Das rechte Maß

In „Metrik und Kulturpolitik“ gibt Remigius Bunia der Verslehre eine neue Basis

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist fast genau 200 Jahre her, dass der Übersetzer Johann Diederich Gries aufgefordert wurde, seinen Übertragungen einen weniger ,fremdländischen‘ Charakter zu verleihen, und darauf erwiderte:

Aber welches ist, möchte ich nun fragen, das ursprünglich deutsche Versmaß, dessen man sich unbedenklich bedienen kann und soll? Dies möchte wol schwerlich auszumachen sein, wenn man auch bis in die älteste Zeit der deutschen Poesie zurückgehen wollte. Ob das Versmaß des ,Niebelungenliedes‘ ursprünglich deutsch sei, darüber lassen sich bedeutende Zweifel erheben, die Minnesänger borgten ihre Versmaße bekanntlich von den Provenzalen. Die leidigen Alexandriner haben wir von den Franzosen bekommen, die fünffüßigen Jamben von den Italienern und Engländern, die Hexameter und andere antike Metra von den Griechen und Römern.

Kann es deutsche Dichtung geben, wenn es kein deutsches Versmaß gibt? Für das von einer Nation träumende 19. Jahrhundert ist das eine ernstzunehmende Frage. Denn man ist zwar von den eigenen Qualitäten bei der Aneignung fremder Literatur überzeugt – es gibt immerhin einen deutschen Homer, Johann Heinrich Voß, und einen deutschen Shakespeare, August Wilhelm Schlegel –, nicht aber von der Reinheit der Verse, mit denen diese Aneignung vollzogen wurde. Der Hexameter, dessen nicht mehr ganz junge Blüte mit Friedrich Gottlieb Klopstock eng verknüpft ist, ist eben doch aus der griechisch-römischen Kulturwelt entlehnt. Die Blankverse, in denen alle Welt auf dem Theater parliert, sind englischer oder, je nach Geschmack, italienischer Herkunft. Und selbst beim deutschesten aller Epen, dem „Nibelungenlied“, muss man mit provenzalischem Einfluss rechnen.

Was Gries und seine Zeitgenossen diskutieren, ist hochgradig brisant. Es geht darum, ob man die Verssprache eines Kulturraums ,rein‘ halten kann, oder ob die äußeren Einflüsse unvermeidlich (oder gar willkommen) sind. Der Disput gehört damit ins Zentrum dessen, was Theorie und Geschichte der Metrik ausmacht.

Dieses Urteil erlauben die Gedanken, die Remigius Bunia in seinem gleichermaßen ambitionierten wie klugen Buch namens „Metrik und Kulturpolitik“ entfaltet. Der Berliner Germanist, von dem man zuletzt in der Juni-Ausgabe des „Merkur“ einen ebenso bitteren wie nötigen Bericht zur Lage des akademischen Mittelbaus in Deutschland lesen konnte, schickt sich mit seinem bei Ripperberger & Kremers erschienenen Werk an, die Metrik in der Germanistik endlich auf festen Boden zu stellen. Dabei zeigt sich: Die auch bei Gries aufscheinende Bewegung zwischen ,eigenem‘ und ,fremdem‘ Metrum ist konstituierend für alle Metrik.

Bunia freilich wählt eine etwas differenziertere Terminologie als ,mein‘ und ,dein‘ oder gar ,wir‘ und ,die‘, wie es Gries noch getan hat. Die Aufnahme ,fremder‘ Muster in die eigene Sprache, also etwa den Hexameter Klopstocks oder die vierhebigen Trochäen, in denen Schlegel und Gries Calderón übersetzten, bezeichnet Bunia als ,Kulturpolitik‘. Sie wird bestimmt durch die Berufung auf Traditionen, inbesondere durch das Aufwerten der eigenen Dichtung mittels Verknüpfung mit den antiken Meistern – oder die Orientierung des Übersetzers an der Form des Originals. Die Behauptung der ,eigenen‘ Verssprache wiederum nennt er in Anlehnung an Ideen Theo Vennemanns das „Vennemann-Axiom“. Hier herrscht die Vorstellung einer (idealen) indigenen Metrik vor, die mit der Zeit ganz natürlich aus der Phonologie einer Sprachgemeinschaft erwachse. Eine solche ,vennemann’sche‘ Metrik lässt sich freilich nirgendwo finden, wie Gries am deutschen Beispiel so eindrücklich zeigt. Für die Theorie und Geschichte der Metrik ist sie aber ungemein wichtig.

Theorie und Geschichte, das sind die beiden Felder, auf denen Bunia sich bewegt. Auf den ersten Blick scheint es, als trenne er strikt zwischen ihnen: Einem Kapitel zur „Allgemeinen Theorie der  Metrik“ folgen Abschnitte zur deutschen, lateinischen, französischen und vielsprachigen Verslehre. Paradiert hier also nach der Theorie die konkrete geschichtliche Ausformung in unterschiedlichen Kulturkreisen? Mitnichten: „Metrik und Kulturpolitik“ hätte nicht auf 250 kleinformatige Seiten beschränkt bleiben können, wenn der Autor nicht alle Teilbereiche miteinander verschränkt und überhaupt eine sehr dichte, effiziente Darstellungsweise gewählt hätte. Es bietet sich an, das Referat von Bunias neuem Ansatz auf die „Allgemeine Theorie“ und das Kapitel zur deutschsprachigen Metrik zu reduzieren – der interessierte Leser mag hier einen Einblick erhalten, der ihn dann von sich aus zur Lektüre der nicht minder gehaltvollen Ausführungen zu den anderen Sprachen anregt.

Bunia geht von einer Irritation aus, die man durchaus nachempfinden kann: Wie kommt es, dass die Literaturwissenschaft – durch ihren Gegenstand zu ewiger Ungenauigkeit verurteilt – sich einbildet, einen Teilbereich mathematischer Exaktheit zu besitzen, nämlich die Metrik, wenn bei genauerem Hinsehen doch auch hier alles vor traditioneller Willkür wimmelt? Welche notwendigen Gründe machen einen Blankvers zu einem fünfhebigen Jambus statt zu einem Trochäus mit Auftakt und männlicher Kadenz? Auf welche Weise überträgt sich das ,quantitierende‘ Muster des lateinischen Hexameters auf sein ,akzentuierendes‘ deutsches Pendant?  Wieso klingen zwei vermeintlich gleich definierte Verse bei zwei Dichtern so vollkommen anders, dass man nach kurzem Zuhören einen Blankvers aus Lessings „Nathan“ von einem aus Schillers „Wallenstein“ unterscheiden kann? Kurzum: Wie kommen all diese Inkonsistenzen zustande, auf die der wache Leser deutscher Verslehren immerzu stößt, wenn doch alles mit abzählbarer Präzision vermessbar ist?

Man muss die Bedeutung dieser Irritation (an-)erkennen, um die Notwendigkeit einer Neuausrichtung einsehen zu können. Das philologische Handwerkszeug, ja selbst die dahinterliegenden abstrakten Vorstellungen sind in hohem Maße ungenügend, was die oft widersprüchlichen und qualitativ fragwürdigen Analysen unterstützt, die man immer wieder zu lesen bekommt. Aufmerksame Verehrer der ,Klassiker‘ werden sicher bemerkt haben, dass schillersche Verse ebenso oft als wohlklingend gerühmt wie als polternd kritisiert werden. Wirkt das wie das Ergebnis einer besonders exakten wissenschaftlichen Vermessung?

Um die Mängel der bisherigen Modelle zu überwinden, schlägt Bunia einige Alternativen vor, von denen die wichtigsten hier genannt seien. Nicht alles davon ist sein Eigenverdienst, er selbst betont, dass er aus früheren Theorien schöpft und im Wesentlichen eine etwas größere Konsistenz in die Begrifflichkeiten und damit verbundenen Modelle bringen möchte. Dennoch lässt sich die „Allgemeine Theorie der Metrik“ als eigenständige und innovative Leistung begreifen. Sie geht von den beiden Teilen der Metrik aus: der Phonologie der jeweiligen Sprache (Prosodie) und den formalen Mustern, die den Vers definieren (metrische Struktur). Beide treten abstrakt oder realisiert auf. Die abstrakte metrische Struktur des Hexameters etwa erlaubt zwölf bis siebzehn Silben mit entsprechend unterschiedlicher Verteilung der Senkungen – ein realisierter Hexameter wurde aus dieser Vielfalt ausgewählt und hat die Gestalt einer konkreten Variante angenommen.  Aus den Doppelungen „Prosodie – metrische Struktur“ und „Abstraktion – Realisierung“ ergibt sich ein komplexes Beziehungsgeflecht, das Bunia in drei Versprogramme unterteilt: Norm, Deduktion und Reziprozität. In der Norm bestimmt die metrische Struktur die Prosodie – ein Dichter wählt ein definiertes Versmaß und unterlegt es mit prosodisch passenden Worten; der Leser (er-)kennt das Maß und liest beziehungsweise rezitiert die konkreten Verse dementsprechend. Im Fall der Deduktion wird das realisierte Versmaß aus der realisierten Prosodie des Verses abgeleitet: Am Klang des Verses erkennt man dessen Struktur. Reziprok schließlich ist ein gegenseitiges Verhältnis, bei dem prosodische und metrische Dimension des Verses sich gegenseitig bedingen und auseinander ergeben. Im Einzelnen arbeiten die Versprogramme auf sehr viel komplexere Weise, aber schon die vereinfachte Darstellung zeigt, dass hier eine Möglichkeit geschaffen wird, die Konstruktionsweise einzelner Texte präziser zu erfassen. Bunia erläutert auch ausführlich, inwiefern Klopstock als ,Erfinder‘ des deduzierenden beziehungsweise des reziproken Versprogramms anzusehen ist und welche Auswirkungen das auf die Art und Weise seines Versbaus hat. Er übersieht dabei nicht den vermeintlich normativen Gestus der Schemata, die Klopstock seinen Oden voranstellt, deutet ihn aber plausibel als Hilfestellung bei der reziproken Erschließung der metrischen und prosodischen Realisierung seiner Verse um.

