Die Umrisse der Zeit sprengen
Philippe Jacottet spürt in „Sonnenflecken, Schattenflecken“ den Details des Lebens nach
Von Matthias Hennig
Leichtfüßig und ernsthaft kommt Philippe Jaccottets Prosa daher. Sie sammelt die Bruchstücke des Lebens in kurzen Notaten, um sie im Glanz des Schönen, Schmerzlichen und Schlichten andauern zu lassen: im Arrangement eines Dichterlebens, gespiegelt in seinen in mehr als 50 Jahren gesammelten Naturbeobachtungen, Lektüren und Reisen, und nicht zuletzt auch in seinen Verstrickungen in Albträume und Leiden, in seine kleinen und großen Tode und Schmerzen: „Was ich suchen muß, sind nicht Worte, sondern was in mir noch nicht zerbrochen ist, oder vielleicht auch nicht zerbräche, würde ich hier dagegenstoßen […] mit der ganzen Kraft meines beharrlichen Lebens“.
Angesichts der Turbulenzen und Kehrtwendungen, die das Leben bereithält, schreibt Jaccottet eine Prosa, die das Natürliche bevorzugt, der Distanz der Vogeltöne nachhorcht, die Schönheit von Farben und Lichtern, das „Brot der Luft“ sucht – und den hohen Ton im Einfachen findet. Theorien und Systeme wirft sie über Bord, lässt sich das große Rad der Gedanken doch nur dann drehen, wenn sich sein Schwung aus dem Detail, aus der Wahrnehmung des Kleinen ergibt. All die Lebensläufe im Zwei-Seiten-Format, die genau beobachteten Totenphysiognomien im Augenblick ihrer Verwandlung, die Stille der Sterbeszenarien, die Ungeschicklichkeiten und Missklänge sich anschließender Begräbnisfeierlichkeiten – wo hätte man sie je so grandios, so atmosphärisch dicht gelesen?
Für den in Grignan lebenden Westschweizer, durch die Aufnahme in die Bibliothèque de la Pléiade schon zu Lebzeiten mit höchsten literarischen Ehren versehen, kann poetische Wahrhaftigkeit nur in einer Nähe zum Häuslichen und Alltäglichen liegen, die gleichwohl meilenweit entfernt von jeder Form von Biedermeierlichkeit ist. Auf einer schwebenden Bahn bewegen sich die Satzketten über das Papier – ganz als hätten sie die Macht, das Ungesagte und Gesagte in einen Energiestrom zu verwandeln, der in seiner eigenen Zeit zirkuliert. Überflüssiges und Weitschweifiges ist aus Jaccottets Notaten herausgefiltert – und doch bleibt die vermeintliche Ungezwungenheit ihrer dahingetupften Beobachtungen einem unsichtbaren Gegengewicht verbunden. Seine Sprache ist groß, weil sie behutsam und leise ist, und weil sie sich in konzentrierter Strenge ganz durchlässig macht für das, was sie an poetischer Spürbarkeit im Intérieur, in den Fugen der Welt entdeckt.
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