Das System BRUETERICH steigt in den Ring
oder: Über die allmähliche Verfertigung eines Verlags
Von Maren Jäger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer über hinreichend Neugierde, Geduld, Optimismus und langen Atem verfügte, konnte in den letzten vier Jahren die Entstehung eines Verlags beobachten – ein beglückendes Ereignis angesichts des Dahinvegetierens und/oder Sterbens vieler unabhängiger Klein- und Kleinstverlage. Gerade um diejenigen unter ihnen, die sich der deutschsprachigen Gegenwartslyrik verschrieben haben, scheint es nicht gut bestellt.
Und nun betritt ein weiterer Kleinstverlag für Lyrik und ihre Theorie die Nische, in der es zwar Platz für alle(s), jedoch nur wenig Publikum und noch weniger Geld gibt.
Wer ist und wofür steht BRUETERICH PRESS? Was ist sein(e) Programm(atik)? und: Welche Nische in der Nische möchte er besetzen?
Vielleicht gibt der hinreißende Slogan Aufschluss, mit dem BRUETERICH PRESS offensiv auf seiner Verlagshomepage wirbt: „Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis – dann ist es BRUETERICH PRESS“!
Dass der Verlagsgründer keine Person mit übersteigertem Selbstwertgefühl oder Darstellungsbedürfnis ist, darauf deutet bereits der eigenwillige Name BRUETERICH PRESS, der zugleich an männliche Hennen, Kernreaktoren, Wüteriche, aber auch an die Art Brut und Geflügelpressen gemahnt und womöglich auch die allmähliche, nicht immer bierlaunig-spontane Entstehung von Ideen, Sprachkunstwerken oder auch eines Verlags zu bezeichnen vermag.
Diese Tendenz zu einem Rückzug der Verlegerpersönlichkeit hinter ihre Druckerzeugnisse lässt sich derzeit an den Namen vieler Independent-Verlage ablesen. Nach den Ruhmesjahren von Suhrkamp, Fischer, Rowohlt & Co. gab und gibt es zwar noch immer kleinere und/oder unabhängige Verlage, die den Namen des Gründers im Titel führen (Schöffling, Urs Engeler Editor, Verlag Peter Engstler, Verlagshaus J. Frank, Weissbooks u.v.m.), doch kookbooks, der Verbrecher Verlag oder eben BRUETERICH PRESS sprechen eine andere Sprache, inszenieren ihre programmatische Randständigkeit im Tonfall der Ironie. Was also wurde hier in aller Ruhe ausbrütet?
Ein wenig Verlags-‚Historie’ vorab: Mit Stand 31. März 2011 wurde beim Ordnungsamt Tempelhof-Schöneberg von Berlin ein Gewerbe nach § 14 GewO oder § 55c GewO angemeldet; und nur ein halbes Jahr später prangte auf einem Briefkasten in der nordöstlichen Steiermark, am Fluss Feistritz, genauer in Rettenegg, Feistritzwald 36, ein Schildchen „BRUETERICH PRESS“. Zweieinhalb Jahre später machten sich bahnbrechende Veränderungen im Corporate Design bemerkbar: „Verlagsbriefkasten Feistritzwald jetzt noch moderner gestaltet“ hieß es in einem Post vom April 2014. Und in der Tat: Der handschriftliche Papierschnipsel war nun einem Typoskriptschnipsel gewichen, ergänzt um den Zusatz (AUT) und ebenso fein säuberlich hinter Tesafilm auf dem Briefkasten fixiert.
Aber eine Briefkastenfirma sollte BRUETERICH PRESS gottseidank nicht bleiben. Ein Verlagshaus für die steirische Außenstelle, die übrigens am 14.4.2014 bei der Wirtschaftskammer Steiermark, Regionalstelle Weiz, gemeldet und eingetragen wurde, war bereits gefunden; eine ISSN (2192-7634) gab es schon 2011, dazu die volle verlegerische und herausgeberische Verantwortung für das Webzine KLEINE AXT – Nachrichten aus dem Widerstand.
Bleibt die Frage: Wer oder was ist BRUETERICH PRESS? Um wenigstens ein paar Teile zur Lösung des Puzzles ans Tageslicht zu befördern, muss man tief im elektronischen Sumpf des WWW graben.
