Straßburger Leben um die Jahrtausendwende

Barbara Honigmanns „Chronik meiner Straße“ erzählt leichtfüßig vom Schicksal jüdischer Interkulturalität

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das ist, glaube ich, die letzte Tür in Europa, wo man einfach reinkommen“ kann, sagt Barbara Honigmann zu dem Reporter, der sie in ihrer Straßburger Wohnung für ein Feature des Norddeutschen Rundfunks aufsucht. Diese Wohnung liegt in der Rue Edel, Barbara Honigmann wohnt hier seit über 30 Jahren. Ihre „Chronik meiner Straße“ ist ein weiteres Stück ihrer literarischen Autobiographie, brillant im episodischen Erzählen, reich an Eindrücken über das jüdische Leben im „Jerusalem des Ostens“.

Vom Balkon aus kann man sich Barbara Honigmanns Blick auf diese Straße gut vorstellen. Was sie sieht, ist keine touristische Attraktion. Die Rue Edel hat keine Kathedrale, kein Europaparlament, die Ill ist weit entfernt, Gärten und Bäume fehlen. Ihrem Haus gegenüber steht die Telekom, das hässlichste Gebäude der Straße. Kinderkrippe und Drogenszene existieren friedlich nebeneinander. In der Nähe ist das Bet- und Lehrhaus „Schearim“. Am nördlichen Ende der Straße gibt es eine European Business School, im Süden ist die École internationale. Die Bildungsmoderne und die Gründerzeit der städtischen Sozialbauten, viele Völker, viele Sprachen und Kulturen – Kurden, Russen, Franzosen, Deutsche hausen zusammen: Die Rue Edel scheint ein prächtiges Soziotop zu sein.

Doch Gesellschaftsanalyse ist nicht Barbara Honigmanns Absicht. Es geht um das Erzählen von Lebensgeschichten, von Herkünften, von alltäglichen Begebenheiten, Routinen und Anekdoten. Es gibt harmlos verrückte Nachbarn und ein streng orthodoxes Ehepaar, das sich trennt, auch in der Konversion des Mannes zum Christentum. Es gibt einen mürrischen Sheriff und einen ungarischen Schuhmacher, dessen Geschäft erst von einem Türken, dann von einem Elsässer übernommen wird. Einige der älteren Bewohner der Straße haben Holocaust-Überlebensgeschichten. Alle Personen tragen mehr oder weniger schweres biographisches Gepäck, in das hier und da erhellende Blicke fallen. Manchmal aber geschieht das jedoch nicht. Dann endet der Erzählstrang unvermittelt.

Dem Gesetz der Chronik folgend erzählt Honigmann eine zurückliegende Geschichte und informiert dabei unterhaltsam über Menschen. Die Zeit ist der eigentliche Impuls dieses Erzählens, die Autorin gibt Auskunft darüber, woher sie und die Bewohner der Straße kommen, was sie erlebt haben und was sie gerade tun. Es ist darin eine recht repräsentative Chronik, denn Barbara Honigmann hat schon bei ihrem Wegzug aus der DDR, 1984, ein klares Bekenntnis zu den jüdischen Wurzeln ihrer Familiengeschichte abgelegt. Unter den orthodoxen und säkularisierten Juden Straßburgs nimmt sie eine Position des „kosher light“ ein, wie sie sagt. Sie pflegt die jüdischen Traditionen, allerdings nicht nach strengsten Maßstäben und immer in Vermittlung mit der Moderne.

Ein Beispiel ist das Laubhüttenfest, das traditionell im Herbst zelebriert wird, in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Dieses Fest wird im Innenhof gefeiert: in einem „Kit“, das den rabbinischen Vorschriften ebenso wie den praktischen Erfordernissen entspricht. Die Zeltmaterialien sind leicht, solide, wasserabweisend und einfach ineinanderzustecken. Das Dach ist aus Bambus, es zeigt, so heißt es, wie „unbehaust und ungeschützt wir auf dieser Welt wohnen und wie löchrig unsere Leben sind“. Die Moderne zieht in die Tradition ein, ohne sie loszuwerden. Natürlich geht das nicht ohne Konflikte ab: Studenten warfen schon einmal Zigarettenkippen und Flaschen auf die Sukke, andere Nachbarn beschwerten sich wegen nächtlicher Ruhestörung. Und wenn die Polizisten kommen und „tatsächlich eine Verwarnung aussprechen, verbunden mit der Auflage, daß diese Konstruktion, diese Hütte, zu verschwinden habe, und zwar innerhalb einer Frist von acht Tagen“, löst das „bei allen Anhängern des achttägigen Festes jedesmal große Heiterkeit und schallendes Gelächter“ aus.

Honigmann stellt in der „Chronik“ abermals unter Beweis, dass sie an den Eigenarten ihres Schreibens wahrgenommen werden sollte, am lebensprallen und humorvollen Erzählen von Lebensgeschichtsfragmenten der europäischen Juden. In den besten Episoden erinnern diese Geschichten an Walter Benjamins „Kindheit um 1900“: enthusiastische Denkfiguren und „Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen“. Durch diese Tür gelangt man leichtfüßig zum modernen Schicksal von jüdischer Interkulturalität.

Titelbild

Barbara Honigmann: Chronik meiner Straße.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
152 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783446247628

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