzise stellt das zweite Kapitel die Vorgeschichte der Novelle dar. Sowohl orientalische Ursprünge im indischen („Panchatantra“) als auch arabischen („Tausendundeine Nacht“) Kulturraum als auch die gattungsbildenden romanischen Muster von Giovanni Boccaccios „Decameron“ werden erläutert. Zyklische Erzählweisen und eine geregelte Ganz- beziehungsweise Geschlossenheit der Erzählorganisation sind von nun an formgebend, was auch Marguerite de Navarres „Heptameron“ und Miguel de Cervantes Saavedras „Novelas ejemplares“ zeigen. Seit dem 17. Jahrhundert entstehen Novellen in deutscher Sprache, häufig jedoch noch in Form von Erzählungen ohne Rahmensituation und strikt inhaltsbezogen auf wenige Exempel.

Dies ändert sich mit Autoren wie Johann Wolfgang von Goethe, Wieland und Heinrich von Kleist, die der deutschen Novelle um 1800 ganz eigene Züge verleihen, wie man im dritten Kapitel des Buches erfährt. Gerade Kleist hat in diesem Zusammenhang etablierte Regeln des novellistischen Erzählens verletzt und so das klassische Gattungsverständnis irritiert – oftmals zugunsten späterer Novellenversuche.

Das vierte Kapitel zeigt Tendenzen der „Novellistik der Romantik“. Dabei geht Meier beispielsweise darauf ein, welche Rolle der „Rahmung“ als dem Erzählen vom Erzählen oder den ausgearbeiteten Rahmen-Gesprächen zukommt und wie sich märchenhafte Motive in die bislang realitätskonforme Novellen-Dichtung eingelagert haben, so dass man fortan zwischen dem „Wunderlichen“ und dem „Wunderbaren“ zu differenzieren hat. Nicht unerwähnt bleiben auch repräsentative romantische „Sammlungen“, etwa von Ludwig Tieck, E. T. A. Hoffmann und Wilhelm Hauff.

Das fünfte Kapitel ist der Blütezeit der Novellistik gewidmet, die Meier mit der literarischen Epoche des Realismus verknüpft sieht. Er unterscheidet zwei wesentliche Entwicklungstendenzen: novellistisches Erzählen mit und ohne Rahmenerzählung beziehungsweise Rahmung. Neben dem Verzicht auf „wunderbare“ Elemente fällt vor allem die stoffliche Orientierung an der Lebenswelt auf, so dass durch die Konzentration auf die poetische Stilisierung mittels der Symbolik eine Spannung zwischen thematischer Alltäglichkeit und literarischer Inszenierung eröffnet wird. Während Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ prototypisch für den Einsatz einer Rahmenerzählung ist, zeigt Annette von Droste-Hülshoffs Kriminalgeschichte „Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westphalen“, dass durch den Verzicht auf die inhaltliche Motivation des Erzählens via Rahmung eine prima vista unvermittelte Präsentation gelingen kann. Jedoch betont Meier zutreffend: „Die genauere Analyse zeigt, dass auf unterschiedliche Weise doch eine indirekte Rahmung gegeben ist, indem sich in der Konstruiertheit des Erzählens eine übergeordnete Erzählinstanz beobachten lässt.“

Das sechste Kapitel ist mit „Novellistik der Moderne“ überschrieben; es beschreibt, welche experimentelle Formen des Umgangs mit tradierten Gattungsmerkmalen durch die „Autonomie des Ästhetischen“ evoziert worden sind. Novellistisches Erzählen verläuft zwischen den Extremen „experimentelles Erzählen“ (im Horizont von Naturalismus, Symbolismus und Expressionismus) auf der einen und „gediegenes Erzählen“ auf der anderen Seite. Thomas Manns „Tod in Venedig“ kann beanspruchen, als Exempel für den zweiten Typus zu gelten, wird doch darin durch Ironisierung der tradierte Standard einer streng komponierten Novelle hinterfragt und so die zentrale Frage virulent: Gibt es überhaupt eine echte „Novellenform“?

Drei Kapitel stellen die Novelle als produktive und heterogene Kunstform nach 1945 dar: Zunächst untersucht Meier die Wege der Novelle in den beiden deutschen Staaten DDR und der (frühen) BRD, wobei er eine allmähliche Krise novellistischen Erzählens konstatiert. Die Form gilt als konventionell, bieder und ästhetisch anspruchslos. Es bedarf im Folgenden Autoren wie Günter Grass, Martin Walser und Uwe Timm, welche mit ihren jeweiligen Bestsellern „Katz und Maus“, „Ein fliehendes Pferd“ und „Die Entdeckung der Currywurst“ maßgeblich zu einer „Rehabilitation der Novelle“ beitragen. Schließlich ist die „Gegenwart der Novelle“ – zu „Beginn des 21. Jahrhunderts“ – durch eine hohe Produktivität, ja sogar „Dominanz“ geprägt: „Prosa unterschiedlichster Art reiht sich durch ihren Titel oder Untertitel in die Traditionslinie ein und unterstellt ein geschlosseneres Gattungsbewusstsein, als die Literaturgeschichte bestätigen kann.“ Siegfried Lenz’ „Schweigeminute“, Botho Strauß’ „Die Unbeholfenen“ und Matthias Polityckis „Jenseitsnovelle“ werden von Meier exemplarisch auf poetische Gestaltungsformen und Gattungsinnovationen hin analysiert. Er weist plausibel die ungebrochene Attraktivität novellistischen Erzählens nach, gelte doch gerade mit Blick auf aktuelle Entwicklungen: „Daher gehört auch die Variationsbreite zu den konstituierenden Eigenschaften der Novelle“.

Resümierend ist der Band als Einstieg in die Thematik zu empfehlen. Dies gilt sowohl inhaltlich als auch sprachlich, denn es gelingt dem Verfasser, auch komplexe Entwicklungslinien novellistischen Erzählens plausibel und prägnant zu erläutern. Dass dabei der Schwerpunkt auf der poetischen Logik liegt, die seit dem 14. Jahrhundert angelegt ist und sich seither differenziert hat, verleiht dem Einführungswerk selbst einen Rahmen, der zeigt, dass Novellen mehr sind als Erzählungen „mittlerer Länge“.

Titelbild

Albert Meier: Novelle. Eine Einführung.
Unter Mitarbeit von Simone Vrckovski.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014.
214 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783503155248

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch