Großes Buch mangelhaft neu übersetzt
Selma Lagerlöfs wunderbare Reise durch ein sagenreiches Land
Von Volker Heigenmooser
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs hat unzählige Auflagen erlebt, viele davon in zweifelhaften gekürzten und nacherzählten Ausgaben: Selma Lagerlöfs großartiges Buch „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“. Hermann Hesse schreibt über die Werke der Schwedin zutreffend charakterisierend, sie „sind so voll von rein menschlichem Wert, so voll Wärme, Tiefe, Herzlichkeit und lauterem Gefühl, daß man beim Lesen, wenigstens beim erstmaligen Lesen, gar nicht daran denkt, ihren literarischen Qualitäten die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Erst nachträglich merkt man dann, wieviel erstaunliche Kunst dahinter steckt.“ Diese Zuschreibungen gelten auch für Nils Holgersson. Deshalb war es mehr als gerechtfertigt, dieses 1906/07 erstmals in Schweden und 1907 in Deutschland erschienene Werk neu ins Deutsche zu übersetzen. Doch die neue Übersetzung Thomas Steinfelds ist leider nicht empfehlenswert.
Nils Holgersson ist ein Auftragswerk, mit dem schwedischen Schulkindern die Geografie und Geschichte ihres Landes nahegebracht werden sollte. Selma Lagerlöf, die gelernte Lehrerin war, nahm sich dieser Aufgabe mit Ernst und beeindruckender Kreativität an und schuf die Figur des vierzehnjährigen Nils Holgersson, der, nachdem er einen Wichtel beleidigt hatte, selbst in einen Wicht verwandelt wurde. Als solcher begleitet er zusammen mit einem Hausgänserich die Wildgänse auf ihrer Reise vom südschwedischen Schonen ins nordschwedische Lappland und zurück. So vielfältig wie die Landschaften in dem rund 1500 km langen Land sind, so vielfältig sind auch die literarischen Mittel, die Selma Lagerlöf einsetzt: Von der traditionellen Landschaftsbeschreibung über Traumsequenzen, Sagen, mythische Erzählungen bis hin zur Verwendung geradezu filmischer Techniken und der Thematisierung des eigenen Schreibens. Es sind viele einzelne, im Grunde in sich abgeschlossene Episoden, die allein von der Figur des Nils Holgersson und seiner Reise durch Schweden zusammengehalten werden. Das Ganze ist so kunstvoll gemacht, dass es auch heute noch großen Spaß bereitet, dieses dickleibige und kluge Buch zu lesen. Und es stimmt, was Hermann Hesse geschrieben hat: Da es „voll Wärme, Tiefe, Herzlichkeit und lauterem Gefühl ist“, wird man durch die Lektüre selbst heiter und gut gelaunt. Dabei werden traurige Geschichten nicht ausgespart. So wird zum Beispiel ganz ungerührt beschrieben, dass es zwischen Adlern und Wildgänsen an deren Brutplatz in Lappland eine Art Übereinkommen gibt, wonach die Adler gelegentlich auch Junggänse schlagen und erbeuten dürfen, wie es eben ihre Art ist. Auch geht die Geschichte des kleinen Mats, der bei einer Sprengung im Bergwerk von Steinen getroffen wird, sehr traurig aus.
