Ein Buch, das man allzu leicht unterschätzt

Doro Petersen illustriert Italo Calvinos „Marcovaldo oder die Jahreszeiten in der Stadt“ für die Büchergilde

Von Ksenia GorbunovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ksenia Gorbunova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Klappentext werden dem Leser eine Geschichte „vom Zusammenprall von Zivilisation und Natur“ versprochen und Illustrationen, die die „heitere“ Atmosphäre einfangen. Damit werden die 20 Kurzgeschichten Italo Calvinos über den Hungerlöhner Marcovaldo und seine vielköpfige Familie auf einen Aspekt festgenagelt, der zwar die Aktualität des erstmals 1963 erschienenen Buches unterstreicht, dem Gehalt von Calvinos Werk jedoch nicht gerecht wird.

Ja, der Bezug zur Natur ist allein dadurch gegeben, dass den Kurzgeschichten im Titel jeweils eine Jahreszeit zugeschrieben ist und diese in fortlaufender Reihenfolge fünf Jahreszyklen à vier Geschichten ergeben. Jede von ihnen könnte für sich stehen, denn in jeder beginnt und endet ein eigener Handlungsbogen, der in seinen formalen Zügen in allen Erzählungen ähnlich ist: (1) Marcovaldo wird mit einem Ereignis konfrontiert, das in einigen Fällen seinen Ursprung in der Natur, öfter aber im Stadtleben findet. (2) Marcovaldo sieht in dem Ereignis eine Möglichkeit, zusätzlich Geld für seine abgemagerte Familie zu verdienen. (3) Marcovaldo scheitert an der Umsetzung des Verdienstplans, meist aufgrund von naiver Dummheit. Und wenn Marcovaldos Antrieb mal nicht das Geld für das Essen ist, so ist es die Sehnsucht nach der Erfüllung anderer Primärbedürfnisse: dem Schlaf, der wegen der nächtlichen, aber taghellen Leuchtreklame am Fenster gegenüber unmöglich wird; dem gesundheitlichen Wohl, das bei der anstrengenden Arbeit in der Farbik und den Kosten für eine Kur für Marcovaldo ein unbezahlbarer Luxus ist; eine warme Wohnung im Winter, die zur Not mit einem Feuer aus abgehackten Autobahnschildern geheizt werden muss.

Inwiefern hier der „Zusammenprall“ von Natur und Stadt thematisiert wird, sei dahingestellt, doch dass die Kurzgeschichten trotz allen Potenzials zum finsteren, pessimistischen Realismus „heiter“ sind, ist ein magischer Trick, den man selbst nach der letzten Geschichte nicht lüften kann. Einerseits versteht man die Ernsthaftigkeit und die harte Realität von Marcovaldos Alltag, andererseits muss man jedes Mal am Ende über Marcovaldos Tollpatschigkeit schmunzeln und mitfiebern, wenn er versucht, dem Fettnäpfchen, in das er hineingeraten ist, zu entkommen. Calvino beschreibt es in einer leichten, fast kindlich anmutenden Sprache.

Die Plots sind klar aufgezeigt und trivial in ihrer Monotonie, hinter der sich vermeintlich kein Tiefgang, kein Raum für vielfältige Interpretationen verbirgt. Die subtile Situationskomik scheint das Einzige zu sein, das dem Leser nicht explizit vorgeführt wird, sondern sich als pseudonaiv beobachtende Erzählerstimme tarnt. Deshalb kann das Buch allzu leicht unterschätzt werden.

Aber ist es denn leichte Kost, weil Calvino die Geschichten so leichtfüßig erzählt? Ist es ein zugänglicher, unterhaltsamer Urlaubsschmöker? Nun, nur insoweit, wie der Überlebenskampf eines unterbezahlten Arbeiters als lockere Unterhaltung gelten kann. Dieser überschattet die Geschichten umso stärker, desto beiläufiger und selbstverständlicher er erwähnt wird bei all den charmanten Abenteuern Marcovaldos in einer kleinen, quirligen Stadt Italiens. Ob man dabei die linkspolitischen Ansichten Calvinos miteinbezieht oder nicht, ist für die Aussagekraft der Geschichten nicht entscheidend, kann jedoch ein Hinweis darauf sein, dass die Wahl des Milieus der Hauptfigur durchaus als die Behandlung eines ernsten Problems seitens des Autors angesehen wurde.

Calvino schafft es, vielseitige menschliche Lebenssituationen in einfache Worte zu fassen, von erschütternder Armseligkeit und gleichzeitiger kindlicher Lebensfreude zu erzählen, von der Not und dem Scheitern, sich aus dieser Not zu befreien, und das auf eine solche Weise, dass man darüber lächelt. Wie macht Calvino das? Dass man darauf keine Antwort findet, zeigt, was für ein origineller und einzigartiger Geschichtenerzähler er ist – das sieht man sowohl in seinen bekannteren, komplexen, aber nicht minder verspielten Werken, ebenso wie in diesem Kleinod. Man braucht Zeit, um es wertschätzen zu lernen. Wenn man sich von der vorgeblichen Plakativität der ersten Erzählungen nicht vergraulen lässt, wird man sicherlich von der paradoxen Wirkung der 20 Erzählungen fasziniert und zum Nachdenken angeregt sein. Würde eine Geschichte einzeln veröffentlicht werden, könnte die Sogkraft, die durch ihre Aneinanderreihung entsteht, sich nicht entfalten.

Es überrascht nicht, dass die sich als „bibliophil“ bezeichnende Büchergemeinschaft „Büchergilde“ das kostbare Werk, das schwer auf etwas herunterzubrechen und gleichzeitig überschaubar in seiner Struktur ist, in ihr Programm aufgenommen hat. Der Buchverlag fällt vor allen Dingen durch die handwerklich erstrangigen und individuell illustrierten Bucherscheinungen auf. Für die Gestaltung von „Marcovaldo“ wurde die Berliner Künstlerin Doro Petersen beauftragt. Petersen gelingt es, Calvinos uneindeutigen Ton in ihren collageartigen Blei- und Buntstiftzeichnungen aufzugreifen. Manchmal wirken sie wie von Kinderhand gemalt, manchmal lassen sie hinter den Kompositionen vielschichtige Bild- und Kommunikationsebenen erkennen. Die Sensibilität, die die Illustratorin dabei für die Sprache des Buches beweist, ist bewundernswert und macht diese Neuveröffentlichung empfehlenswert als unikale Anschaffung. Man darf nur nicht in Versuchung geraten, die Geschichten darin zu unterschätzen, oder – denn diese Gefahr besteht auch – zu überschätzen, schließlich sind Marcovaldos Unternehmungen ja doch auf naive Art amüsant.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Italo Calvino: Marcovaldo oder Die Jahreszeiten in der Stadt.
Mit Bildern von Doro Petersen.
Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2015.
190 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783864060472

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