Einen Menschen aus Texten entstehen lassen

Der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Gershom Sholem

Von Thomas MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum etwas zeigt deutlicher die vollständige Ermüdung der deutschen „Debattenkultur“ an, als der ausgebliebene Streit um den Briefwechsel zwischen Theodor Wiesengrund Adorno und Gershom Scholem. Beide wollten sich, auf sehr unterschiedliche Weise, nicht arrangieren. Nicht mit den Zeitläuften, nicht mit den Zeitgenossen, nicht mit Freunden, von Feinden nicht zu sprechen, standen sie auf einem gemeinsamen Boden – der musste immer erst und immer wieder gefunden werden. Auf das Biegen konnte dabei das Brechen folgen, so im Falle des großen Ringens zwischen Hannah Arendt und Scholem. Und das Gebrochene, die Beziehung mit den Deutschen, bedurfte einer genauen Untersuchung der Motive, die diejenigen ins Feld zu führen hatten, die aus dem Brechen ein Vernichten gemacht hatten. Adorno blieb hier ambivalent, während Scholems intellektuelle Statur es ihm ermöglichte, hierbei unzweifelhaft Ja oder Nein zu sagen.

Nun hat sich Lorenz Jäger in der FAZ aufgerafft, doch einen kleinen Streit anzuzetteln. In seiner Besprechung der Korrespondenz sah er zwar gemeinsam mit Jürgen Habermas, der sie in der ZEIT rezensiert hatte, das Umschlagen von Mystik in Aufklärung als zentralen gemeinsamen Punkt der Briefpartner. Bei Habermas wurde die Behauptung noch ausgebaut durch die Konstatierung einer angeblichen Abwesenheit von Nietzsche und Nietzscheanismus. Letzteres ist schon am bloßen Textbestand leicht zu widerlegen. Herbert Koop-Oberstebrink hat das in einem sehr schönen Aufsatz vor vielen Jahren zeigen können. Die deutlich vernehmbaren Denkmotive des jungen Nietzsche – Scholem hat das zwischen 1914 und 1918 Gelesene nie durch die Lektüre des Nachlasses oder des späten Nietzsche ergänzt – lassen sich bis ins Spätwerk klar verfolgen. Bis zum Schluss lässt sich in den Nietzsche-Bezügen die Auseinandersetzung mit den diversen zionistischen Nietzsche-Bildern nachvollziehen. Jäger hingegen will gegen den von Habermas präsentierten, auf Rationalitätsstandards pochenden Scholem denjenigen ins Feld führen, der sich mit den Häretikern des Judentums beschäftigte, bis hin zu völligen Überschreitungen von dessen Traditionen und traditionellen Grenzen. Das ist schon deshalb die falsche Oppositionsbildung, weil der Ausgangspunkt falsch markiert ist. Dass da ein Mystik-Aufklärungs-Modell überhaupt gegriffen haben könnte, das dann destruiert werden müsste, zeigt, wie wenig man inzwischen bereit ist, Scholems Vorhaben aus der genauen Beobachtung und Negierung solcher Begrifflichkeiten heraus zu erklären.

Von den frühen und scharfen Texten in der „Jüdischen Rundschau“ und den ersten Kabbala-Studien an, hat Scholem konsequent – exoterisch und esoterisch, wie Daniel Weidner in einem wichtigen Buch nachwies – sich um alles das, was irgendwie in historisch säkularen Kategorien oder in  neukantianischen Geltungsmodellen rekonstruiert werden könnte, vehement abgelehnt. Seine Entscheidung für Symbol-Theorien unterlief von Beginn an die Idee, das Zugeständnis an die existierende Welt könne durch die Auflösung von bipolaren Konstellationen bewerkstelligt werden. Wenn immer Symbole im Spiel sind, ist zwar deren Vereindeutigung ein Ziel der Reflexion – die Kabbala aber weiß darum, dass hier nur Annäherungen zu erreichen sind. Die „Maulwurfsgänge“, in die Scholem stieg, hatten weder etwas mit der Bewegung von der Mystik hin zur Aufklärung, noch mit dem bloßen Willen zur Häresie zu tun. Da, wo Scholem grub und fündig wurde, ging es darum, das „Geheimnis“ zu schützen. – Darüber wäre dann zu streiten.