Obwohl die bitteren Seiten des Lebens also nicht ausgespart werden, hat das Bild, das Lagerlöf von Schweden am Beginn des 20. Jahrhunderts malt, eher helle und lichte Farben. Eindringlich mahnt die Literaturnobelpreisträgerin von 1909, mit Land und Natur pfleglich umzugehen, weil sonst die Lebensgrundlagen des Menschen verloren gehen könnten:
„Auch dort, wo der Wald nicht ganz zerstört wurde, fällte man die alten Bäume und durchschlug das bisher undurchdringliche Dickicht. Überall wurden Straßen gezogen, wilde Tiere und Räuber wurden verjagt. Und als die Menschen schließlich Herren über den Wald geworden waren, gingen sie furchtbar schlecht mit ihm um: Sie fällten und brannten und kohlten in einem fort. Den alten Haß auf den Wald hatten sie nicht vergessen, und nun schienen sie entschlossen, ihn zu vernichten.“
Als Nils Holgersson schließlich wieder in sein Elternhaus zurückkehrt, sagt die alte, weise Leitgans Akka, seine lange Reise resümierend, zum Abschied zu ihm: „Wenn du etwas Gutes bei uns gelernt hast, Däumling, dann vielleicht dies: daß du nicht meinst, die Menschen sollten die Erde allein bewohnen.“
Und damit wären wir mitten in der Übersetzungskritik. Zum Vergleich dieses essentiellen Satzes seien drei andere ernsthafte Übersetzungen zitiert: Pauline Klaiber-Gottschau, die die erste Übersetzung nach dem Manuskript angefertigt hat, übersetzt 1907 folgendermaßen: „Wenn du etwas Gutes gelernt hast, Däumling, dann bist du vielleicht jetzt nicht mehr der Ansicht, daß die Menschen allein auf der Welt herrschen sollten.“ Mathilde Mann, die wahrscheinlich unter Zuhilfenahme der dänischen Ausgabe übersetzt hat, schreibt: „Wenn du etwas Gutes bei uns gelernt hast, Däumling, so findest du am Ende nicht mehr, daß die Menschen allein die Erde besitzen sollen.“ Und in der Übersetzung von Angelika Kutsch aus dem Jahr 1991 heißt es: „Wenn du etwas Gutes bei uns gelernt hast, Däumeling, dann bist du wohl nicht mehr der Meinung, dass die Menschen die Erde für sich allein haben sollten.“ Die vier Varianten ein und desselben Satzes zeigen deutlich, was Übersetzung immer ist: Interpretation. Wenn sie eine gute Interpretation ist, hat sie sich mit der Kulturalität des Ausgangstexts eingehend beschäftigt und nach Möglichkeit auch den Subtext erfasst. Dies gilt für Steinfelds Übersetzung nur eingeschränkt. Dabei ist die Botschaft dieses zentralen Satzes eindeutig nicht nur die, dass Nils Holgersson nach seiner halbjährigen Reise durch Schweden erfahren haben sollte, allein auf der Welt zu wohnen. Das wäre zu banal. Sondern es geht darum, dass der Mensch die Erde nicht für sich allein haben sollte, wie es in der Version von Angelika Kutsch viel treffender übersetzt wird.
Thomas Steinfeld ist im Hauptberuf Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in Italien, zuvor war er Literaturverantwortlicher und dann Ko-Redaktionsleiter des Feuilletons derselben Zeitung. Zwar schreibt er seit einigen Jahren auch über Themen aus Schweden, doch als Übersetzer der Literatur dieses Landes ist er bisher noch nicht hervorgetreten. Es nimmt folglich nicht wunder, dass er mit der Übersetzung von Selma Lagerlöfs opulentem und sehr anspruchsvollem Werk erkennbar überfordert war. Natürlich sagt es auch etwas über die Wertschätzung des Verlags gegenüber der Leistung von Übersetzerinnen und Übersetzern aus, wenn ein so bedeutendes Werk wie Lagerlöfs Nils Holgersson einem Anfänger überlassen wird. Denn hätte der Verlag diese Aufgabe einem erfahrenen Übersetzer anvertraut, wären viele Ungenauigkeiten und auch Übersetzungsfehler zu vermeiden gewesen.
Das beginnt schon auf der ersten Seite, wo Steinfeld schreibt, „daß Vater und Mutter beide fortgingen“. Warum, fragt sich der Leser, steht hier „beide“? Weil es im Schwedischen da steht? Im Deutschen ist es jedenfalls ganz und gar entbehrlich. Klaiber-Gottschau und Kutsch verzichten denn auch richtigerweise darauf. Steinfeld hat große Mühe, die Distanz zwischen Ausgangs- und Zielsprache zu überwinden, was nicht nur gelegentlich zu schrägen Formulierungen im Deutschen führt. Nachdem Nils Holgersson in einen Wicht verwandelt wurde, versteht er auch die Sprache der Tiere, die sich über den Jungen, der sie als Mensch malträtiert hat, lustig machen. Im Schwedischen ruft ein Spatz „Tititt“, so auch bei Steinfeld. Angelika Kutsch übersetzt hier viel überzeugender: „Guguck“, denn im dem „tititt“ steckt unverkennbar das schwedische Verb ‚titta‘, zu Deutsch ‚schauen‘. Dann kommen die Hühner und gackern bei Steinfeld wie im Schwedischen „ka, ka, ka“, bei Kutsch hingegen zutreffend „gack, gack, gack“.