Klopstock gehört schon ins Kapitel zu den „zwei Metriken der deutschen Sprache“. Hier wirft Bunia einen Blick auf die Geschichte der Metrik in Deutschland, aufbauend auf seinem eigenen theoretischen Entwurf, der zwei Traditionen beschreibt: die akzentbasierte Metrik von Martin Opitz und Gottfried August Bürger einerseits und die dieses Konzept kritisierende Metrik Klopstocks und Karl Philipp Moritz’ andererseits.

Opitz wird traditionell – und recht kurzsichtig – für die Durchsetzung des akzentuierenden Systems in die deutsche Verssprache gerühmt. Das ist unsinnig, weil auch zuvor schon mit Wortakzenten gearbeitet wurde, und irreführend, weil es Opitz‘ eigentliche Leistung verdeckt. Diese liegt Bunia zufolge dezidiert im prosodischen Bereich der Metrik: Opitz habe als erster die Variabilität einsilbiger Wörter erkannt und für die Metrik fruchtbar gemacht. Diese prosodische Entdeckung lässt sich metrisch verwerten, indem Einsilber eine enorme Bereicherung für den Versbau bedeuten. Hebungen und Senkungen lassen sich so einfacher und zugleich abwechslungsreicher verteilen, die Realisierung der metrischen Struktur erhält durch die abstrakten Möglichkeiten der Phonologie einen neuen Entwicklungsschub – die Alternation wird erst durch Opitz‘ Entdeckung zu einer echten Option für Verse in deutscher Sprache.

Diese Entwicklung sei von Bürger fortgesetzt worden, so Bunia, indem er ein achtstufiges Gewichtungssystem für Betonungen geschaffen habe, das ihn zumindest andeutungsweise zu der Erkenntnis geführt habe, dass der Grad der Betonung eines Einsilbers von der Differenz abhängt, also seiner relativen Gewichtung im Vergleich zu den ihn umgebenden Silben. Das ausgefeilte Bewertungssystem der Betonungen erlaubt ein gründlicheres Verständnis der Prosodie des Deutschen, was wiederum die tiefere Einsicht in die Möglichkeiten des Versbaus befördert. Zugleich geht es nicht wesentlich über Opitz hinaus, sondern verharrt beim Zusammenhang zwischen prosodischer Gewichtung und metrischer Hebung.

Gegen diese Verbindung stellte sich Klopstock, dem im Kapitel zur deutschen Metrik die umfassendste Darstellung gewidmet ist. Bunia zeigt auf, dass Klopstock Hebungen nicht nur auf den Wortakzent abbilden wollte, sondern stattdessen mehrere Alternativen vorschlägt. Dazu zählen eine semantische Betonung, die gerade bei emphatischer Rezitation zum Tragen kommt, oder die Länge einer Silbe, bedingt durch die Fülle von Konsonanten, die dem zentralen Vokal folgen – je mehr Laute gesprochen werden, desto eher kann die Silbe also eine Hebung tragen. Klopstock erweitert die metrischen Möglichkeiten damit erheblich, genauso wie durch seine Theorie des Wortfußes, die den Versfuß (etwa den Jambus) zugunsten der größeren Einheit des Syntagmas, der zusammenhängenden und zusammenklingenden Wortfolge, ablehnt. Schließlich erlauben seine freien Rhythmen ein deduzierendes Versprogramm, was für Autoren und Rezipienten gleichermaßen neuen Raum für Ausdruck und Reproduktion schafft. 

Der letzte in der Reihe der oben genannten Dichter ist Karl Philipp Moritz, den Bunia vielleicht etwas zu knapp abhandelt. Er sieht im „Versuch einer deutschen Prosodie“ zwar die Bemühung um eine Synthese der opitz’schen und der klopstock’schen Theorien, benennt aber auch den unmöglich aufzulösenden Widerspruch, dass Moritz versuche, einem normativen Versprogramm die Möglichkeit des deduzierenden Vorgehens zuzusprechen – ein Ding der Unmöglichkeit, bedenkt man, dass die jeweiligen Bewegungen doch absolut gegenläufig und somit unvereinbar sind.

Was gewinnt man nun aus Theorie und Geschichte? Ein Blick zurück: Gries hatte die fremdsprachigen Ursprünge von Alexandriner, Blankvers und Hexameter benannt und damit behauptet, dass es kein genuin deutsches Versmaß gebe. Dem Ideal des Vennemann-Axioms erteilt er damit eine klare, kulturpolitische Absage: Die Metren, die in der deutschsprachigen Dichtung verwendet werden, lassen sich auf vielfältige kulturelle Einflüsse zurückführen und partizipieren an ,großen‘ Traditionen wie der griechisch-lateinischen. Interessant daran ist die Art und Weise, wie sie ins Deutsche übernommen werden. Ob die Vorlage nun ,quantitierend‘ oder ,silbenzählend‘ ist, die Phonologie des Deutschen macht eine ,akzentuierende‘ Grundlage erforderlich. Die Art und Weise, wie dieser die Hebung des Verses tragende Akzent zustandekommt, unterscheidet sich von Autor zu Autor mitunter erheblich. Dass sich die opitz’sche Variante durchgesetzt hat, ist keineswegs das Ergebnis einer inneren Notwendigkeit, viel eher lässt sich dies als Minimalkonsens begreifen: Gegenüber der komplexen Akzentsetzung Klopstocks mit ihren Emphasen und Lautzählungen ist die Beschränkung auf den Wortakzent und die Variabilität der Einsilber eine handliche, leicht zu merkende und ebenso leicht umzusetzende Option.

Das bedeutet aber auch, dass ein ,deutscher Hexameter‘ keine eindeutig definierte Sache ist. Bürger folgt anderen Regeln als Klopstock, dieser bildet seine Verse anders als Voß. Mit Hilfe von Bunias Konzept der Versprogramme, mit seiner Terminologie und dem dahinterstehenden Modell lassen sich diese Unterschiede nicht nur historisch, sondern auch theoretisch benennen. Nun kommt es darauf an, diese Werkzeuge zu perfektionieren und zur konsequenten Anwendung zu bringen: Erst ein solch fundiertes, konsistentes Modell der Metrik kann sinn- und gehaltvolle Aussagen über den Versbau eines Textes treffen – welche Optionen für die sich daran anschließende Interpretation daraus entstehen, ist noch abzuwarten.

Zunächst einmal ist aber eine zweite, überarbeitete Auflage von „Metrik und Kulturpolitik“ zu erhoffen. Bunia, nicht verlegen um die Kreation eigener Verse, wenn sich kein handliches Beispiel finden lässt, tappt nämlich selbst in die Falle „mangelnder Schlussredaktion“, die er einer seiner Quellen vorwirft: Die schematische Darstellung des Betonungsmusters eines von ihm gestalteten Hexameters etwa zählt fünfzehn Silben, der Vers aber sechzehn – eine vermeintliche Kleinigkeit, bei einem Geschäft wie der metrischen Analyse aber keineswegs ein bloßer Fauxpas. Eine Überarbeitung könnte dies ausbessern. Auch könnten Ellipsen und orthografische Eigentümlichkeiten wie „Plaidoyer“, die den Lesefluss mitunter etwas hemmen, getilgt werden. Gleiches gilt für den Untertitel, der eine Konzentration auf „Opitz, Klopstock und Bürger“ nahelegt, damit aber den komplexen theoretischen Gehalt und die üppigen Ausführungen zur lateinischen und französischen Metrik unter den Tisch fallen lässt. Unbeeinträchtigt davon liegt mit „Metrik und Kulturpolitik“ ein innovatives und kluges Buch vor, das dem leider manchmal trockenen und oft etwas wackligen Feld der Metrik neues Leben einhaucht und Stabilität verleiht.

Titelbild

Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik. Verstheorie bei Opitz, Klopstock und Bürger in der europäischen Tradition.
Ripperger & Kremers Verlag, Berlin 2014.
272 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783943999112

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch