Literatur für Menschen in einem unterentwickelten Land

Zur Neuedition zweier Arbeiten Christian Geisslers

Von Britta CaspersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Caspers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Neuedition von Christian Geisslers Schlachtvieh/Kalte Zeiten liegt nun bereits der zweite Band der im Berliner Verbrecher Verlag erscheinenden Werkausgabe des Autors vor. Der erste Band, Geisslers zum ersten Mal 1976 veröffentlichter Roman Wird Zeit, daß wir leben, erschien 2013; beiden Bänden ist ein ausführliches Nachwort beigegeben. Der den Band Schlachtvieh/Kalte Zeiten begleitende Essay, verfasst von Michael Töteberg, gibt nicht nur über die Fernsehspiele und Dokumentarfilme Geisslers Auskunft, sondern leistet weit mehr. Töteberg erhellt mit seinem Beitrag zu diesem Band auf äußerst lesenswerte Weise die Entwicklungsgeschichte von Geisslers Werk (die zudem in eine kleine Mediengeschichte des Fernsehens eingebettet ist) vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen Geschichte des geteilten Deutschland zur Zeit der späten Ära Adenauer.

Parallel zur TV-Ausstrahlung des Fernsehspiels erschien das Drehbuch zu Schlachtvieh erstmals 1963. Der Text legt parabelhaft gesellschaftliche Strukturen frei, die auf alles andere als eine ‚Nachkriegszeit‘ verweisen. Schlachtvieh – darin thematisch Geisslers erstem Roman Anfrage (1960) verwandt – zeigt die gesellschaftlichen und individuellen Nachwirkungen unverarbeiteter Kriegserfahrungen und thematisiert „Verdrängung und Schuldabwehr als stillschweigenden gesellschaftlichen Konsens“ (Töteberg), die ihren Ausdruck in unverhohlenen Ressentiments und Aggressionen finden. In hohem Grade widersprüchlich wird in dieser Gesellschaft einerseits die „Lebensform freier Menschen“ proklamiert, während gleichzeitig Instruktionen für den Fall eines Atomkriegs an die Bevölkerung ausgegeben werden. Mit solcherlei disparatem Material spielt der Autor, er montiert Zitate aus politischen Slogans, Parolen und Werbung. Auf die kurzen Szenen, die dem Kammerspiel im Fernzug vorgeschaltet sind, folgt im Film die subversive Botschaft: „Fernsehspiel für Menschen in einem unterentwickelten Land“.

Die Handlung ist rasch erzählt: Eine Gruppe von Reisenden sowie das Personal befinden sich in einem Zug, in dem rätselhafte Machenschaften im Gange sind; die hinteren Abteile sind verschlossen, die Fenster lassen sich nicht öffnen, das Telefon funktioniert ebenso wenig wie die Notbremse. Eine grotesk-bedrohliche Durchsage gibt Anweisungen für die „Aktion Friedenskrieg“. Das eigentliche Thema aber sind die Reaktionen der Reisenden und des ebenso unwissenden Zugpersonals. Eine kleine Gruppe sondert sich ab und will den Dingen auf den Grund gehen, allen voran das Schreibabteilmädchen, das aller zunächst beschwichtigenden, dann drohenden Gebärde trotzt und sich gerade darin als äußerst verdächtig erweist. Das schreckensvolle Ende ereignet sich jedoch nicht in der Zukunft – es hat sich längst ereignet. Etwas hat sich eingenistet im gesellschaftlichen Bewusstsein; im Bewusstsein von Menschen, die sich treu von der Obrigkeit, sei es Staat oder Kirche, täuschen und korrumpieren lassen – Metzger und Schlachtvieh zugleich.

Die scharfe Moralkritik an der Nachkriegsgesellschaft, die Geissler in seinem Drehbuch formuliert und die von Egon Monk für den NDR filmisch umgesetzt wurde, erweist sich als durchaus treffend. So zeigen die von Töteberg für sein Nachwort zusammengetragenen, nicht selten geradezu erbosten Reaktionen auf die TV-Ausstrahlung von Schlachtvieh, dass Geissler als Autor des Stücks ebenso zum Opfer von Kommunismus-Verdacht und Denunziation wird wie diejenigen Figuren des Films, die ihre fundamentale Skepsis gegenüber der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung äußern und gegen deren Aufforderung zu kritischer Wachsamkeit sich die übrigen Figuren des Stücks durch solcherlei Denunziation abzuschirmen hoffen.

1964, ein Jahr nach dem Fernsehspiel Schlachtvieh, realisierte Monk auf der Grundlage eines Drehbuchs von Geissler das im Stil eines Dokumentarfilms gedrehte Stück Wilhelmsburger Freitag. Geschildert wird ein Tag im Leben eines jungen Hamburger Arbeiterehepaares. Dieser „erste bundesdeutsche Arbeiterfilm“ (Knut Hickethier) zeigt – ohne Anklage, ohne Illusionen von Seiten des Autors –, dass die Arbeiterklasse als Subjekt gesellschaftlicher Veränderung in der Zeit des ‚Wirtschaftswunders‘ zum Schweigen gebracht worden und von Wohlstandsversprechen korrumpiert ist. Das Thema des Stückes sei für ihn von so großer Bedeutung gewesen, so Geissler, dass er es noch einmal in narrativer Form habe bearbeiten müssen, woraus dann die Erzählung Kalte Zeiten entstanden ist.

Der literarisch-politischen Programmatik der Dortmunder Gruppe 61 (der Autoren wie Max von der Grün, Erika Runge und Günter Wallraff angehörten), die darauf abzielte, die sich verändernden Bedingungen der Arbeitswelt, die soziale Lage und das Bewusstsein der Arbeiter zu erkunden, verschreibt sich auch Geissler mit seiner Erzählung Kalte Zeiten. Auch hier ist die Handlung rasch mitgeteilt: Der junge Baggerführer Jan Ahlers und seine Ehefrau Renate sind dabei, sich in der gemeinsamen Wohnung und dem gemeinsamen Leben einzurichten, hin und her gerissen zwischen Wünschen und Träumen und einer realistisch erwartbaren Zukunft. Während er arbeitet und am Abend noch eine Sonderschicht für den kumpelhaften Chef einlegt, durchstreift sie die Stadt, vom weniger feinen Stadtteil Wilhelmsburg bis zur feineren Gegend an der Alster und weiter zum Hafen.

Mit der Thematisierung von konsumorientierten und (daher) entfremdeten Lebensverhältnissen sowie der daraus erwachsenden sozialen und finanziellen Abhängigkeiten (die Wohnung gehört dem Chef, und der Wagen hat zwar Macken, ist aber noch nicht abbezahlt), die zu einer resignativen Grundhaltung der beiden Protagonisten führen, erinnert Kalte Zeiten bisweilen an Rolf Dieter Brinkmanns 1968 erschienenen Roman Keiner weiß mehr. Auch Kalte Zeiten ist die literarische Gestaltung eines Bewusstseinsstroms der Protagonisten, der mitunter allerdings auch das erfasst, was ihnen selbst verborgen bleibt und allerhöchstens ausagiert wird. Dabei wechseln eine objektive und eine subjektive Optik, die distanziert-dokumentierende Erzählerrede und das Abbilden innerer Vorgänge und Verwerfungen.

Während Renate Ahlers die Stadt erkundet, fällt ihr Blick auf Mütter und Kinder (und darauf, wie Mütter Kinder erziehen). Sie registriert Verhaltensmuster und Lebensäußerungen einer Warengesellschaft, deren wahre Bedingungen nicht durchschaut werden; sie registriert die Fetischisierung der Ware und des Eigentums, die einhergeht mit der Entfaltung des repressiven Charakters beider. Was durch die subjektive Optik Renate Ahlers’ in den Blick gerückt wird, ist nicht die Produktion von Waren, sondern von Ideologie, die die gegebenen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Bewusstsein der Menschen nicht nur widerspiegelt, sondern sie zugleich darin verankert.

Das Drehbuch zu Schlachtvieh wie auch die Erzählung Kalte Zeiten machen deutlich, wie stark sich vermeintlich formale oder gestalterische Prinzipien, wie das der Montage von Diskursmaterial, die literarische Gestaltung innerer Vorgänge oder die literarische Adaption filmischer Techniken im Sinne einer Momentaufnahme der allgemeinen Bewusstseinslage der Zeit als eminent politische Mittel der Darstellung erweisen. Von heute aus betrachtet weisen sich die Texte daher nicht zuletzt als ein Archiv von Diskursmaterial aus – was keineswegs bedeutet, dass sie ihre Aktualität und Dringlichkeit eingebüßt haben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christian Geissler: Schlachtvieh. Kalte Zeiten.
Mit einem Nachwort von Michael Töteberg.
Verbrecher Verlag, Berlin 2014.
247 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320162

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