Politik auf ausgetretenen Pfaden

Andreas Wirsching (re-)konstruiert die Geschichte Europas seit 1989

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Europa? „Ach, Europa“ – mit schmerzlicher Verwunderung betitelte Jürgen Habermas vor Jahren den elften Band seiner politischen Schriften. An den Wendepunkten des Einigungsprozesses, so Habermas, sei die Europapolitik „noch niemals so unverhohlen elitär und bürokratisch“ aufgetreten. Die EU-Architektur scheint dem Bürgerwillen entzogen, während sich das europapolitische Management wie in einem „Sog der Technokratie“ durch die Zeiten manövriert.

Wie steht es um Europa, wenn man die Geschichte des Kontinents Revue passieren lässt? Andreas Wirsching, der 2012 schon zum selben Thema veröffentlichte („Der Preis der Freiheit“), arbeitet in seinem neuen Buch „Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989“ heraus, wie sehr die Europapolitik auf ihren eigenen Pfaden wandelt: Scheitern der EU-Verfassung? Legitimationsdefizit? Währungskrise? Die Antwort heißt stets: „mehr Europa“. Nach Wirsching bearbeiten die Entscheidungsträger jene Krisen im Rahmen der bestehenden Strukturen und Konstrukte. Im Ergebnis stehen: eine zunehmende Konvergenz der Mitgliedsstaaten, vertiefte Integration, eine stärkere Machtfülle der europäischen Institutionen, die Bändigung zentrifugaler Tendenzen. Ohne einheitlichen Plan, aber irgendwie doch so, als ob es einen point of no return gebe.

Mit diesem Theorem der Pfadabhängigkeit im Hinterkopf (re-)konstruiert der Münchener Historiker die Geschichte Europas seit 1989 bis heute. Chronologisch gesehen bildet das Buch den letzten Band der Reihe „C. H. Beck Geschichte Europas“, die auf zehn Bände angelegt ist. Acht sind seit 2010 in loser Reihenfolge erschienen, zwei stehen noch aus. Das Anliegen besteht darin, einem breiten Publikum die Geschichte Europas seit der Antike aus europäischer, nicht nationalstaatlicher Sicht nahe zu bringen – auf knappem Raum (unter 300 Seiten), von Wissenschaftlern geschrieben und auf dem neuesten Stand der Forschung.

Globalisierung und Demokratisierung sind für Wirsching die zwei großen Trends der vergangenen 25 Jahre. Das Buch startet mit der Darstellung des Umbruchs in den osteuropäischen Staaten – Thema übrigens auch bei Philipp Ther („Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“). Die Versprechen von Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand galten den ehemals kommunistischen Staaten als Leitmotiv für einen schnellen EU-Beitritt und dienten zur Abgrenzung von der zerfallenden Sowjetunion. Die Transformationsstaaten hatten politische, wirtschaftliche und soziale Reformen gleichzeitig umzusetzen. Wirsching reißt die Entwicklungen in den einzelnen Ländern an und bezieht sie aufeinander. Leider zu allgemein registriert der Autor es als „erstaunliches Phänomen“, dass „die“ Demokratie in den postkommunistischen Staaten nicht grundsätzlich infrage gestellt worden sei. Seinen lobenden Blick verhehlt der Historiker nicht: Es seien „Schritte in die richtige Richtung“ gewesen, auf einem „Weg freilich, der keine Umkehr und keine Alternative kannte“. Wirklich? Pathetisch bezeichnet Wirsching die Tage der ersten Osterweiterung 2004 als einen „Moment, der viele Herzen ergriff“.

Das klingt schön, ist gegenüber dem chaotischen Konfliktgeschehen aber sicher verharmlosend. Zum optimistischen Konstrukt eines immer weiter fortschreitenden, wenn auch brüchigen Europas passt es allemal. Wirschings Erzählung belässt es nicht dabei, sondern wirkt zuweilen gewöhnungsbedürftig und lax: Dem „Fest der Osterweiterung“ folgte der „Beitrittskater“. Dazu dominiert das Buch sprachlich ein Jargon des „einerseits – andererseits“. An gezählten 17 (!) Stellen sieht der Autor „Paradoxien“ am Werk. Das ist einfach zu viel. Wirsching möchte unterstreichen: Europas Geschichte stellt eine dauerhafte Anpassung an Krisen dar, die von der Erfahrung des Scheiterns durchzogen ist. In diesem Sinne legt der Autor souverän und kenntnisreich das Fiasko des Jugoslawienkriegs, die Finanz- und Bankenkrise, die wirtschafts- und außenpolitischen Spannungsfelder der EU dar.

Demnach verweisen die institutionellen Erweiterungs- und Vertiefungsprozesse der EU auf tiefer liegende Zielkonflikte und gegenläufige Tendenzen. Der Historiker, dessen Buch bis an die Gegenwart reicht, macht einen Trend zu einem präsidialen Politikstil als auch zu einem populistischen Nationalismus aus. Außenpolitisch steht nicht weniger als die europäische Sicherheitsarchitektur auf dem Spiel: Die Ukraine-Krise im Blick gibt Wirsching zu Protokoll, dass die Ausdehnung der EU (und der Nato) gen Osten für Russland „inakzeptabel“ erscheinen könnte.

Als Reflex auf die russischen Machtansprüche verbreite sich in der Ukraine nationalistisches Denken. Hier liegt nach Wirsching die Ungleichzeitigkeit: Im Westen arbeite man vor dem Hintergrund der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts an der Überwindung der nationalstaatlichen Sichtweisen. In den Ländern Ost- und Südosteuropas, die eine demokratische Entwicklung „nachgeholt“ hätten, gewinne das Nationale den Status eines Fortschrittskonzepts. Daher bestehe die Gefahr, „dass die Europäische Union am Ende gegenüber einem solchen Prozess der Ethnisierung und staatlichen Dekomposition ebenso machtlos gegenüberstehen würde wie zwei Jahrzehnte zuvor auf dem Balkan“.

Dieser Schluss ist tagesaktuell, wirft aber Fragen auf, die auch die historische Darstellung betreffen: Unter welchen Bedingungen tritt Europa als einheitlicher Akteur auf? Bilden nicht seit jeher bilaterale Verhandlungen der nationalen Machthaber die wichtigen Entscheidungszentren? Welche Allianzen werden geschmiedet? Welche Hebel setzen die Nationalstaaten an, um ihre Einzelinteressen auf internationaler Ebene durchzusetzen? Und: Wer regiert im kriegerisch-chaotischen Ausnahmezustand? Um das zu klären, muss man tiefer in einzelne Politikfelder einsteigen und die Vogelperspektive verlassen. Wirschings Buch gibt wertvolle Hinweise dafür. Eine wichtige Erkenntnis besteht darin, dass die europapolitischen Eliten es bislang verstanden hätten, ihre Entscheidungen auch gegen den Volkswillen durchzusetzen. Jetzt könnte man sagen: Das ist der Herrschaftsanspruch der EU nach innen und außen. Dieser Aspekt wird jedoch zu wenig in den Blick genommen, denn Wirsching tendiert dazu, mit Zwangslagen zu argumentieren, in denen sich der EU-Komplex angeblich befinde, statt primär die Kategorie der Macht und ihrer Legitimation ins Feld zu führen. Wie soll man so dem „Glaubwürdigkeitsverlust“ der EU auf die Spur kommen, den Wirsching am Ende seines Buches aufziehen sieht?

Titelbild

Andreas Wirsching: Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
248 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406666995

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