Ein überschaubarer Forschungsertrag
Nach über vierzig Jahren erscheint die Neufassung des text + kritik-Hefts zu Wolfgang Koeppen
Von Jürgen Egyptien
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs hat sehr lange gedauert, bis sich die Redaktion von text + kritik dazu durchgerungen hat, eine Neufassung des Heftes 34 über Wolfgang Koeppen herauszubringen. Der schmale Band war 1972 erschienen und seit Anfang der 90er Jahre vergriffen.
Für die Neuausgabe vom Dezember 2014 firmieren Eckhard Schumacher und Katharina Krüger als Gastherausgeber. Sie gehören zusammen mit Elisabetta Mengaldo zu den Beiträgern aus dem Greifswalder Team, das in einem DFG-Projekt aus dem dort befindlichen Nachlass eine textgenetische Untersuchung, Digitalisierung und Edition von Koeppens Jugend erarbeitet. Die Neufassung des text + kritik-Bands wurde in diesem Rahmen realisiert. Unter den übrigen Beiträgern sind mit Walter Erhart und Hans-Ulrich Treichel Verfasser einschlägiger Monographien zu Koeppen und Herausgeber der Werkausgabe vertreten.
Erhart trägt in seinem Aufsatz „Der ungeschriebene Roman“ noch einmal die These aus seiner 2012 veröffentlichten Studie Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur vor, die Koeppens Jahrzehnte langes vergebliches Ringen um ‚das große Buch’ aus einer inneren Aporie von Koeppens Erzählprojekt herleitet. Erhart zufolge musste Koeppen an der Inkompatibilität seiner beiden Erzählintentionen scheitern. Sein als Familien- und Generationenroman angelegtes großes Epos sollte „aus der unmittelbar und ‚modernistisch’ erzählten Innenperspektive der Figuren einerseits, mit Blick auf ihre von einem Erzähler präsentierten, jeweils mit historischen Daten, Orten und Ereignissen versehenen biografischen Geschichten andererseits“ entwickelt werden. Diese beiden Erzählintentionen sieht Erhart in einem unauflösbaren Konflikt, der zugleich derjenige der avanciertesten Verfahren zur literarischen Gestaltung der Pathologien des 20. Jahrhunderts sei. Der Versuch der Verbindung „einer narrativ und historiografisch motivierten, biografisch angelegten Geschichte mit der unmittelbaren Bewusstseinsebene“ münde jedoch unausweichlich in eine Selbstblockade. An Koeppens Scheitern lasse sich ablesen, dass die Literatur, so Erharts Schluss, mit der Beschreibung des Jahrhunderts und seinen Pathologien nicht fertig geworden sei.
Hans-Ulrich Treichel dokumentiert in seinem Beitrag „Koeppen und die Dekadenz“ die literaturkritische Rezeption von Der Tod in Rom in der DDR in den 50er Jahren, wobei er auch Verlagsgutachten einbezieht. Bemerkenswert ist, dass Der Tod in Rom der einzige Roman der Trilogie ist, der 1956 überhaupt zeitnah zur westdeutschen Ausgabe (1954) in der DDR erscheinen konnte. Der Mitteldeutsche Verlag wollte zwar auch Tauben im Gras und Das Treibhaus veröffentlichen, erhielt aber für beide keine Druckgenehmigung. Sie erschienen erst 1983 im Rahmen einer Ausgabe der Trilogie in einem Band. Auch die Druckgenehmigung für Der Tod in Rom hing am seidenen Faden, da das Gutachten des Zensors ambivalent war. Letztlich war wohl die abstoßend gezeichnete Gestalt des ehemaligen SS-Generals Judejahn entscheidend, die man strategisch für den Kampf gegen die restaurativen Kräfte in der BRD ausschlachten zu können glaubte. Dafür spricht Treichels Befund, dass Judejahn etwa im Klappentext der DDR-Ausgabe zur Hauptfigur des Romans erklärt wurde. Diese Instrumentalisierung wurde allerdings von anderen DDR-Literaturfunktionären unterminiert, denen die Symptome von ‚Dekadenz und Fäulnis’ – womit im Wesentlichen die Darstellung von Sexualität gemeint war – gewichtiger zu sein schienen als Koeppens nützlicher, aber perspektivloser Protest gegen Restauration und Faschismus. Ein hübsches Detail in Treichels Aufsatz ist der Fund eines ‚Chansons’ des Parteibarden Helmut Preißler, in dem er sich über „den perversen ‚Tod in Rom’“ mokiert.
