Der eigenen Haut entkommen

Thomas Braschs gesammelte Gedichte in „Die nennen das Schrei“ sind sehr viel mehr als politische Lyrik

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Thomas Brasch 2001 starb, hinterließ er eine Vielzahl unveröffentlichter Gedichte, die dem Umfang seiner bis dahin veröffentlichten Gedichte sehr nahekommt. Dies zeigt der Band mit den gesammelten Gedichten des großen Dramatikers und Schriftstellers Brasch mit dem ebenso schönen Titel „Die nennen das Schrei“ sehr anschaulich. Bei Braschs langjährigem Hausverlag Suhrkamp wurde bereits 2013 die von Martina Hanf und Kristin Schulz herausgegebene gebundene Ausgabe veröffentlicht, nun folgt eine limitierte Sonderausgabe im günstigeren Taschenbuchformat, die die Gedichte Braschs einem breiteren Publikum zugänglich machen soll.

Brasch, 1945 in England geboren und bis zu seiner Ausreise 1976 in der DDR lebend, litt lange unter der DDR und den verknöcherten Strukturen im sozialistischen Systemstaat, was sich erstaunlicherweise schon in den einzigen in der DDR veröffentlichten Gedichten zeigt, die 1975 offiziell geduldet in der Reihe Poesiealbum erschienen waren (gestaltet von Einar Schleef, dem anderen großen und nur wenige Monate vor Brasch verstorbenen Ausreis(s)er und späteren Suhrkamp-Autor). Das Generalthema Braschs kündigt sich als Motto zu Beginn der Poesiealbum-Gedichte an: „Ich kann nicht aus meiner Haut.“ Die Haut, die mit ihr verbundene Vorstellung von Eingeschlossen-Sein und dem Wunsch, der eigenen Haut zu entfliehen, taucht auch noch in seinen letzten Gedichten auf.

Vor allem in dem groß angelegten und multimedial gestalteten Gedichtband KARGO. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen spiegelt sich in vielen Gedichten die Verzweiflung am DDR-System. Nicht von ungefähr spielt die Zahl 32 im Untertitel auf jenes Lebensjahr Thomas Braschs an, bis zu dem er in der DDR lebte. Dass das untergehende Schiff die DDR sein könnte, ist nicht verwunderlich, wohl aber die Ausdauer, die sich im 32. Versuch ausspricht. Die DDR war kein Staat, in den hinein man geboren sein sollte. Von Geburt an engt die vom System geformte Haut das Individuum ein, und der Versuch, da herauszukommen, kann nur scheitern, solange man im System lebt. Doch dass einem außerhalb des Systems die Haut weiter wird, ist nicht ausgemacht. Auch das verhandeln die Gedichte Braschs eindrücklich.

KARGO gilt als einer der wichtigsten Gedichtbände der deutschen Lyrik und stellt eine dezidierte Auseinandersetzung mit Braschs früherem Leben in der DDR dar, zugleich ist er jedoch eine Reflexion über das neue Leben in der ‚kapitalistischen BRD‘. KARGO ist Labor, Spielplatz und Kriegsschauplatz in einem, zusammengehalten vom oftmals latent formulierten Wunsch nach Authentizität im Leben wie in der Literatur. Die Fülle an Textsorten ist beeindruckend: Sie reicht von Gedichten, Prosagedichten, dramatischen Texten, historischer Rollenprosa in lyrischer wie ungebundener Form über Pastiches und Lieder (oder eher Songs) bis hin zu essayistischen Stücken und Prosa. Der intertextuelle Anspielungsreichtum zeigt sich dabei nicht nur in den Titeln der Texte (Kassandra, Ödipus, Eulenspiegel, Don Juan, Chlebnikow et cetera), auch in den Texten selbst zeigt sich ein profundes literarisches Wissen, das sich in Formen und Themen ausdrückt. Dabei fällt besonders der Reim als weitaus häufigstes Stilmittel auf, das mal plakativ mal subtiler – oder kaum bemerkbar – Zusammenhänge stiftet. Dabei schaffen es die Gedichte zumeist, nicht gekünstelt zu wirken, zumal nicht dort, wo die Texte dezidiert die Form des Songs oder ältere Gedichtformen zitieren. KARGO ist ein scharfsinniger, politischer, intimer, offener aber auch verschlossener wie kompositorisch komplex gestalteter Gedichtband geblieben, der immer noch Überraschungen bereithält und auch für junge Lyriker als Maßstab gelten kann.

List man die veröffentlichten Gedichte zusammen mit den unveröffentlichten, so zeigen diese – die frühesten stammen aus dem Jahr 1960, als Brasch gerade einmal 15 Jahre alt war –, dass schon damals das Politische ein starkes Thema seiner Lyrik war. Krieg, Tod und Zukunftsangst werden in kurzen Versen (oft nicht mehr als ein Wort) umkreist als stetige Bedrohung wie Faszinosum des lyrischen Subjekts. Der Krieg wird direkt angesprochen „als Übel/großes, grausig“ und am Ende gefragt: „Kommst du?“ Auch der Tod findet in den Reflexionen des jugendlichen Brasch eine Ansprache, die zwischen Faszination und Angst schwankt. Dass die frühen Gedichte oftmals ins Pathetische und Hohe, zuweilen auch ins Kitschige abgleiten, ist verschmerzbar und vermindern den guten Gesamteindruck der frühen Texte nicht.

Mit den Jahren werden die Gedichte länger, prosaischer vielleicht, auch privater und auf jeden Fall komplexer in Syntax, Semantik und Grammatik. Die Formvielfalt nimmt zu, ebenso die Adressierung an Freunde, Bekannte, Kollegen. Die lyrische Produktion, das zeigen die oftmals ausführlichen, teils auch bloß kurzen Kommentare zu den einzelnen Gedichten, nahm in den 1990er-Jahren ab, sicher zugunsten seiner vermehrten Arbeit an Stücken, Übersetzungen, Filmen und Hörspielen. Die Gedichte aber zeugen von der Bedeutung Thomas Braschs als wichtigem Autor der deutschen Nachkriegsliteratur. Sie haben nichts von ihrer Schönheit, Eindringlichkeit und auch (politischen) Relevanz verloren.

Titelbild

Thomas Brasch: »Die nennen das Schrei«. Gesammelte Gedichte.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Martina Hanf und Kristin Schulz.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
1029 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518424537

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