BRUETERICH PRESS ist – lt. Verlagswebsite – eine „gemeinsame Maßnahme von System BRUETERICH und Lyrikknappschaft Schöneberg”.
Damit hat sich für Nichteingeweihte (und wer wäre hier schon ‚eingeweiht’?) das Mysterium freilich nicht aufgelöst. Die 2009 in Berlin gegründete Lyrikknappschaft Schöneberg widmet sich – so heißt es auf ihrer facebookseite – „der sittlich-moralischen Unterstützung von Dichtern und deren Arbeit im Wortbergwerk“. Um sie ist es unlängst etwas stiller geworden, wenngleich ihre Knappen (Norbert Lange, Tobias Amslinger oder Dagmara Kraus) mit unvermindertem Fleiß in den Flözen bohren und graben. Aus dem Sprachtagebau entstand (neben div. Publikationen) als ihr Netzorgan die Online-Zeitschrift karawa.net.
Sucht man das System BRUETERICH zu durchdringen, das „unter Schutz und Schirm der mächtigen Lyrikknappschaft Schöneberg von 1320“ steht (bzw. nicht mehr steht: es wurde zum 6. Juni 2013 ‚abgeschaltet’), wird es immer rätselhafter: Von 39 Kammern samt Randphänomenen ist die Rede, bestehend aus einer Liste von „Zurichtungen“, sortiert nach der „Mutter“ (BRUETERICH TM), den „Schwestern“ (BRUETERICH HP, BRUETERISM, Tragbare Herrenmode), den „Töchtern“ (BRUETERICH PRESS, DAS WEIBCHEN, Dan Vulcanescu, GRAFICUS XL), den „Onkels“ (…), den „Nennonkels“, den „bösen Onkels“, den „Schwägerinnen“, den „Basen“, den „Vettern“, den „Systemorganen“ und dem „Verweser“: BRUETERICH privat. Hinter manchen dieser Kryptogramme verbergen sich Webzines (etwa die erwähnte KLEINE AXT), Fotoblogs (Tragbare Herrenmode), kollektive Poetologien (TIMBER!); Mutter, Töchter und einige andere Mitglieder dieser Patchworkfamilie finden sich versammelt auf der homepage von BRUETERICH TM, verzweigen sich in den Verästelungen des WorldWideWeb oder haben ihre (pur analogen) Vorläufer andernorts. Aber wer, bitteschön, ist Albrecht Milch?
Zunehmend der Unmöglichkeit ins Auge blickend, diese komplexen Familienverhältnisse aufzulösen oder gar zu durchschauen, fangen wir am Ende der Liste an: mit dem Verweser, BRUETERICH privat. Denn das ‚System’ ist vor allem: Ulf Stolterfoht, geboren 1963 in Stuttgart – einer der großen Lyriker unserer Tage, der sich gern hinter befreundeten Autoren und in Kollektiven verbirgt (an die er den eigenen Ruhm stets umzuleiten pflegt), in virtuellen und analogen Irrgärten, hinter Vexierspiegeln und Maskeraden.
Für den Band holzrauch über heslach (2007) erhielt der in Berlin lebende Stolterfoht 2008 den Huchel-Preis; 2011 wurde er mit dem österreichischen Heimrad-Bäcker-Preis ausgezeichnet. Er verfasst sprachkritische Lyrik und Essays und ist als Herausgeber (mit Christoph Buchwald betreute er z.B. das Jahrbuch der Lyrik 2008) sowie als Übersetzer aus dem Englischen tätig: 2005 publizierte Urs Engeler Stolterfohts Übertragung von Gertrude Steins Winning His Way/wie man seine art gewinnt, 2007 der Heidelberger Verlag Das Wunderhorn eine Übersetzung von Gedichten Jeremy Prynnes (gem. mit Hans Thill).
1998 bis 2009 erscheinen in Urs Engelers Verlag seine Fachsprachen in vier Bänden. Sperrig wie im Titel angezeigt, folgen seine Gedichte einem antisemantischen Impuls, verweigern sich jeder sofortigen Bedeutungszuweisung und führen (in spielerisch-überraschendem Duktus) mit jeder neuen Wendung Sprachskepsis vor, anstatt sie theoretisch zu entfalten. Stolterfohts Lyrik montiert Zitate, (Fach-)Sprachen, auch entlegene Quellen aus Literatur und Linguistik, Kognitionspsychologie, Poesie und Philosophie und (Pop-)Musik – gemäß dem von der Rock-in-Opposition-Band Skeleton Crew geborgten Motto „You may hear unidentified voices at various moments.“ Die heterogensten Materialien werden inkorporiert durch produktives Ver-Hören, Neuzeugung, Verfremdung, Entstellung von Worten durch fingiert ungenaues Hör-Verstehen, versetzt mit Wortspielen und Assonanzen, Binnen- und Stabreimen – bei Stolterfoht wird das Gedicht zum Sprachlabor. Denn das lyrische Sprechen, wie er es versteht, ist zugleich Fachsprache und ihr Gegenteil – insofern, als Fachsprachen terminologische Präzision, definitorische Eindeutigkeit und paradoxiefreie Funktionalität garantieren, während Stolterfohts Lyrik (wie der an Wittgenstein, Frege, Russel, Peirce u. a. geschulte Autor) um die Fallstricke des Verstehens weiß und daraus Funken schlägt.
Bei den kleinsten und kühnsten Kleinstverlagen sind die Gedichte Ulf Stolterfohts zuhause. Vier Bände sind im wohl wichtigsten Widerstandsnest für experimentelle Lyrik und Prosa in Ostheim an der Rhön erschienen, bei Peter Engster, dem „glücklichen Rebellen“ (so Sabine Vogel in ihrem Verlagsporträt in der fr): das traktat vom widergang, 2005; das nomentano-manifest, 2009; wider die wiesel, 2013, und was branko sagt, 2014. Sein ursprünglich als Hörspiel 2009 im SWR gesendetes fiktives dreistimmiges Feature über den Lyrikbetrieb, Das deutsche Dichterabzeichen, erschien 2012 als Broschurband im Leipziger Verlag Reinecke & Voß, dem „Fachverlag für Horizonterweiterung“ (D. U. Hansen) – und unlängst als Bd. 38 der Reihe Lyrik in Daniela Seels Verlag kookbooks das Langgedicht neu-jerusalem, 2015.
Die poetische Heimat von Ulf Stolterfoht war indes vor allem Urs Engeler Editor, der sich bis 2009 (als für den Mäzen die Folgen der Wirtschaftskrise allzu schmerzhaft wurden) wie kaum ein anderer Verlag um die Praxis und Theorie der zeitgenössischen Poesie verdient machte, nicht zuletzt durch die Zeitschrift Zwischen den Zeilen, deren letztes Heft 2011 erschien – und die mittlerweile durch die Mütze abgelöst wurde. Während der neue Engeler-Verlag die erzählende Literatur aus der Schweiz pflegt, widmen sich seit 2010 die roughbooks weiterhin der Poesie. Neben ammengespräche (book010), 2010, dem Quellen- und Materialienband handapparat heslach (book018), 2011, und der gemeinsam mit seinem Lyrikkurs des Literaturinstituts Leipzig zusammengestellten Anthologie Cowboylyrik (book030), 2009, ist ein solches roughbook (book029) die analoge Summa des Blogs, den Ulf Stolterfoht vom 10. September 2010 bis zum 5. Juni 2013 veröffentlichte: Jeden Tag füllte er die Eingabemaske bis zu den maximal möglichen 5 Zeilen; als Beigabe oder Soundtrack gab es je einen Youtube-Musikvideo-Link (von Peter Brötzmann über Steely Dan und John Zorn bis zu Skeleton Crew). Unter dem Druck der Zeit und der technischen Formatvorgabe entstanden 1000 mehr oder minder rohe Brevitaten, lyrische Fragmente, Mono- und Dialoge, Maximen und Reflexionen über Zeitungsmeldungen und Bahnhofstoiletten, steirischen Fußball, feministisches Bauen u.v.m. Ein großartiges, irrwitziges und teils äußerst komisches Lese und (Nach)Hörvergnügen!
So ist es wenig verwunderlich, dass einen aus den ersten Publikationen von BRUETERICH PRESS auch der Geist des Schweizer Verlags anweht, dass die monochrome, helle und klare Gestaltungslinie der Bücher, die die Kommunikationsdesigner von Gold und Wirtschaftswunder (a.k.a. Julia Kühne und Christian Schiller) in Stuttgart entwickelt haben, entfernt an die roughbooks erinnert, wenngleich die Typen, Kapitelübergänge, die eingelegten Grafiken doch etwas verspielter sind, die Ausstattung großzügiger als die puristischen kleinformatigen Quadrate.
Es mag so scheinen, als ob BRUETERICH PRESS einen Teil des Erbes von Urs Engeler Editor in den seligen Mäzenatenzeiten anzutreten bestrebt ist; dazu gesellt sich der ‚Spirit’ von Hombroich, ein wenig Pfälzer Luft aus Edenkoben – unter demselben Himmel über Berlin und der Steiermark. Aber derlei Spekulationen um ein ‚Erbe’ werden dem kühnen verlegerischen Manöver nicht gerecht, denn: woher auch immer Independent-Verlage die finanzielle Grundlage für ihr Wagnis beziehen (ob von Zahnärzten, verstorbenen oder lebenden Angehörigen oder anderen heroischen Mäzenen), woher ihre Gründer den Mut für ein so vergebliches Unterfangen, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Fest steht: gut, dass sie beides aufbringen! Für die deutschsprachige Gegenwartslyrik, ihre AutorInnen und LeserInnen sind sie ein Glück.
Denn hier ist etwas im Entstehen begriffen, das die Lyrik des 21. Jahrhunderts nachhaltig prägen wird. Das beweisen schon die ersten Karten, die mit BP 001, 002 und 005 auf dem Tisch liegen. Mit diesen drei Bänden eröffnete der Verlag vor wenigen Tagen sein Programm:
BP 001: Hans Thill, Ratgeber für Zeugleute. Gedichte.
BP 002: Franz Josef Czernin, Beginnt ein Staubkorn sich zu drehn. Ornamente, Metamorphosen und andere Versuche.
BP 005: Oswald Egger, Gnomen & Amben.
„all killa no filla“ mag man diese Auswahl ‚labeln’ – wie Stolterfoht mit einem gelben Aufkleber die von ihm besorgte legendäre Nr. 21 der Engeler-Zeitschrift Zwischen den Zeilen, in der Gedichte (und Zeichnungen) von Stolterfohts „Lieblingsautoren“ Bert Papenfuß, Paulus Böhmer, Ferdinand Schmatz, Hans Thill, Anton Bruhin, Oswald Egger u.a. versammelt sind – vielleicht eine Autoren-Vorschau der prospektiven Backlist von BRUETERICH PRESS?
Der Band BP 001, mit dem Autor und Verleger BRUTERICH PRESS am vergangenen Wochenende auf der Expedition Lyrik im Rahmen der Leipziger Buchmesse dem Publikum vorstellten, versammelt sieben Gedichtzyklen des Lyrikers und Übersetzers Hans Thill (*1954). Er ist vermutlich der heiterste der drei Sprachwerker, der eigentlich ein Sprachliebhaber ist, mit einer Vorliebe für ihre Unzulänglichkeiten und Paradoxien, Zufälligkeiten und Widersprüche, für ihren Eigen-Sinn und den Spannungsraum zwischen Schrift und Stimme, kurz: mit ungebrochenem Vertrauen in die ästhetische Autonomie der Sprache, der er ihren Lauf lässt, die im Verborgenen für ihn arbeitet – und in diejenige des Gedichts, das aus ihr gemacht ist. Seine an Spracheinfällen und -trouvaillen reichen Verse (mit Titeln wie „Fischpredigt“, „Die Nonnenspuckerin“, „Hans Harfe erbaut Freitag und Mannheim“, „Ikonen Cognac“, „Selfie mit Gepäck“ oder „Der Krieg der Zimmer in meinem Haus“) beziehen ihre Impulse ebenso aus der Tradition der französischen surrealistischen Lyrik wie von den Mystikern und Spracharbeitern des Barock oder den eigenwilligen Visionären der Sammlung Prinzhorn – etwa von August Klett, dessen Textblättern („Was nehmen diese Zeugleute einen Bernhardiner Hund mit ins Bad?“) auch der Titel entlehnt ist. „Aus dem Babylonischen“ und „Die Beamten des Himmels“ heißen die Zyklen, „Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen“ oder „Von den Wäldern“. Thills Gewährsleute, die in den Motti oder den vielstimmigen Gedichten selbst mitreden dürfen, heißen Philippe Soupault und Louis Aragon, Hugo Ball und Tristan Tzara, Edmond Jabès und Henri Michaux, Giorgio Agamben und Augustinus von Hippo, Martin Opitz und Quirinus Kuhlmann, Arno Schmidt und Uwe Kolbe, Fariduddin ’Attar und Halladsch.
BP 002 enthält „Ornamente, Metamorphosen und andere Versuche“ Franz Josef Czernins (*1952), eines Fortsetzers des österreichischen Avantgarde, geschult an Theorie von Fritz Mauthner bis zu Oswald Wiener, der gezielt literarhistorische Etikettierungen wie ‚Avantgardist’, ‚Postmoderner’ unterläuft – etwa, indem er in seiner Lyrik zwar Verfahren aus dem experimentellen Kontext der Wiener Gruppe anwendet, zugleich aber deren Haltbarkeit in traditionellen Gedichtformen wie Sonetten, Terzinen oder Sestinen erprobt. Czernin arbeitet seit 1980 an einem radikalen, wenn nicht gar monumentalen Projekt: einer Kunst des Dichtens, einem systematischen Versuch, seine Publikationen in einen poetischen und poetologischen Kosmos zu integrieren. Seine poetischen Texte werden daher flankiert durch zahlreiche Essays, die sich als Untersuchung der universalen Möglichkeiten von Dichtung verstehen. Mal literarisch, mal literaturwissenschaftlich, mal poetisch, mal sprachphilosophisch im Gestus präsentieren sich auch die hier versammelten Texte, die – wenngleich bereits andernorts in Zeitschriften und Jahrbüchern veröffentlicht – hier in überarbeiteter Form (und der gewohnten stilistischen Brillanz, reichhaltig mit eigenen literarischen Beispielen durchsetzt) noch einmal zusammengeführt werden. Ein Beitrag widmet sich der Grammatik und dem Potential der Poesie, sie zu erweitern oder verändern, ein anderer der literarischen Arabeske, der epochenübersetzenden lyrischen Aneignung ein dritter. Eine systematische Topologie der Anspielungen in literarischen Texten findet sich ebenso wie eine sprachphilosophische Abhandlung über Fiktionalität und Searles Intentionalismus.
Gnomen & Amben heißt BP 005; und der Titel deutet an, was die poetische Phantasie des auf der Raketenstation Hombroich lebenden und mit allerlei Preisen (von Brentano- über Huchel- bis Sczuka-) ausgezeichneten Oswald Egger auf Touren bringt: Hier wird eine aus der Antike herreichende literarische Formtradition mit einem mathematischen Begriff aus der Kombinatorik verschränkt.
Bezeichnet die ‚Ambe’ (oder ‚Binion’) eine Variation von Elementen, die auf Zusammenstellung bzw. Gruppenbildung durch Paarbildung basiert, so leitet sich ‚Gnome’ von griech. γνώμη [gnóme] ,Merkmal‘, aber auch ,Erkenntnis‘, ,Meinung‘, ,Sinn‘ her. Diese Form lebte in den Sprüchen des Alten Testaments und altnordischer Heldendichtung, in antiken Epen und Dramen ebenso wie in mittelalterlicher Sangspruchdichtung, den Sprichworten des 16. Jhs. und den barocken Apophthegmata, wurde in Sammlungen (wie den humanistischen Poetae graeci gnomici von 1553) bewahrt, tradiert, vielfach neu belebt und funktionalisiert (etwa bei Herder, Goethe, Rückert). Kürze und Weltweisheit sind die Bausteine der kleinen Form, die seit jeher zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oszilliert, zwischen Gebrauchsliteratur und Kunstrede, literarischer Durchformung und Alltagssprache. Als Denkform liegt der Gnomik ein „urteilendes, auf Einzelresultate konzentriertes Erfassen der Realität zugrunde; als Sprachgebärde herrscht der Gestus apodiktischen und pointierten Redens vor“ (so M. Eikelmann im Reallexikon). Herder betrachtet den gnomischen Spruch als poetischen Erkenntnismodus (Spruch und Bild, 1792); und auf das poetische Sinn-Bilden versteht sich Oswald Egger.
Aber nähern wir uns diesem Buch zunächst über seine typographische Gestalt (hier – in der lyrikzeitung – eine Leseprobe). Diese wird solche Leser, die ohnehin mit einem Hermetikverdikt in die Lektüre wie in eine Schlacht ziehen, in ihren Vorurteilen bestärken und zur sofortigen Kapitulation veranlassen. Dabei ist das Buch doch zunächst einmal: schön. Schlägt man es auf, findet man nach dem Haupttitel eine Seite mit 168 winzigen Zeichnungen, deren zwei Bauelemente (die in den Zeichnungen ineinandergeflochten sind) in ihrer Grundstruktur zwei Seiten später das ‚Vorwort’ beschließen: Eine grafische Variation der Ambe? Eines dieser filigranen Geflechte ziert auch den Umschlag des Bandes. In seinem Innern verteilen sich – auf den ersten Blick etwa an Dieter Roths „Wolken“ erinnernde – meist aus drei Zeilen bestehende (Einzel-)Satzgruppen über die knapp 80 Seiten; i.d.R. ist eine von ihnen fett gedruckt, eine eingerückt und kursiviert, eine weitere recte und rechtsbündig gesetzt. Erstere sind (mit einzelnen Aussparungen) von 1-573 fortlaufend nummeriert; letztere folgen einer (mir nicht durchschaubaren) Zählung zwischen 3 und 619.
„8 In einer Schale wie ein Schädel schwimmt mein Auge.
Wie Kalville im Winter eine zwiebeljunge Rübe wird mein Kind sein.
Die Axt war ziemlich zerschmiedet und springend. 31“
Auffällig ist, dass Doppelseiten eine typographische Symmetrie aufweisen: Zeilen im Fettdruck stehen auf gleicher Seitenhöhe Zeilen im Fettdruck gegenüber usw., manche Reihen bleiben indes auf der einen oder anderen Seite unbesetzt. Die Gnomen erhalten ein (oft mehrfaches) Echo durch die Verschränkungen mit anderen (‚Cognomen’?). Im unteren Seitendrittel sind kurze Sätze in fortlaufender Nummerierung im Blocksatz arrangiert, bis am Ende 1117 dieser Sentenzen angetreten sind. Die erste heißt: „– mein Dorf ist klein, wir kennen einander alle wie Knoblauch und Koriander.“
Manche dieser ‚Sprüche’ erinnern (in ihrer sprachbildlichen Verdichtung und in ihrem Rhythmus) an die gstanzlartigen Vierzeiler, die sich in nihilum album (2007) und Die ganze Zeit (2010) finden – nur eben ohne Versumbrüche. Überhaupt drängt sich die Gattungsfrage auf: Ist das Prosa – oder Lyrik? Lassen wir sie getrost offen und begnügen uns mit der Einsicht, dass auch die gnomische Formtradition immer wieder versifizierte Exempla aufweist.
Überhaupt kann der Wink für Egger-Novizen (während man freilich bei den ‚Fans’ des „Wahlverwandten Thomas Klings“ (M. Braun) offene Türen einrennt) nur lauten: Keine Angst vorm Eggerschen Kosmos, seiner Kombinatorik, die Topoi der Naturlyrik mit Neologismen, onomatopoetischen Neubildungen, grammatischen Entstellungen, Archaismen und längst vergessenen Vokabeln entlegener (Fach-)Sprachen zusammenführt. Wie kaum ein anderer Lyriker weiß Egger das lautliche Material der Sprache zum Klingen zu bringen und den Leser in rurale, dörfliche, oft vormoderne Welten zu entführen, in denen das Ich heimisch ist. Dort kennt es sich aus, zwischen Tieren und Pflanzen, Himmel und Erde, Ackerbau und Handwerk; von dort aus vermag es wissend und apodiktisch (eben: gnomisch) zu sprechen. Seine Weisheit und Erkenntnisverheißung ist jedoch nicht – wie bei Aristoteles und in der rhetorischen Tradition – eine ethisch-moralische, sondern vielmehr eine Beschwörung der Elemente und des Elementaren, der Erde, der Rede: „Ich brüte zehn Eier, und bekomme zehn Küken“, weiß das Ich, und erklärt apodiktisch: „Ich iß Vogelbeeren, bis ich satt bin, und kann fliegen.“
