Kein Tauwetter

In „Untertauchen“ versucht Lydia Tschukowskaja, die Erinnerung an den stalinschen Terror wach zu halten

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seiner Vergangenheit tut sich Russland bekanntlich schwer. Ein Bonmot besagt, Russland sei ein Bär, dessen Spuren der fallende Schnee immer sofort wieder zudecke. An die dunklen Kapitel der eigenen Geschichte möchte man lieber nicht erinnert werden. Wenn nötig, zieht man es vor, sie ins Positive zu wenden.

Stalin wird in diesem Fall vornehmlich als „effizienter Manager“ gefeiert, der in einer gewaltigen Anstrengung die Sowjetunion modernisiert und den Faschismus in Europa besiegt habe. Die von Stalin befohlenen „Säuberungen“ der 1930er-Jahre, die Repressionen, denen Millionen zum Opfer fielen und die er persönlich zu verantworten hat, werden dagegen kleingeredet oder ganz verschwiegen.

Zum Glück geht es aber auch anders: In Moskau wurde vor kurzem das Projekt „Letzte Adresse“ lanciert. An Häusern werden kleine Metallplaketten mit einer leeren Öffnung anstelle eines Fotos angebracht: Sie sollen an einstige Bewohner erinnern, die während der Sowjetzeit verschwanden oder umgebracht wurden. Auch die Schriftstellerin und Publizistin Lydia Tschukowskaja (1907–1996) hat sich zeit ihres Lebens bemüht, die Erinnerung an die stalinschen Repressionen wach zu halten. Davon zeugen unter anderem ihre beiden längeren Erzählungen Sofja Petrowna und Untertauchen, von denen letztere vom Dörlemann Verlag jetzt auf Deutsch wieder aufgelegt worden ist. Untertauchen konnte 1972 nur im „Tamisdat“ in New York erscheinen; die deutsche Übersetzung von Swetlana Geier wurde zuerst 1975 in Zürich veröffentlicht und erlebte spätere Wiederauflagen. Es irritiert im Übrigen ein wenig, dass der Dörlemann Verlag diese Umstände und die Vorgeschichte nicht erwähnt, auch Hans Jürgen Balmes geht in seinem kurzen Nachwort nicht darauf ein. Wollte man hier vielleicht den Eindruck erwecken, es handle sich bei Untertauchen um ein neues Werk? Das wäre dann wohl ein Zugeständnis an die Gesetze des Marktes und ist doch im Grunde genommen gar nicht nötig: Tschukowskajas Untertauchen findet ohnehin gerade zur rechten Zeit wieder seinen Weg zum deutschsprachigen Leser – in einer für Russland kritischen Phase nämlich, in der sich die Frage nach der Zukunft dieses Landes drängend stellt.

Nina Sergejewna verbringt im Februar und März 1949 ein paar Wochen in einem Erholungsheim für Künstler auf dem Land. Offiziell arbeitet sie an einer Übersetzung. Im Geheimen schreibt sie daneben aber auch ihre Erinnerungen nieder: „Untertauchen“ nennt sie diese Arbeit. Man darf annehmen, dass die als Tagebuch in Ich-Form verfassten und uns vorliegenden Aufzeichnungen das Resultat eben dieses Prozesses bilden. Nina Sergejewnas Mann wurde während der stalinschen Repressionen ins Gefängnis geworfen und ist anschließend in einem Lager verschwunden. Seit längerer Zeit hat Nina keine Nachrichten mehr von ihm erhalten. Während sich kurz nach dem Krieg die meisten bemühen, die finsteren Jahre der neuesten Vergangenheit zu vergessen, notiert Nina, wie sie nach der Verhaftung ihres Mannes tagelang in der Kälte Schlange stand, um irgendetwas über sein Schicksal zu erfahren oder ihm vielleicht gar ein Paket zu übermitteln. Sie erinnert an die Demütigungen durch die Behörden, welche die Wartenden ständig schikanierten.

Nina verliert dabei auch ihre Leidensgenossinnen nicht aus dem Blick: Sie erzählt etwa die Geschichte einer jungen Finnin mit einem vier Monate alten Säugling, die ebenfalls nach ihrem verschollenen Mann sucht. Als Nina bemerkt, dass das kleine Mädchen tot ist, antwortet ihr die Frau mit ihrem Akzent: „‚Ist schon vorhin kestorpen […]. Da.‘“ Und sie zeigt mit der Hand auf das Gebäude, das wir soeben verlassen haben. „‚Aber wollte Platz in Schlanke nicht verlieren. Wollte Auskunft hapen. Hape Mann sehr kelipt.‘“ Bei solchen erschütternden Szenen denkt man unwillkürlich an Anna Achmatowas Poem „Requiem“, mit dem die Dichterin den vor den stalinschen Gefängnissen wartenden Frauen ein großartiges Denkmal gesetzt hat. Tschukowskaja war im Übrigen mit Achmatowa eng befreundet und hat davon in ihren Aufzeichnungen über Anna Achmatowa Zeugnis abgelegt.

Im Sanatorium lernt Nina Sergejewna den Schriftsteller Nikolaj Bilibin kennen und nähert sich ihm an. Bilibin eröffnet ihr, dass er selber in Lagerhaft gesessen hat. Aufgrund seiner Kenntnis des Lagersystems muss Nina nun davon ausgehen, dass ihr Mann nicht mehr am Leben ist. Doch dies hatte sie im Innersten bereits gespürt. Eine andere Enttäuschung trifft sie denn auch viel härter: Sie realisiert, dass Bilibin selbst sich seiner eigenen Vergangenheit nicht stellen will. In seinem neusten, im Sanatorium vollendeten Roman, dessen Manuskript er Nina zu lesen gibt, thematisiert er seine Erlebnisse. Doch er schreibt die Geschichte so um, dass das politische System der Sowjetunion nicht hinterfragt wird. Während langer Spaziergänge in der Umgebung wird Nina allmählich bewusst, dass die meisten ihrer Zeitgenossen es vorziehen, das Geschehene zu verdrängen. Unterdessen gelangen über Zeitungen und Radio nach und nach Nachrichten ins Sanatorium, aus denen man schließen muss, dass die sowjetischen Machthaber sich wieder etwas Perfides ausgedacht und eine antisemitische Kampagne gestartet haben. Tschukowskajas Untertauchen endet mit Ninas Abreise und ihrer Rückkehr nach Moskau, wo ihre kleine Tochter Katenka auf sie wartet.

Untertauchen wird in der Übersetzung als Roman bezeichnet, doch die russische Gattungsbezeichnung „Povest’“ ist genauer. Damit wird in der russischen Tradition ein Text bezeichnet, der etwa zwischen einem „kürzeren Roman“ oder einer „längeren Erzählung“ anzusiedeln wäre. Der Titel selbst, der dem Original Spusk vod vodu entspricht, ist gut gewählt, denn er steht für mehreres zugleich: Zunächst bezeichnet er das schon erwähnte Bemühen Ninas, sich der Erinnerung zu stellen und sie gegenwärtig zu halten. Dabei wird deutlich, dass es hierfür die nötige Ruhe braucht: Darum meint „Untertauchen“ im Weiteren das Eingehen in die winterliche Landschaft, die im Übrigen von Tschukowskaja mit wunderbaren Strichen gezeichnet wird. Nina Sergejewna wandelt durch die verschneiten Wälder und schafft sich damit den erforderlichen Raum für das Erinnern. Denn im Sanatorium selbst wird Ninas Arbeit immer wieder durch die banalen Gespräche der anderen Gäste und das Rauschen der verlogenen, offiziellen Verlautbarungen im Blätterwald und im Radio gestört. Die Stromlinienförmigen passen sich an und tauchen lieber im herrschenden Zeitgeist unter. Schließlich ist da aber auch noch Ninas Traum, worin ihr Mann während des Verhörs zu Geständnissen gezwungen wird, indem sein Kopf unter Wasser gehalten wird. In diesem „water boarding“ steckt zugleich eine böse Ironie: Wer untertaucht, sagt die Wahrheit.

Das Buch ist nicht zuletzt auch ein Buch über die Sprache und Literatur. Darauf verweist bereits das Motto Lew Tolstoj entlehnte Motto, das Lydia Tschukowskaja ihrer Povest’ voranstellt: „Die Moralität des Menschen zeigt sich in seinem Verhältnis zum Wort.“ Ninas Erinnerungsarbeit ist immer auch eine Arbeit an der Sprache. Das Gedenken ist nur möglich, wenn es von den falschen Tönen der herrschenden Diskurse befreit wird. Nina liebt zudem die Poesie, und sie bevorzugt bisweilen Dichter wie Boris Pasternak, die inzwischen verpönt oder verboten sind.

Tschukowskajas Untertauchen überzeugt in mehrfacher Hinsicht: Es ist ein unmissverständlicher Appell, das Gedenken zu pflegen und die Erinnerungen zu bewahren, auch unter Umständen, in denen ein Tauwetter nicht möglich erscheint. Es schildert in eindrücklichen Worten noch einmal den Terror der stalinschen Jahre, und es ist, beinahe nebenbei, eine leise Liebeserklärung an den russischen Winter. Der Verlag hat dies auf dem Umschlagbild sehr schön aufgenommen: Das (wie immer bei Dörlemann) überaus gediegen gestaltete Buch wird von einem verschneiten Birkenwald geziert.

Titelbild

Lydia Tschukowskaja: Untertauchen. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Swetlana Geier.
Dörlemann Verlag, Zürich 2015.
256 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783038200130

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