Gerade weil das Schwedische und das Deutsche verwandte Sprachen sind, ist die Gefahr von falschen Freunden groß, vor allem auch die Gefahr, im Schwedischen gängige Satzkonstruktionen im Deutsche nachzubilden, was dann oft behäbig, gestelzt oder umständlich klingt. So heißt es, als sich Nils vor den Spiegel stellt und hofft, dass der Spuk der Verzauberung schnell vorbei sein werde, bei Steinfeld fast wie im Bürokratendeutsch: „Aber das war nicht der Fall, vielmehr war und blieb er genauso klein.“ Auch „beginnt“ im Schwedischen oft eine Handlung, die im Deutschen einfach stattfinden kann, ohne dass ihr Beginn extra hervorgehoben und der Satz unnötig aufgebläht werden muss. In Steinfelds Übersetzung kann man sicher sein, dass er derartige Aufplustereien nicht auslässt. Ein typischer Anfängerfehler ist die nicht leichte Unterscheidung von Maus und Ratte, kann mit dem schwedischen „råtta“ im Deutschen doch sowohl eine Ratte als auch eine Maus gemeint sein. Wenn der in einen Wicht verwandelte Nils Holgersson also in seinem Elternhaus nach dem Wichtel sucht, der ihn verzaubert hat, und dabei hinter Stühle und Schränke sowie in einige „råtthål“ schaut, dann sind das in dem ordentlichen Elternhaus des kleinen Nils ganz bestimmt keine „Rattenlöcher“, sondern Mauselöcher, was alle bisherigen Übersetzerinnen des Werks wussten, Steinfeld aber nicht – ganz davon abgesehen, dass Rattenlöcher im Deutschen eher eine andere Konnotation haben, als die Zugänge zu den Behausungen der entsprechenden Tiere zu bezeichnen.
Zu den Selbstverständlichkeiten einer guten Übersetzung gehört, dass eine einmal für ein Ding oder einen Sachverhalt gefundene Bezeichnung möglichst den ganzen Text über beibehalten wird, wenn der Ausgangstext es verlangt. Auch da ist Steinfeld unsicher, nicht nur über weite Strecken, sondern selbst auf ein und derselben Seite, so zum Beispiel, wenn die Katze den kleinen Nils anspringt und ihn an der Kehle packt, was dreimal hintereinander genannt wird. Man darf sicher sein, dass Lagerlöf diesen dramatischen Effekt bewusst gesetzt hat. Steinfeld entdramatisiert ihn, indem er aus einer der dreimal genannten Kehlen verharmlosend einen Hals macht.
An Details möge dies nun genügen, doch sei noch auf eine besondere Groteske hingewiesen: Steinfeld schreibt in seinem Nachwort über die Übersetzungen vor der seinen, dass diese Übersetzungsfehler aufwiesen und nennt dafür auch ein Beispiel. Alle seine Vorgängerinnen und Vorgänger hätten die Phrase „opp och ner“ falsch mit „auf und ab“ beziehungsweise „auf und nieder“ übersetzt. Dabei müsse es bei dem spöttischen Zuruf eines anderen Vogels zu den im dichten Nebel umherirrenden Gänsen heißen, dass sie „auf dem Rücken flögen“. Abgesehen davon, dass man darüber streiten kann, ob diese Phrase an der Stelle tatsächlich so übersetzt werden muss, lautet sie in Steinfelds Übersetzung erstaunlicherweise: „Seht ihr nicht, daß ihr kopfüber fliegt?“ Da erweist sich jemand wahrlich als genauer Textarbeiter. Und leider hat auch im Lektorat derlei Unstimmigkeiten offensichtlich niemand bemerkt.
Nicht nur in den Details, sondern auch insgesamt in Stil und Ton hat Thomas Steinfeld keine gute Übersetzung von „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“ vorgelegt. Dieses großartige und bedeutende Werk Selma Lagerlöfs hätte jedoch eine solche verdient. Abschließend sei deshalb die Frage erlaubt, wie diese alles in allem und im Detail mangelhafte Übersetzung auf die Shortlist zum Leipziger Buchpreis gelangen konnte.
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