Von Wildschweinjagd und Nasenbluten

Endlich zu haben: die wundersamen Erzählungen der Véronique Bizot

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Göttinger Steidl Verlag demonstriert wieder einmal eindrucksvoll, was seriöses Verlegen bedeutet. Im Jahr 2011 publizierte er „Meine Krönung“, einen schmalen Roman der bis dahin im deutschen Sprachraum unbekannten französischen Autorin Véronique Bizot. Diesem sehr gelungenen und überraschenden (deutschsprachigen) Debüt folgte bereits ein Jahr später ein weiterer Roman („Eine Zukunft“), ebenfalls schmal im Umfang und üppig im Unterhaltungswert sowie in der literarischen Qualität. Folgerichtig also, dass man in Göttingen nun zwei Bände mit Erzählungen aus den Jahren 2005 und 2008 der in Paris lebenden Autorin in einem Buch veröffentlicht: „Die Heimsucher“. Und wie bei seinen Vorgängern, die beide noch in Leinen gebunden waren, gibt es auch dieses Mal einen mit einem Motiv von Michael Sowa bedruckten Schutzumschlag, dazu noch ein Lesebändchen, was bei einem Umfang von 300 Seiten, verteilt auf 14 Texte, durchaus sinnvoll ist.

Diese 14 Texte weisen viele Erzählelemente der späteren Romane auf, als da wären viele allein lebende Menschen, die dies teilweise selbst so gewählt haben, weil sie Misanthropen sind oder sich abschotten wollen. Ebenfalls wiederkehrende Motive sind Friedhöfe, Suizide und die Wildschweinjagd im Elsass. Besonders auffällig ist, dass mehrere Personen in den Erzählungen in „Die Heimsucher“ Nasenbluten haben. Möglicherweise beschreibt die mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Autorin hier eine Art Defekt, der den Menschen – und seine unmittelbare Umgebung, so er nicht alleine ist – kalt erwischt und ihn mit seinem Körper und dessen Reaktionen überrascht. Das Blut als Chiffre für das Leben einerseits, andererseits aber auch – nämlich dann, wenn man es verliert – als dessen Umkehrung beziehungsweise Bedrohung des  (Weiter-)Lebens. Jagd, Selbstmord, Friedhöfe, Blut – man könnte vorschnell annehmen, Véronique Bizot sei eine morbide Autorin, vielleicht eine Art Gothic-Schriftstellerin, die sich von den Nachtseiten der Existenz besonders angezogen fühlt. Weit gefehlt. Sie ist gerade das Gegenteil davon: leichtfüßig, sehr skurril und in ihrer Sprache sowie ihrem Stil sehr gewählt und sicher.

Anhand zweier Erzählungen soll hier ansatzweise verdeutlicht werden, wie Bizot schreibt, ihre Sujets wählt und daraus in klaren Worten ihre Texte baut. Die Erzählung „Die Fische“ zeigt einen Mann, der erst im Rentenalter seine Begabung für die Malerei entdeckt hat und der nun, in Paris lebend, Fische malt. Dieser Mann, der vom Erzähler direkt angesprochen wird, ist eine typische Bizot’sche Figur („Sie sind weder sehr sympathisch, noch unbedingt unsympathisch, Sie sind etwas anderes.“). Er hat seine festen Abläufe, trifft sich regelmäßig mit einem Gleichaltrigen in einer Bar, fährt jedes Wochenende zu seiner 98-jährigen Mutter in die Normandie, wo er im Übrigen nicht malen könnte.

Der Gegensatz zwischen Stadt und Land findet sich häufig, so auch in der Erzählung „Auf dem Land“, die etwas umfangreicher und komplexer ist. Darin geht es um drei Geschwister Anfang 20, deren Eltern sich umgebracht haben und die aus einer ehemals wohlhabenden Pariser Familie stammen, welche jedoch unter anderem wegen fortgesetzter Spielsucht ihr Vermögen sukzessive verringerte. Dies hat dazu geführt, dass das Haus am Boulevard Haussmann mit allen Möbeln, Bildern, Schmuck et cetera verkauft werden musste. Die drei Waisen konnten glücklicherweise in ein halb verfallenes Anwesen in der Provinz ziehen. Dort werden sie von einem undurchsichtigen Mann namens Batz unterstützt, indem dieser ihnen Tiere gibt, deren Ertrag er von seinem Verwalter abholen lässt. Unvermittelt sind also drei durch und durch auf mondänes Stadtleben programmierte junge Leute mit Selbstversorgung, manuellen Tätigkeiten, großer Erschöpfung und einer ungewohnten Abhängigkeit konfrontiert.

Diese ohnehin schon reichlich absurde Geschichte – an einer Stelle heißt es einmal: „und abends gehen wir hoch in unser Zimmer, überwältigt von einem Gefühl der Absurdität“ – bekommt noch einmal Drall, als das Geschwistertrio zu einem Abendessen auf Batz’ herrschaftliches Anwesen eingeladen wird. Auch hier beweist Véronique Bizot ihr Können, ihre Form- und Stilsicherheit, indem sie diese Geschichte nicht auseinanderbrechen lässt. Es ist diese Kunst, reale und nachvollziehbare Situationen mit einem absurden oder anscheinend nicht kompatiblen Element zu versehen, wodurch der Text eine der Realität minimal enthobene Ebene bekommt und den Leser einerseits verunsichert, ihm andererseits die scheinbar leichte Kunst literarischen Erzählens offenbart. Das findet man so oder ähnlich auch bei Alan Bennett oder in etwas überdrehterer Form bei Tilmann Rammstedt, der Humor und die Charaktere erinnern dann und wann an Thomas Bernhard. Doch Véronique Bizot ist absolut eigenständig – die mittlerweile drei Bücher, allesamt großartig übersetzt von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz, machen dies eindrucksvoll klar.

Titelbild

Veronique Bizot: Die Heimsucher. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz.
Steidl Verlag, Göttingen 2015.
302 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783869309422

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