Als Theodor W. Adorno 1967 angefragt wurde, einen Artikel anlässlich von Gershom Scholems 70. Geburtstag zu schreiben, wandte er sich an den Jubilar in Jerusalem. Obwohl sie sich 1938 zum ersten Mal in New York getroffen hatten, nach 1945 einen immer vertrauensvolleren Briefwechsel führten, sich hin und wieder getroffen hatten und ihnen nichts weniger als die Rettung des Werkes und Andenkens ihres gemeinsamen Freundes Walter Benjamin gelungen war, schienen dem Philosophen und Soziologen seine Verstehensmöglichkeiten der jüdischen Mystik so sehr beschränkt, dass er sich Rat erbat. Es ging hierbei nicht um mangelndes oder bloß anderes Wissen. Sondern darum, dass sich Adorno die Erlaubnis für ein heikles Unterfangen geben lassen wollte, nämlich die in Texten leicht misslingende Verschränkung von authentischer persönlicher Nähe und intellektueller Redlichkeit gegenüber dem Werk eines Freundes. Das war nicht nur ein heikles, sondern auch ein herausforderndes Unterfangen, denn Bekenntnis und Distanz waren in Scholems Fall auf besondere Weise zu vermitteln. Gerade Letzteres aber hatte Adorno in der „Negativen Dialektik“ sich, der Philosophie und der Welt verboten; allenfalls im Spätwerk Beethovens wollte er die Möglichkeit von Vermittlung als solche gelten lassen. „Es kommt mir einfach nicht zu, etwas Verbindliches über Ihr Verbindliches zu sagen“, schrieb er nach Jerusalem.

Scholem wiederum öffnete in seiner Antwort Adorno die Tür, auf deren Existenz er die allerwenigsten in seinem Leben je hinwies. Er gab ihm Blick frei auf seine geistige Physiognomie – und das in einer Weise, die Adorno gefallen haben muss. Scholem verwies den Ratlosen darauf, dass ihm an der „dialektischen Betrachtung der religiösen Verhältnisse“ gelegen sei. Das war der Schlüssel zu der Pforte, den Adorno seit der ersten Begegnung bereits in der Hand hielt, und von dem er dem in Frankreich exilierten Walter Benjamin geschrieben hatte. In der Nähe des Mythos, der das Rationale nicht als Feind sehen muss, und in der Rede darüber, die das Gegenüber nie aufklären wird, ob Scholem daran glaubte, was er schrieb und sagte, vollzog sich die Aktualisierung der Tradition. Die Tradition wiederum war ein Konstrukt. Mehr noch, sie war nur im Plural denkbar, also war jeder, der sich einer der Traditionen zugehörig fühlte, dazu aufgefordert, seine Tradition als Beweis für die Mehrdeutigkeit des vermeintlich starren Monotheismus ins Spiel zu bringen. Und das glaubte Adorno in Umrissen in Scholems Person verschmolzen zu sehen, als er Benjamin von der ersten Begegnung berichtete.

Nun also, nach knapp dreißig Jahren, verstand Adorno, welchen Ausweg Scholem ihm weisen wollte. Denn Scholem wusste, dass der, der das Ungesagte verstand, nicht mehr lebte. Benjamin wäre ja der einzige gewesen, der Scholems geistige Physiognomie hätte erkennen können. Und Scholem war es, der später in der Publikation des Briefwechsels mit dem Freund und in einem Buch über ihn etwas Außerordentliches tat: einen Menschen aus Texten erstehen zu lassen. Nicht ohne Grund hatte Scholem in dem Brief an Adorno denn auch mit „G..olem“ unterzeichnet. An Benjamins Stelle also musste Adorno treten, auch deshalb, weil das Tischtuch mit Hannah Arendt durch die Reportage über den Eichmann-Prozess zerschnitten war. Die „dialektische Betrachtung der religiösen Verhältnisse“ folglich sollte Adorno den Lesern erklären. Das notwendige Ineinander von Mystik, Mythos und Erkenntnis, bei gleichzeitigem Insistieren darauf, dass es ein Geheimnis in der Welt gebe, nach dem zu fragen, wie der Midrasch wusste, unterbleiben musste. Das war es, wofür Scholem einstand. Scholem zudem stellte den äußerst seltenen Fall eines zugleich konservativen und ganz gegenwärtigen Menschen dar, der das Geheimnis besaß, leise fromm zu sein. Das gab ihm die Klarheit einer Welt gegenüber, die ihn und seinesgleichen auszulöschen sich angeschickt hatte. Eine Welt, von der Deutschland glaubte, es könnte sie beherrschen. Deshalb die Dialektik und deshalb zumindest bei Scholem die Aussicht auf Vermittlung. Dass Adorno all dies gelten lassen konnte und sich wie Scholem in den Erinnerungsdienst für Benjamin stellte, schärft beider Profil.

Und nur als solch von innen gestärkter Dialektiker konnte Scholem überhaupt wieder nach Deutschland kommen. Als er 1956 bei den Frankfurter Loeb-Lectures diesen Schritt wagte, da tat er es ganz mit der Autorität seines Werkes. Scholem bot nichts an, was den falschen Schein eines Gesprächs hätte erzeugen können. Die Person war nur Aussage. Adorno und einige wenige andere erhielten immerhin Zutritt zu diesem einmaligen Umgang mit Verlusterfahrung und der gelebten Verpflichtung, der Tradition ihr Anarchisches zu erhalten. Die Gewinn- und Verlustrechnung wurde der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht.

Und jetzt kann man, zu unserem Glück, all das nachlesen. Der junge Philosoph Asaf Angermann hat die Korrespondenz zwischen Adorno und Scholem herausgegeben, mit Hinweisen versehen und klug kommentiert. Zusammen mit den anderen Briefbänden der Adorno-Ausgabe, vor allem jenen mit Benjamin, Max Horkheimer und Siegfried Kracauer, dazu Scholems Austausch mit Benjamin und Hannah Arendt, können die Leser die komplexen intellektuellen Anlagen dieser Persönlichkeiten nachzeichnen, und auf die Werke übertragen. Sie werden dann erkennen, wie viel menschliches Vertrauen und Glück, radikale Einseitigkeit und scharfe Verwerfungen, gerade auch um Platz für andere zu schaffen, es bedurfte, um das von physischer Vernichtung bedrohte Band gespannt und fruchtbar zu halten.

Es ist die Abwesenheit Walter Benjamins, die Vieles von dem, was sich nach und nach ausfaltet, angestoßen hat. Am 8. November 1940 erhielt Gershom Scholem in Jerusalem einen Brief, der sein Leben verändern sollte. An diesem Tag erfuhr er durch Hannah Arendt, dass sich sein engster Freund Walter Benjamin am 26. September in Port Bou das Leben genommen hatte. Arendt schloss den Brief mit den Worten: „Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde.“ Arendt, die es mit ihrem Mann nach New York in die Freiheit retten konnte, bot den Anstoß für alles Weitere. Scholem schrieb sofort an Adorno und plante rasch und zielstrebig eine Ausgabe von Benjamins Schriften. Adorno antwortete zunächst, schwieg dann aber. Der so hoffnungsfroh begonnene Kontakt schien im Moment der ersten Bewährung zu versagen. Doch dann, Adorno war mit dem „Institut für Sozialforschung“ nach Frankfurt zurückgekehrt, gelingt nach und nach eine Zusammenarbeit. Es ist, wenn auch längst vielfach dokumentiert, immer wieder erstaunlich zu sehen, wie aus den zwischen Jerusalem und Frankfurt pendelnden Ideen schließlich Bücher werden.

Scholem ist dabei der natürliche Anführer. Anders als Adorno ist er sich seines Platzes in der Welt bewusst. Wenn immer Schwierigkeiten auftauchen oder Adorno bedroht wird, sei es tatsächlich durch Morddrohungen oder Freunde, die zu Feinden imaginiert werden, Scholem hebt ihn zurück in die tätige Verantwortung. Um das zu beglaubigen, kommt Scholem immer wieder und immer häufiger nach Europa. Zumeist von Zürich aus koordiniert er seine Pläne, begibt sich nach Berlin, Frankfurt, München, Göttingen. Über Adorno und die Editionsarbeit kommen Menschen wieder oder erstmals in seinen Blick, mit denen Scholem sprechen kann. Man höre etwa, wie Scholem dem Hessischen Rundfunk seinen Weg zur Kabbala erklärt. Es ist ganz und gar auch eine Rede über Deutschland.

Und dieses Deutschland ist denn auch stets mit aufgerufen, wenn Adorno und Scholem kommunizieren. Während es für den Remigranten Fluch und Segen zugleich ist, wieder dort zu sein, wo er die Muttersprache sprechen und tatsächlich wirken kann, bleibt Scholem mindestens „dialektisch“. Wie so häufig, so hat er auch das fast beiläufig einmal zusammengefasst. 1972, Adorno war bereits seit drei Jahren tot, erschien anlässlich von Benjamins 80. Geburtstag im Suhrkamp Verlag ein Band über dessen „Aktualität“. Scholem bemerkte darin, Marxisten läsen Benjamin nun „wie die Heilige Schrift“. Das ist immer als Spitze gegen die gelesen worden, die Jahre zuvor Adorno und Scholem scharf wegen deren Editionspraxis angegriffen hatten. Das mag sein, verfehlt aber trotzdem gänzlich den Sinn des Gesagten. Scholem sah in dem Klammern an den Text, dem wortgläubigen Nachbeten des Gelesenen nichts anderes als die Wiederkehr eines selbstgeschaffenen Mythos. Dieses Mal war es ein Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands. Das konnte ihm nicht gefallen, dieses quasi neue „religiöse Verhältnis“. Der Satz war aber vor allem ein Nachruf auf Adorno, dessen Herz zwar an sehr menschlichen, banalen Beziehungen zerbrochen war, der aber nie richtig frei in der gewählten Heimat Deutschland wurde. Scholem hörte hinter all den Klagen seines Briefpartners über angeblichen Freundesverrat, die Mühen der akademischen Ebene und das unentwegte Schreibenmüssen durchaus das Stöhnen einer verletzten Seele, die nicht einmal mehr eine „Heilige Schrift“ hatte, in der er hätte lesen und sich trösten können. Selbst die Erinnerung an Benjamin schien ihm so entrissen worden zu sein.

Je öfter man diesen Briefwechsel liest, nach und nach auf andere Korrespondenzen und die Werke der Protagonisten zurückgreift, desto deutlicher wird die Kontur einer Gegengeschichte. Einer Gegengeschichte, die in der „unmöglichen Heimat“, so der Historiker Anthony Kauders, sich zwar abspielen konnte, die aber nie wirklich gemeint war. Es war ein imaginiertes Deutschland, das zwar auch auf dem Weg nach Westen und dabei erfolgreich war, doch das mit den anderen nicht geteilt werden konnte. Aus diesem anderen Deutschland konnten sie nicht vertrieben werden, weil sie ihm eine eigene Gestalt und eine eigene Geschichte, ihre Geschichte, gaben. Adorno und Scholem schrieben gleichwohl über die Gräben hinweg. Dass dabei der Realitätssinn für das Machbare nicht getrübt wurde, gehört zu den Leistungen, die der Briefwechsel zwischen Adorno und Scholem eindrücklich dokumentiert.

Anmerkung der Redaktion: Teile dieses Artikels beruhen auf einer Besprechung in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 16. April 2015.

Titelbild

Gershom Scholem / Theodor W. Adorno: "Der liebe Gott wohnt im Detail". Briefwechsel 1939-1969.
Herausgegeben von Asaf Angermann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
547 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783518586174

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