Der Wettlauf der Gnomen und Amben wird im ‚Vorwort’ (aus dem man da und dort Jandl u.a. heraushören kann, wenn man will) wie derjenige zwischen Hase und Igel inszeniert:
„Die Geschichte ist eigenlos, ‚um nichts’, gelogen, bloß – wahr ist sie aber! Ich will mir die Fabel in Sprache und Gestalt eines Rebus und Silbenrätsels denken (‚das Blatt hat sich gewendet’); nur unumgänglich müsse sie sein, besiegelt, sonst könnte sie einer ja um die Wette nicht unverwandt ausgesprochen wissen wie kein anderer ..: am Ende ist sie ausgedacht –“
Die Gnomen & Amben sind ein Experiment im allerbesten Sinne (weil: formal produktiv, sprach-schöpferisch und widerständig) – es sind keine possierlichen anämischen Weidenkätzchen, es ist keine Hermetik um ihrer selbst willen, und es ist kein großformatiger Hoax! Geht der verbissene Leser aber – wie der Hase aus der Fabel – mit der Hybris ins Rennen, eine ‚Bedeutung’ einzuholen, zu überholen, die ihn doch immer wieder abhängt, über die Gabe der Bi(oder: Poly)lokation zu verfügen scheint oder schlicht überall „al dor!“ ist – dann dräut dem haselierenden Gambengnom unweigerlich der Erschöpfungstod.
Zugegeben, die Zahlen erhöhen den Eigen-Sinn dieses Buches, auf deren Strukturentschlüsselung man sich wie auf eine Denksportaufgabe stürzen kann, um auf halbem Wege zu kapitulieren oder zu Aussagen zu gelangen wie: „Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass die Quersumme der sich jeweils gegenüberstehenden Zeilentupel bei Vollmond die Wurzel aus Pi ergibt.“ (Dass die Kombinatorik Methode hat, wage ich zu vermuten; vielleicht mag der Autor sie der Welt gelegentlich erklären.) Oder man denkt gründlich drüber nach, ohne ein Rätsel knacken zu wollen, recherchiert ein wenig da und dort, freut sich über Teilerfolge und schaut, wohin das führt. Oder man gibt sich einfach der Lektüre der eigenwilligen, fantastischen oder derb-realistischen, sinnlichen, mal bizarren und nicht selten hochtiefkomischen Gnomen hin, nimmt die mathematischen Prinzipien wahlweise als ornamentales Beiwerk oder gelungene Irritation zur Kenntnis und genießt das sich bei all dem Wort- und Spielwitz einstellende Lesevergnügen.
Die letzte der gnomischen Sentenzen im unteren Seitenbereich (Nr. 1117) ist übrigens – anscheinend durch das Zeilenende guillotiniert – eine Aposiopese: „Und zwar –“.
Man kann kaum umhin, Egger hier schelmisch kichern zu hören.
Im Gegenzug empfiehlt es sich, als interpretatorische Letztauskunft die finalen Worte des sterbenden Friedrich Schlegel vom 12.1.1829 zitieren, mit denen sein Dresdener Manuskript zur Philosophie der Sprache und des Wortes abbricht: „Das ganz vollendete und vollkommene Verstehen selbst aber“ –
Aus dem Auftaktakkord dreier bislang vorliegender Gedichtbände eine Marschroute (etwa eine ‚neue Hermetik’!) herauszulesen, scheint ein unmögliches Unterfangen, das doch so unmöglich vielleicht aber gar nicht ist.
Die Namen Czernin, Egger und Thill stehen – gemeinsam mit ihrem Verleger – für einen Strang der form- und sprachbewussten und -kritischen Traditionslinie. Die ‚Klartext-Botschaften’, wie sie noch viele Gedichte der achtziger Jahre ‚transportierten’, deren Nachhall noch im neuen Jahrtausend spürbar ist, sind Ulf Stolterfoht, Hans Thill, Franz Josef Czernin und Oswald Egger (und vielen Autoren, deren Debüts in die Neunziger Jahre fielen, darunter Thomas Kling, Barbara Köhler, Peter Waterhouse u.a.) suspekt. Sie gehören zu einer Gruppe der v.a. in den 50er und 60er Jahren geborenen LyrikerInnen, von der einst Thomas Kling im Dossier einer von ihm herausgegebenen Nummer 43 der Akzente schrieb: „Diese Dichtergeneration ist nicht bereit, hinter die Standards einer kritischen Sprachbehandlung und also Wirklichkeitsauffassung zurückzufallen.“
BP 001, 002 und 005 untermauern die These, mit der Thomas Kling sein „Hermetisches Dossier“ eröffnete: dass gerade das sprachschöpferische, hermetische Gedicht engagiert und subversiv sein kann, insofern es sich dem massenmedialen Mainstream und seiner unterkomplexen Sprachverwendung widersetzt: „Was darf das Gedicht dieser Jahre keinesfalls sein? Ich meine laut: Rezeptions- und Unterhaltungsindustrie.“
Die Liste der (geistigen, poetischen oder realen) „Kumpane“ von Thomas Kling lässt sich in die Gegenwart und über die Sprachgrenzen hinaus erweitern: Zu den drei erschienen Titeln gesellen sich in Kürze Monika Rinck (BP 004 mit einem Aufsatz KRITIK DER MOTORKRAFT über Automatik, Stillstand, Schaltung und Bewegung, dem 12 Federzeichnungen der Autorin beigegeben sind) und der amerikanische Lyriker Cyrus Console bzw. das Leipziger Übersetzerkollektiv, das dessen aus 55 Prominiaturen bestehenden Band Brief Under Water übertragen hat (BP 003).
Der preisbewusste Leser sei von der Redaktion nachdrücklich darauf hingewiesen: Der Preis für diese Lyrik ist nicht – wie es das Motto behauptet – sehr hoch, er ist nicht einmal hoch. 20 € kosten 80-140 Seiten lyrischer Prosa und brillanter Essayistik, feinster Gedichte und ihrer Poetik, die vielleicht nicht ‚einfach’ sind – aber zu dem Besten zählen, was die deutschsprachige Gegenwartsliteratur aktuell zu bieten hat.
Und – geschätzte BuchhändlerInnen, geneigte LeserInnen – es ist nicht schwierig und nicht teuer (sondern intellektuell/ideell/finanziell in höchstem Maße lohnend), dabei zu sein und ein bisschen Lyrikgeschichte mitzumachen.
Die Konditionen:
„BRUETERICH PRESS gewährt Buchhandlungen einen Rabatt von 25% auf das einzelne Buch, einen Rabatt von 40% bei Abnahme der ganzen Reihe. Auf die Reihe abonnierte Buchhandlungen werden zusätzlich auf der BP-Homepage gelistet, verlinkt und über die Maßen gerühmt!”
Und für den geneigten Leser gilt: „Jeder Band kostet 20,00 €, incl. Versand und 7% Mehrwertsteuer. Bei Abonnierung der ganzen Reihe reduziert sich der Preis auf 15,00 €. Es werden etwa 5-8 Bücher pro Jahr erscheinen. Das Abonnement ist jederzeit kündbar.“
Sollten sich (n.b.!) 75 Abonnenten finden lassen, würde das – den Berechnungen eines Knappschaftsmathematikers zufolge – bedeuten, dass „das Fortbestehen des Verlages auch über die Garantiezeit von drei Jahren/15 Büchern hinaus gesichert wäre.“
Obendrein hat sich der Verlag zu einem „spektakulären Schritt“ entschlossen: Zusätzlich zum Rabatt von 25% bekommen Abonnenten ein schönes Buch aus dem Archiv des Verlegers geschenkt, im Moment Gertrude Steins Winning His Way / wie man seine art gewinnt. Ein Brüterich, ein Wort! – Und eine Anregung (nicht nur) für den Indiebookday, (nicht nur) sofern Sie den weiten Weg in die nächste Buchhandlung scheuen:
Das Abo erhalten Sie per Mail an brueterichpress@email.de oder über die BRUETERICH PRESS-App (kostenlos im App Store, bei Google Play oder – noch eleganter – hier direkt über den Handybrowser) mitsamt dem raffinierten BP-Logo und dem „zarten, lindgrünen Schlierenhintergrund, den der Verleger persönlich entworfen hat“.
Der ‚Abo-Count’ steht am Indiebookday auf 16, und 3 Jahre sind zu wenig.
Live long and prosper, BRUETERICH PRESS!
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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