Der Leser in der Literaturtheorie

Marcus Willands Dissertation „Lesermodelle und Lesertheorien“ besticht durch klare Kategorien und Differenzierungen.

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marcus Willand verfolgt in seiner Dissertation „Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven“ das ambitionierte Ziel, einer „adäquaten Historisierung literarischer Texte“ näher zu kommen. Sein hoher Anspruch an die Objektivität des wissenschaftlichen Zugangs führt ihn zu der Erkenntnis, dass ein Verständnis von Texten, wenn es ihrer Historizität angemessen sein soll, nur durch eine möglichst unverstellte Orientierung am zeitgenössischen Leser gelingen kann, also durch „die Rekonstruktion der zeitgenössischen Rezeption eines Textes in seinem Publikationszeitraum“.

Am Anfang steht dabei die Kritik, die man vor allem rezeptionsästhetischen Theoretikern gemacht hat, die sich im Laufe von Willands Arbeit aber für andere Theorien als ebenso zutreffend erweist: dass sie zwar „mit dem Leser kalkulieren, ihn aber keinesfalls untersuchen“. Allerdings kann man auch Willand am Ende von diesem Vorwurf nicht frei sprechen: Er zeigt keine neuen Wege zum „historischen“, „realen“ Leser auf, sondern beschränkt sich auf die Typologisierung bestehender Ansätze, deren Vorannahmen er  zumeist als zu spekulativ, ihre Methoden als fragwürdig bewertet.

Die Leistung der Arbeit besteht deshalb nicht darin, eine neue Methode zur Rezeptionsforschung bereitzustellen, sondern die literaturwissenschaftliche Theorielandschaft, zum Teil auch -geschichte, akribisch und umfassend auf ihre Lesermodelle hin auszuwerten. Besonders Willands Einführung einer klaren, präzisen Kategorisierung ist ein Gewinn: Sie dient nicht nur dazu, Ordnung in die Vielfalt existierender Perspektiven auf den Leser zu bringen, sondern macht auch Probleme und Widersprüche der Ansätze kenntlich. Die größte Herausforderung stellt neben der unüberschaubaren Anzahl bereits benannter Lesertypen – vom „impliziten Leser“ über den „mock reader“ bis hin zur „Leserfiktion“ – auch die Tatsache dar, dass sie alle verschiedenen Methoden und Erkenntniszielen zuzuordnen sind.

Auf ontologischer Ebene unterscheidet Willand reale, probabilistische, theoretische und fiktionale Lesermodelle. So lässt sich beispielsweise zeigen, dass Isers irreführenderweise als „Leserfiktion“ bezeichnetes Lesermodell eher ein theoretisches als ein fiktionales Modell darstellt: Iser bezieht sich auf verschiedene vom Autor intendierte Kommunikationsperspektiven, nicht aber auf ein konkretes Leserbild im Text. Auf die historische Absicherung, also die Betrachtung faktischer Rezeptionstexte, verzichtet Iser völlig. Andererseits werden auch vermeintlich „reale“ Leser vielfach nicht anhand empirischer Quellen, sondern erst durch deren Interpretation bestimmt, wodurch eine Art Durchschnittsleser ermittelt werden soll, sodass diese Lesermodelle nur probabilistische Modelle sind, die sich zwangsweise vom realen Leser entfernen. Immerhin ist der Einfluss theoretischer Vorannahmen in diesen Fällen aber geringer als bei Modellen, die gar keine empirischen Quellen hinzuziehen.

Die Funktionalisierung des Lesermodells variiert naturgemäß zwischen verschiedenen Literaturtheorien sehr stark. Willand macht mögliche Funktionen anhand ihres jeweiligen Bezugs auf ein spezifisches Kontextwissen kenntlich. So wird beispielsweise eine sozialwissenschaftlich interessierte Literaturwissenschaft das Lesermodell diastratisch anlegen. Sie fragt nach den sozialen Kontexten von Literatur, weshalb sie Leser schichtenspezifisch untersucht. Neben diastratischen nennt Willand noch diatopische und diachronische Kontextlimitationen.   

Die Frage nach der Epistemologie von Lesermodellen nimmt innerhalb der Arbeit den größten Raum ein. Mit der Unterscheidung zwischen „subjektivistischen“, „objektivistischen“ und „interaktionistischen Lesermodellen“ kann differenziert werden, welche Instanz jeweils als entscheidend für die „literarische Bedeutungsgenerierung“ gesehen wird.

Dass subjektivistische Lesermodelle, die den Leser selbst als relevanteste Größe einschätzen, ausführlicher betrachtet werden müssen als andere, ist mit Blick auf die Fragestellung der Arbeit nur folgerichtig. Willand stellt anschaulich heraus, dass subjektivistische Theorien nicht unbedingt den realen Leser im Blick haben. So wird etwa bei Vertretern des Reader Response Textrezeption zwar als hochgradig individuell angesehen, andererseits aber doch von Kontextbedingungen abhängig gemacht. Das lässt sich etwa anhand des Begriffs der „Interpretationsgemeinschaften“ (Stanley Fish) anschaulich machen: Die Annahme, dass geteilte Eigenschaften einer Gruppe zu ähnlichen Rezeptionen führen, lässt immer auch eine Vorauswahl solcher Eigenschaften nötig werden. So ist schon die Abgrenzung ein interpretativer Eingriff.  

Die ausführliche Beschäftigung mit poststrukturalistische Lesermodellen (Derrida, Barthes, de Man) könnte man als eigenen Komplex der Arbeit verstehen, da ihr Umfang sich mit dem hauptsächlichen Erkenntnisinteresse der Arbeit kaum begründen lässt. Obwohl die radikale Subjektivierung des Lektüreprozesseses bei den Poststrukturalisten wohl einen Abschnitt in einer Arbeit zu Lesermodellen verdient hat, scheint Willands Objektivitätsanspruch hier grundsätzlich nicht mehr kompatibel. Die Erkenntnis, dass „die poststrukturalistische Überlagerung von wissenschaftlichem Leser und historisch-realem Leser“ im Hinblick auf eine historisch ausgerichtete Rezeptionsforschung einen „theoretischen Rückschritt“ bedeutet, hätte durch geringeren Aufwand ebenso gut erzielt werden können. Auch Willand sieht sich zu einer  Rechtfertigung dieser Analysen verpflichtet: Zum einen zeigten sie, wie komplex die Rekonstruktion eines Lesermodells jeweils sein könne, wobei auch die Inkonsequenz der Argumentationen innerhalb der Werkzyklen der Theoretiker deutlich werde. Zum anderen erweiterten sie den Forschungsstand zum Poststrukturalismus um die leserorientierte Perspektive. Bei beidem handelt es sich sicher um wichtige Erträge. Und auch die Freude des analytischen Literaturwissenschaftlers an komplexen Theorien dürfte eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.

Am Ende finden sich einige wertvolle Hinweise und Vorüberlegungen zur Praxis einer historischen Rezeptionsanalyse. Willand synthetisiert seine Ergebnisse noch einmal durch ein emphatisches Bekenntnis für eine Orientierung am realen Leser:

„Die historische Rezeptionsanalyse ermöglicht also den Zugriff auf die Interpretation eines (anderen) Lesers als ein explizites, faktisch umgesetztes und notwendig historisch angemessenes Verstehensangebot, während die historisierende Primärtextinterpretation nur eigene hypothetische Annahmen über ein historisch mögliches, aber nicht zwangsläufig historisch angemessenes Verstehen zu formulieren erlaubt.“  

Er unterscheidet diese von den unter „Rezeptionsforschung“ subsumierten literaturtheoretischen Varianten des Auswertens und Interpretierens von aus Rezeptionszeugnissen gewonnenen Erkenntnissen, zu denen also der Großteil der erarbeiteten Lesermodelle zu zählen ist. Rezeptionsanalyse soll sich aber zunächst möglichst unkommentiert auf die Darstellung historischer Rezeptionszeugnisse beschränken und akkurat „heute nicht mehr unmittelbar verständliche Präsuppositionen“ herausarbeiten: Quellensichtung und -sicherung stellen demnach ihre Hauptaufgaben dar. Eine „einheitliche Methodik der Rezeptionsanalyse“ sei wünschenswert und bleibe noch zu entwickeln, so Willand. Insgesamt stellt die Arbeit einen wichtigen Schritt zur besseren Strukturierung eines Forschungsfeldes dar und schärft den Blick für die Vielfalt rezeptionstheoretischer Fragestellungen. Letztlich gelingt es nicht ganz, diesen theoretisch-typologischen Ansatz mit der historisierenden Perspektive in Einklang zu bringen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Marcus Willand: Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven.
Narratologia 41.
De Gruyter, Berlin/Boston 2014.
362 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110341843

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