Nicht nur ein Fremder unter den Engländern

Karl Philipp Moritz sorgte im Jahr 1782 für Aufsehen mit seiner Inselreise

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1782 ist Karl Philipp Moritz 25 Jahre alt und hat sich von seinen ihn düster und melancholisch stimmenden Niederdrückungen und Ausbeutungen der Kindheit und Jugend, die seinem unvergleichlichen autobiographischen Roman „Anton Reiser“ das Thema vorgaben, in vieler Hinsicht freigeschwommen. Er ist nun Lehrer am „Grauen Kloster“ beziehungsweise dem Köllnischen Gymnasium in Berlin, wird gefördert von dessen Leiter Anton Friedrich Büsching und publiziert auf pädagogischen Feldern im aufklärerischen Sinne seiner Berliner Kollegen und Freunde. Gerade in diesen Jahren legt er die Grundlagen für zahlreiche seiner wichtigsten Werke: Bereits publiziert waren der Entwurf zum Magazin zur Erfahrungsseelenlehre, aus der Erfahrung des Pädagogen entstanden die „Kinder-Logik“ und die Unterhaltungen mit seinen Schülern, eine Sprach-Lehre für Damen, auch das Kriminaltheaterstück „Blunt oder der Gast“ hatten zum Profil des viel schreibenden Autors beigetragen.

Warum er sich im Mai des Jahres entschließt, eine Reise nach England zu unternehmen, fand zeitgenössisch unterschiedliche Begründungen – einige geben ein Angebot des nachmaligen Verlegers der in Buchform erschienenen Reisebriefe als Motivation an, andere betonen Moritz’ Wunsch nach einer Flucht aus dem „Schulkerker“. Tatsache ist, dass er in Begleitung seines Aufklärer-Freundes Friedrich Gedike, an den dann die Briefe gerichtet sind, aus denen die Reisebeschreibung besteht, nach Hamburg reist, um von dort allein mit der „De Freheid“ unter Kapitän Jürgen Brunsewig für mehrere Wochen nach England zu segeln.

Das Interesse an England ist in jener Zeit ein allgemeines, bei Moritz aber auch ein persönliches, war er doch als Untertan des englischen Königs aus der Linie der Hannoveraner aufgewachsen, hatte von einem Engländer schon als Kind die Sprachanfänge erlernt und später so weit ausgebildet, dass er an der Universität Erfurt als Student Englischunterricht erteilen konnte. Nun also sollte er das Land sehen, das er vermutlich längst durch Bücher vielfach erkundet hatte.

In der Kritischen und kommentierten Moritz-Ausgabe (KMA) setzt die Publikation der Reisebeschreibung, die ein Jahr nach der Reise von Moritz in Berlin bei Maurer erschienen war, den Ansatz fort, in einem umfangreichen Kommentar, vielfach erstmalig, Quellen und Dokumente zur Geschichte des Werkes zu erschließen. Sie stellt so die Reise und ihre textliche Darstellung in einen historischen Kontext, der vor allem auch ihre Rezeption berücksichtigt. Dabei ist gerade im Falle von Reisebeschreibungen die Kenntnis der Texte, die der Autor gekannt haben könnte, von entscheidender Bedeutung für die Interpretation: Wie ein Gipfel heben sich die individuellen Beobachtungen und narrativen Innovationen eines Reiseautors von dem breit gelagerten Hochplateau der vorhandenen Reiseführer, apodemischen Schriften, Statistiken und Staatsbeschreibungen ab, an denen sich üblicherweise Reiseschriftsteller des späten 18. Jahrhunderts orientieren konnten. Auch Moritz tut dies, und die beiden Herausgeber Jürgen Jahnke und Christoph Wingertszahn haben einen reichen Fundus an zeitgenössischen Schriften gehoben, in denen sich das England-Buch spiegelt – so viele, dass das individuelle Buch fast darin aufgeht.

Aber, so heben die Herausgeber hervor, Moritz war mit seiner sowohl bei Kritik als auch beim Lesepublikum erfolgreichen Beschreibung vielfach innovativ und lenkte den Blick auf Dinge und Gedanken, die vor ihm kaum jemand zum Thema gemacht hatte. Natürlich bestaunt er London als Riesenstadt – sie hat damals nur einen Bruchteil der heutigen Fläche beansprucht –, natürlich schaut er sich die Parlamentssitzungen als Beispiel eines repräsentativ verfassten Regierungssystems an, besucht die Vergnügungsparks wie Vauxhall (den es auch in kleinerer Version in Berlin gab), ist eingeladen bei deutschen „Compatriots“, die Karriere in England machten, arbeitet auch Sehenswürdigkeiten ab, lobt die Freiheit der englischen Gesellschaft, in der auch die Ärmsten an der politischen Willensbildung beteiligt sind, wundert sich über manches dem Deutschen als Marotte erscheinende Alltagsverhalten der Engländer und so weiter.

Aber Moritz wäre nicht der manchmal exzentrische, neugierige und mitfühlende Idealist, als der er in seinen Schriften erscheint, wenn er nicht von der ihm immer interessant erscheinenden empirischen Umwelt abstrahieren könnte, um sich in ein literarisches Idealreich zu versetzen, das Realität und Idealität in Kontrast setzt. Armut und Alltag interessieren ihn ebenso, wie er es liebt, die Landschaft mit literarischen Mustern zu potenzieren. So ist er bald Londons überdrüssig und begibt sich auf eine Tour an der Themse entlang. Nichts ist ihm paradiesischer, als am Fluss lagernd, inmitten grüner Wiesen seinen John Milton zu lesen. Nahe an der Welt ist er nur, wenn er zu Fuß geht und sich nicht der irrwitzigen Geschwindigkeit der Postkutschen überlässt, Reisen ist ihm mehr als nur die Bewegung von Punkt A nach Punkt B in einem „rollenden Kerker“. So geht Moritz einen großen Teil seiner Reise über Windsor und Oxford bis nach Derbyshire zu Fuß, was vor Ort, aber auch in der Rezeption der Reisebeschreibung einiges Aufsehen erregt. In England macht der Wandernde die Erfahrung des sofortigen sozialen Abstiegs, der dem nicht Berittenen oder Kutsche Fahrenden sicher ist – die Suche nach einem Zimmer für die Nacht wird fast unmöglich. Umso höher bewertet Moritz den Gewinn des Gehens in Hinsicht auf Wahrnehmung, Freiheit und Naturerlebnis. Als Vorläufer von Gottfried Seume, der 20 Jahre später bis nach Sizilien zu Fuß gehen wird und davon literarisch Zeugnis ablegte, gehört für Moritz das genus pedestre zu seiner eigenen Weise, die Umwelt in ihrer Vielfalt an sich herankommen zu lassen. Gehen zieht sich durch das ganze Werk Moritzʼ, von den Spaziergängen mit seinen Schülern über das obdachlose Suchen im „Reiser“ bis hin zur Peripatetik zur Entwicklung ästhetischer und philosophischer Themen.

Eine weitere, Aufsehen erregende Merkwürdigkeit der Reise war der Besuch der Höhle von Castleton, deren Beschreibung durch Moritz großen Eindruck bei den Lesern hervorrief. Sie blieb noch Jahrzehnte später im Gedächtnis der literarischen Welt, wie ein Text von Willibald Alexis belegt. Nach Moritz haben auch Georg Forster und Johanna Schopenhauer die Höhle besucht. (Von Forster stammt eine durchaus positive Rezension der „Reisen eines Deutschen in England“; Moritz hatte in London den Schwager des Weltreisenden besucht.)

Moritz’ „Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782“, die in dieser nun opulenten, Neuland erschließenden Edition in ihren Kontexten erkennbar werden, hat der Autor eine bezeichnend kurze Vorrede gegeben:

Da ein jeder seinen eignen Maasstab hat, wornach er die Dinge ausser sich abmisst, und seinen eignen Gesichtspunkt, woraus er die Gegenstände betrachtet, so folgt sehr natürlich, daß dieß bei mir denn auch der Fall ist. Daß also manchem die Dinge anders vorgekommen seyn müssen, wie sie mir vorgekommen sind, folgt eben so natürlich.

Subjektivität hatte ihren Platz in der Reisebeschreibung erobert und sollte gerade auch in der für seine ästhetische und philosophische Entwicklung entscheidenden Beschreibung seiner Italienreise 1786 zu deren Gelingen beitragen. Die allmähliche  Entwicklung dieser Haltung macht die England-Reise zur bedeutenden Schrift innerhalb der Geschichte der Reisebeschreibungen. Nicht zuletzt ihre mehrfach aufgelegte englische und auch eine wenig bekannte postume russische Übersetzung (möglicherweise von dem Moritz 1789 besuchenden russischen Reisenden Nikolaj Karamzin initiiert) können hierfür als weiterer Beleg dienen.

Titelbild

Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke Bd. 5. – Reisebeschreibungen. Teil 1: Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782.
Herausgegeben von Jürgen Jahnke und Christof Wingertszahn.
De Gruyter, Berlin 2015.
606 Seiten, 169,95 EUR.
ISBN-13: 9783110303162

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