Von Extremkletterern, digitaler Revolution und Marmorkuchen

Silvio Blatters Roman „Wir zählen unsere Tage nicht“ erzählt vom Älterwerden, Loslassen und unterschiedlichen Lebensphilosophien

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1946 geborene Schweizer Autor und Maler Silvio Blatter, der sein Werk in den 1970er- und 1980er-Jahren hauptsächlich dem monotonen harten Arbeitsalltag einfacher Menschen in seiner Heimatregion widmete, begibt sich in seinem Roman „Wir zählen unsere Tage nicht“ unter die kulturschaffenden Bildungsbürger.

Isabella und Severin Lerch blicken auf 44 Jahre Ehe zurück und ihr erfolgreiches Berufsleben neigt sich dem Ende zu. Isa, eine bekannte und gefragte Radiomoderatorin mit italienischen Wurzeln und ebensolchem Temperament, steht plötzlich ihrer Nachfolgerin gegenüber, die an einem Abschieds-Feature für die berühmte Kollegin arbeitet. Severin, ein wettergegerbter Bildhauer, der mit der Kettensäge riesige Holzskulpturen schafft, muss sich der Angriffe einer Gruppe von Paintballspielern erwehren, die nach Jahrzehnten der Ruhe die stillgelegte Kiesgrube, in der sich Severins Atelier befindet, für ihren Sport beansprucht. Die erwachsenen, „kreuzbraven“ Kinder der beiden haben sich ganz anders entwickelt als ihre Eltern, die ein Leben lang jedem Sicherheitsgedanken und dem Mainstream trotzten. Sandra ist ein Familienmensch und hatte schon als große Schwester das Muttersein geübt. Sie beäugt ihre Mutter sehr kritisch und liebt ihren Vater. Ihr Mann Rainer, Politiker in einer grün-liberalen Partei, ist ein „Vernunftpinsel“, der seinem Schwiegervater Hilfe anbietet, die dieser nicht zu brauchen glaubt. Matthias, Sandras Bruder, lebt getrennt von Amelie, die als fanatische Volleyballspielerin damals wie heute keine Zeit für eine Beziehung hat. Er ist Personalentwickler, ein Indoor-Mensch, der das Fitnessstudio körperlicher Arbeit vorzieht, seinen Seminarteilnehmern aber gerne Vater Severin, den Künstler, in seiner Kiesgrubenwelt vorstellt.

Die Lebensphilosophien innerhalb der Generationen könnten ungleicher nicht sein, dennoch gibt es, trotz aller Freiheiten, familiäre Bande der Zusammengehörigkeit. Isa und Severin lebten und leben ihre Beziehung frei von allen Zwängen und führen ein mehr als unabhängiges Leben. Die heile, gesellschaftskonforme Welt ihrer Tochter Sandra bekommt bald Risse und der Sohn verstrickt sich, nachdem er die Trennung von Amelie überwunden hat, in ein neues Liebesunglück. Nach und nach tauchen weitere Figuren auf, die die Familie ordentlich durcheinanderbringen.   

Die Handlung ist es nicht, die den Roman ausmacht. Denn die Schweiz ist „das langweiligste Land der Welt“, wie Rainer auf einer Wahlveranstaltung ins Mikrofon spricht. Zu gut abgesichert sind ihre erfolgreichen Künstler und deren wohlerzogene Kinder. Die Probleme, die alle umtreiben, entbehren angesichts wahrer Nöte wirklicher Brisanz. Aber die Präzision, die Wortgewandtheit und der Humor, mit dem Blatter seine Figuren und deren Tun beschreibt, erzeugen Leselust und -spaß. Messerscharf sind die Bilder, mit denen er die Protagonisten und ihren Lebensstil illustriert.

Blatter markiert die Radiodiva Isa neben ihrem aufbrausenden Temperament durch ein Interview mit Frank Sinatra, das ihre Karriere prägte, dazu kommen ihre starke Neigung zum Alkohol und die fehlende Mutterliebe. Die begeisterte Literaturliebhaberin hat sich mit dem Zeitalter der sozialen und neuen Medien arrangiert – ebenso wie ihre in die Jahre gekommenen Fans, die Pink Floyd, Led Zeppelin und Jonny Cash hören, die Route 66 gefahren sind, Levi’s 501 tragen und über den eigenen Mann, der gerade ein Handy-Foto mit der Starmoderatorin geschossen hat, sagen: „Er ist in Sie verliebt […]. Er folgt Ihnen auf Facebook.“ Die Zeit der Autogramme ist vorbei. Es lebe die Zeit der Selfies! Oder wie es Blatter trotz ihrer Adaptationsleistungen suggeriert: „Rock’n Rollstuhl.“ 

Die Protagonisten sind keine schlichten Konsumenten eines Lifestyles, der Autor macht sie jedoch zu dessen Vorreitern, bald zu dessen Ikonen. Da wäre die Spitzensportlerin Amelie, die ihren Lebensgefährten Matthias nie nackt, sondern immer nur mit farbigen Streifen getaped zu sehen bekommen hat. Sie, deren „Duft von weiblichem Testosteron“ ihn anfangs so angezogen hatte, entführt den Leser in die Welt der Fitnessstudios und Sportwettkämpfe. Matthias wiederum ist der Digital Native, ein Laptop-Mensch, der sein Smartphone als eine Erweiterung des eigenen Körpers wahrnimmt. Der alternde Künstler und Kämpfer Severin, „der Typ, der sich ohne Spiegel nass rasierte“ und sich nie mit Bausparverträgen oder der Rente beschäftigt hat, sieht seine Kinder als Teil einer Klammergeneration von Angsthasen und in Sandras Mann Rainer „einen Hund […], der nur mit Trockenfutter versorgt wird“. Den Klischee-Reigen krönt der Wirtschaftsflüchtling aus Deutschland, als Ausländerin und Gesamtpaket überdurchschnittlich attraktiv, mit einer Haut in der Farbe der „Karamellbonbons von Aldi“, die in Stresssituationen Kekse aus der Heimat, sprich Prinzenrolle, futtert. Ist das etwa Swissness interkulturell?

Silvio Blatter ist mit „Wir zählen unsere Tage nicht“ ein unterhaltsamer, entschleunigter Familienroman gelungen, wenn auch nicht ganz frei von Allgemeinplätzen. Der Leser kann sich trotz Amüsements des Gedankens nicht erwehren, dass es sogar in der Schweiz der Auffangnetze zwischen Himmel und Erde mehr geben muss als die Endlifecrisis der sich mit Biodiversitätsverlust, Tablets und Bettgeschichten herumschlagenden, gutbürgerlichen Hippies.

Titelbild

Silvio Blatter: Wir zählen unsere Tage nicht. Roman.
Piper Verlag, München 2015.
293 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492056458

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