Der m. E. interessanteste Beitrag in diesem Band ist derjenige von Jörg Schuster. Er verfolgt die Kontinuität experimenteller Schreibweisen „Vom Magischen Realismus der 1930er Jahre zur Nachkriegsmoderne“ und stellt Koeppen in den Kontext dieses Prozesses. Als Aufhänger wählt Schuster Koeppens Erzählung Die Verlobung, die am Neujahrstag 1941 in der Kölnischen Zeitung erschien. Er fokussiert sich dabei auf den intermedialen Aspekt, der an der Funktion einer Fotografie greifbar wird. Sie diene als ‚gefrorener Augenblick’, dessen Betrachtung dem Protagonisten eine „ekstatische, magisch-visionäre Erfahrung“ vermittle. Schuster sieht darin ein erzählerisches Verfahren, das exakt die „Verknüpfung von optischer Medientechnik und Magie“ umsetze, die Martin Raschke in seiner Vorbemerkung zur ersten Nummer der Zeitschrift Kolonne als ein zentrales Merkmal des Magischen Realismus benannt habe. Koeppen praktiziere mit dem „Kippen von der genauen Beschreibung einer optischen Irritation ins Magisch-Unheimliche und Mythische ein spezifisch magisch-realistisches Verfahren.“ Der Befund einer „semiotisch-imaginativen Aufladung im Zeichen des Magisch-Diffusen“ in Koeppens Erzählung gelte ebenso für seinen Roman Die Mauer schwankt (1935), dessen „kaleidoskopartig simultane Handlungen“ der Herstellung einer magischen „Einheit des Heterogenen“ dienten. Diese suggestiv-irrationale Evokation von Ganzheit werde in Tauben im Gras (1951) in eine „die Materialität der Sprache ausstellende Verknüpfung von Textsequenzen“ transformiert. An die Stelle einer „Allverbundenheit im Zeichen des Magischen“ trete unter medialem Aspekt in Tauben im Gras das unverständliche Lautrauschen, in dem jede Sinnstiftung oder magische Suggestion zurückgenommen werde. Schuster macht zu Recht auf eine „Tradition moderner, partiell intermedialer Formexperimente“ aufmerksam, die die monoperspektivische Rückbindung von Koeppens Stil an den modernistischen angloamerikanischen Roman produktiv ergänzt. Verzichtbar erscheint mir an seiner Darlegung nur die (ab-)wertende Qualifizierung der magisch-realistischen Techniken als diffus und irrational.
Eine andere literaturhistorische Verknüpfung stellt Elisabetta Mengaldo in ihrem Aufsatz „Nutzlose, obsolet gewordene Dinge in Wolfgang Koeppens ‚Jugend’“ her. Sie sieht Koeppens literarischen Umgang mit Dingen und Gegenständen vom nouveau roman beeinflusst. In ihrem Text spielt das allerdings im Weiteren keine Rolle mehr. Sie schreibt stattdessen im Anschluss an Francesco Orlando den nutzlos gewordenen Dingen eine subversive Funktion zu, die dem Erzähler „einen Spielraum für das Andere“ eröffne. Damit gewönnen die nutzlosen Dinge nach dem Verlust ihres Gebrauchswerts „für die Ökonomie des Textes zentrale Sinnhaftigkeit.“
Eckhard Schumacher beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit dem Venedig-Komplex in Koeppens Reisetexten und bezieht dabei auch ungedrucktes Nachlassmaterial ein. Die von Koeppen betonte Außenperspektive relativiert er durch den Hinweis, dass etwa in Ein Tag in Venedig der autornahe Erzähler mit der Rolle des Touristen in der ganzen Bandbreite von kulturkritischer Distanzierung bis zur Identifizierung spielerisch umgehe. Schumacher zeigt die Prägekraft von Koeppens erster Venedig-Reise im Jahr 1934 und betont im Übrigen, wie stark sein Blick auf Venedig literarisch präformiert gewesen sei. In diesem Kontext überrascht es, dass er mit keinem Wort auf Thomas Manns Tod in Venedig eingeht, der in den meisten Venedig-Texten von Koeppen als konstitutiver Subtext fungiert.
In einem weiteren Beitrag zeichnet Christian Winter die strategische Funktion nach, die Koeppens Werk für Reich-Ranicki bei dem Versuch erfüllte, eine engagierte, zeitkritische Literatur durchzusetzen. Dieser Funktion verdankte Koeppen die nachhaltige Förderung durch Reich-Ranicki, die ihm einige Preise eintrug. Hier hätte man sich einen kritischen Kommentar zu Reich-Ranickis reduktionistischem Literaturbegriff gewünscht.
Quellenorientiert sind die Beiträge von Katharina Krüger, die einen erstpublizierten Brief von Koeppen an Enzensberger zum Anlass nimmt, eine Momentaufnahme des Briefschreibers Koeppen Ende 1965 zu machen und hier eine Kontinuität des Erzählens erkennt, und von Raimund Fellinger, der nach dem Motiv für Siegfried Unselds Treue gegenüber seinem Problemkind Koeppen fragt und es in Freundschaft zu finden glaubt.
Ein Beitrag von Jürgen Klein über Moderne und Intertextualität in Tauben im Gras, der sich in allgemeiner Form auf Joyce und Dos Passos beschränkt, sowie eine Bibliographie und eine Lebenschronik komplettieren den Band, der insgesamt einen überschaubaren Forschungsertrag abwirft.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen