Von der Poesie des Unerwarteten

Mit Michael Glawogger in „69 Hotelzimmern“ um die Welt

Von Joachim SengRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Seng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„I hab zwar ka Ahnung, wo ich hinfahr, aber dafür bin i g’schwinder durt!“: dieses Bonmot des legendären österreichischen Kabarettisten Helmut Qualtinger hat sein Landsmann, der Filmemacher Michael Glawogger, seinem literarischen Debüt vorangestellt, das tragischerweise zugleich sein Schlussstück ist. Denn noch bevor er das schön gedruckte, orange leuchtende Buch in Händen halten konnte, starb Glawogger am 22. April 2014 in einem Rettungswagen auf dem Flughafen von Monrovia an multiplem Organversagen infolge einer zu spät erkannten Malaria. Ausgerechnet „dieser Abenteurer von Beruf“, der sich, wie die Freundin Eva Menasse in ihrem Nachwort schreibt, „auf seiner leidenschaftlichen Suche nach Bildern und Geschichten auch in kriegerische Winkel der Welt begeben hat“, der in seinen international anerkannten und ausgezeichneten essayistischen Dokumentarfilmen „Megacities“ (1998), „Workingman’s Death“ (2005) und „Whores’ Glory“ (2011), dieser grandiosen Trilogie über Ausbeutung in einer globalisierten Welt – in alle Abgründe von Gewalt, Ausbeutung und Korruption auf diesem Erdenrund geblickt hat, stirbt am Stich einer kleinen Mücke. Er hätte diese Geschichte sicher zu einer dieser kompakten, drei bis sechs Seiten langen Essays gemacht, die vor Poesie, Humor und Lebensneugier nur so funkeln, ja phosphoreszieren, wie es der Einband des Buches „69 Hotelzimmer“ tut.

Dass Humor und Selbstironie zum Gepäck des Autors auf dieser abenteuerlichen Reise um die Welt gehören, zeigt schon der Titel, der an eine beliebte Slapstick-Szene in Verwechslungskomödien erinnert, wenn beim Zuschlagen der Hoteltür aus einer 69 eine 66 oder eine 96 wird. So enthält der Band keine 69, sondern 96 Geschichten – minus einer, weil die Nummer 13 in Hotels meistens nicht vergeben wird. „Hat nicht das Unfertige immer eine gewisse Anziehung?“, fragt Glawoggers fiktiver Erzähler in Sarajevo, in einer dieser 95 essayistischen Kurzgeschichten, die zwischen den Jahren 1936 und 2543 in Hotels zwischen Graz, dem Heimtatort des Autors, und Kuta in Indonesien spielen, als ihm auffällt, dass zwei Drittel der Häuser Rohbauten sind. Die Antwort überlässt er dem Leser, der schnell merkt, dass das „Unfertige“, Fragmentarische zu den wichtigsten Stilprinzipien dieses Autors gehört, der sich damit – vielleicht unbewusst – als Romantiker outet. Ob Glawogger wirklich Friedrich Schlegel gelesen hat, der eine romantische Poesie propagierte, in der „die Teilchen der aufgelösten Schönheit, die Bruchstücke der zerschmetterten Kunst, in trüber Mischung sich verworren durcheinander regen“, ist nicht überliefert. Jedenfalls ist in diesen poetischen Miniaturen alles im Werden, und während die Poesie lebendig und gesellig ist, werden das Leben und die Gesellschaft plötzlich poetisch und durch die Schwingen des Humors beseelt.

Das angeblich Perfekte lässt Glawogger misstrauisch werden. Das zeigt sich in seiner Geschichte aus der „perfekten Stadt“ Singapur, in die der Erzähler als Chronist eingeladen ist, um der Aufführung einer Kim-Eng-Teochew-Oper beizuwohnen, die nicht für Menschen, sondern allein für die Götter bestimmt ist. Als er in seinem perfekten Hotelzimmer den Ablauf des Stücks für die Nachwelt festhalten will, geschieht das Unerwartete: Ein großer Vogel fliegt mit einem Knall gegen die Fensterscheibe und bringt die perfekte Welt für einen Augenblick durcheinander. Wie Glawogger die Rettung dieses Vogels beschreibt, die Szenerie des perfekten Hotels entwirft und die Verwirrung des perfekt gestylten Hotelpersonals, ist ein großartiges Beispiel für diese Art der Poesie, die er in einem Interview wie folgt umschrieb: „I want to deconstruct the world. I want to show how complicated it is. I want to show that there is beauty in the horrible things“.

Diese kleinen Geschichten, die nur für eine Zigarettenpause geschrieben sind, für die Zeit im Niemandsland des Flughafens zwischen Einchecken und Boarding, wie es allzu bescheiden im Vorwort des Autors heißt, sind meisterhaft komponiert. Hier zeigt sich der versierte Filmemacher. Denn wie in einem guten Film sieht man die großartigen Bilder an sich vorbeiziehen, leicht, poetisch, humorvoll, teilweise bedrückend und bitter, und vergisst dabei, die geschickte Kunst des Schnitts, des Sounds, der beschriebenen Details, mit denen in den episodenhaften Kurztexten der bunte Haufen von Einfällen gebündelt wird. Das Buch setzt, so heißt es in einer Besprechung,  „das Glück der Glawogger-Filme literarisch fort, die atemberaubende Unbefangenheit des Blicks, die kompakte Beschreibung, die Fernes unerwartet vertraut, Naheliegendes irritierend fremd macht“. Dieses Glück verdankt sich einer Methode, die Glawogger in einem seiner letzten Interviews beim Namen nannte: „‚anticipitating serendipity‘ – den Glücksfall vorausahnen. Man fährt und fährt und fährt, und denkt sich, was das überhaupt soll. Und dann passiert etwas, gerade wenn man es nicht erwartet“. Diesen Glücksfall erlebt der Leser in diesem Buch in jeder Hotelgeschichte, weil auch die Erinnerungen, an denen uns der Autor teilhaben lässt, nicht vorhersehbar sind. Sicher ist nur: das Unerwartete wird geschehen und Glawoggers vitale Lebensneugier und Reiselust führt uns hinein ins pralle, ungeschminkte Leben – auch wenn es sich in abgelegenen Hotels oder in einem Truck-Stop-Motel in Slowenien zu verbergen sucht.

Der Filmemacher und Autor ist ein genauer Beobachter der Wirklichkeit. Er lässt seinen Blick ruhig über die Szenerie wandern, die ihn umgibt, und der Leser folgt den detailreichen Schilderungen wie den Bildern eines Films. „Die Wirklichkeit hat ja nichts zu beweisen, dachte er, sie ist entweder gefährlich oder nicht“, heißt es schon zu Beginn der ersten Geschichte, der mit Schüssen beginnt, die der Erzähler nicht zuordnen kann. Sie spielt in einem Mafiahotel in Mexiko und entfaltet sich ruhig und abgründig vor den Augen des Lesers. „Anticipitating serendipity“: Glawogger ist geduldig, neugierig und großzügig im Entwerfen poetischer Bilder und voller Empathie für die Menschen, über die er schreibt. Einen „unbändigen Hunger nach Welt“ hat man ihm, dem Weltreisenden, nachgesagt, doch es ist vor allem der Hunger nach oder besser die Lust an der Schönheit der Welt, die sich an abgelegenen Orten, in schmutzigen Dingen und schrecklichen Momenten zeigt. So etwa in einem Hotel unweit einer Edelsteinmine in Tansania, wo sich durch die Sprengungen und die Arbeit unter der Erde alles schwarz färbt – auch der Körper der weißen Menschen, die dort zu Gast sind und die die Minenarbeiter bei ihrer schweren Arbeit beobachten. Während der Erzähler und seine Frau, mühsam gereinigt, am nächsten Tag das Hotel wieder verlassen, sieht er aus dem Autofenster weiße Leinentücher im Garten hängen: „Eines davon hatte noch die schwachen Umrisse zweier schlafender Körper, die wirkten, als hätte sie jemand mit einem riesigen Bleistift darauf gezeichnet. Er fragte sich, wie oft man dieses Leintuch noch würde waschen müssen, bis man sie nicht mehr erkennen konnte.“ Das sind starke poetische  Bilder, von denen es in diesem Weltbilderbuch nur so wimmelt.

Auch grausame Diktaturen haben schöne Hotels. Etwa Nordkorea, wo der geladene Gast nur im Hotelzimmer ohne „Aufpasser“ bleibt und aus dem Fenster auf Pjönjang hinunterblickt, die Stadt, die friedlich und sauber vor ihm liegt. „Der Anblick erinnerte ihn an den Wienerwald: Ein Wald ohne Unterholz, mit geordneten Bäumen und praktisch ohne wilde Tiere (zumindest keine in Freiheit).“ Welch großartig skurriles und scharfsinniges Bild: die Diktatur als Wienerwald. Einzigartig der Versuch, seinem nordkoreanischen Begleiter das Prinzip von Dick und Doof zu erklären, deren Filme er im Flieger gesehen hatte: „Das sind zwei Herren, die nie das tun, was man von ihnen erwartet, obwohl sie sich sehr bemühen, genau das zu tun. Aus ihrem unerwarteten Tun entsteht aber am Ende genau das, was man erwartet hat. Und das ist dann lustig, weil es im Unerwarteten vorhersehbar ist“. Herr Min Yongha kann das nicht verstehen. Er hat in seiner Diktatur keinen Begriff davon, was etwas Unerwartbares ist. Glawoggers hellsichtige Essays wird er daher auch nicht verstehen können, weil sie gerade um des Unerwartbaren Willen geschrieben sind. Jede Geschichte kreist um eben diesen Moment; vielleicht könnte man sogar von der ‚Poesie des Unerwarteten‘ sprechen, die Glawogger sucht und auf unnachahmliche Weise beschwört. Dabei taugt ihm das Hotelzimmer nur als Surrogat von Heimat, es ist ihm lediglich ein Fixpunkt, das Basislager, von dem aus er seine Erkundungen durch die Welt startet.„Do you ever go to any nice places?“, fragt der Zollbeamte den Reisenden, als er dessen Reisepass kontrolliert und darin die Visa für Nordkorea, Syrien, Pakistan, Tschetschenien und Aserbaidschan findet. Nein, die schönen Plätze, die erwartbaren Orte und Sehenswürdigkeiten, die Touristen gerne besuchen und fotografieren, waren Glawoggers Sache nicht. Auch mit dem neuen Filmprojekt, an dem er arbeitete, als er im afrikanischen Liberia starb, wollte er neue Wege gehen. Der Arbeitstitel hieß vielversprechend „Untiteled – Der Film ohne Namen“. Er und sein Team hatten es auf ihrer Weltreise schon über den Balkan nach Italien, Marokko, Mauretanien, den Senegal, Guinea und Gambia, bis nach Harper in Liberia gebracht. Für die Süddeutsche Zeitung schrieb Glawogger damals einen Doku-Blog, dessen letzte Folge mit einer persönlichen Erinnerung beginnt, die sich in verwandelter Form auch in einer der Hotelgeschichten findet:

„Als Kind hatte er immer gedacht: Die Welt ist doch so groß. Er hatte nicht verstehen können, wieso sich ein gesuchter Verbrecher nicht einfach irgendwo versteckt, wo ihn niemand findet. […] Hier müsste man sich doch verstecken können. Wo, wenn nicht hier? Aber er war weiß, weiß und fremd. Er gehörte nicht hierher. […] Die Welt ist also doch zu klein, um sich zu verstecken. So sehr er es auch durchdachte, es gab wohl nirgendwo einen Ort, wo man hinkonnte, um unsichtbar zu werden. Es gab keinen Platz, der so abgelegen war, als dass man als Fremder keine Papiere gebraucht hätte. Und doch blieb der alte Kindergedanke in seinem Kopf hängen wie ein Lied: Die Welt ist so groß, man muss sich doch irgendwo verstecken können, wo einen keiner findet.“

Sich ganz zu verstecken, ist Michael Glawogger auch in seinen Kurzgeschichten nicht gelungen. Er verschwindet nicht gänzlich hinter der selbstgewählten dritten Person, die er benutzt; immer wieder stößt man auf autobiographische Versatzstücke. Es sind Erinnerungen an viele Hotelzimmer, die uns dieser rastlose Wanderer zwischen den Kontinenten – dieses „Fluchttier“ – bei seiner literarischen Weltumrundung präsentiert. Dabei lässt Glawogger mit sprachlichen Mitteln genau jenes Abbild der Welt entstehen, das dieser Weltbürger für seinen unvollendeten Film im Sinn hatte, wie Eva Menasse im Nachwort anmerkt.

Die letzte Geschichte des Buches endet an einem Bahnsteig in Karlsruhe: „Ohne eine Fahrkarte zu kaufen, bestieg er den nächsten Zug und fuhr weiß Gott wohin.“ Von Glawoggers Ende her betrachtet wirkt dieser Satz wie eine Prophezeiung oder vielleicht auch nur wie der unerwartete Beginn einer neuen Geschichte: „Cause there’s my home / it’s not in here / and only there is where we meet“, wie es am Ende seines Liedtextes heißt („Where we meet“), den Maike Rosa Vogel vertont hat.

Sein Buch „69 Hotelzimmer“ ist nun postum in der Anderen Bibliothek erschienen, jener legendären Reihe des schönen Buches. Dort, wo auch Werke anderer großer Reisender wie Alexander von Humboldt, Georg Forster, Adelbert von Chamisso oder Johann Kaspar Riesbeck erschienen sind, ist Glawoggers Meisterwerk gut aufgehoben. Die Stiftung Buchkunst hat es in der Kategorie „Allgemeine Literatur“ schon zum schönsten Buch des Jahres 2015 gewählt. Das bezog sich freilich auf das äußere Erscheinungsbild, den Buchrücken, den Kartonschuber und die Helligkeit des Bandes, der selbst im Dunkeln wie eine Leuchtreklame wirkt. „Die Buchseite wird zur Zimmertür“ und das typographische Bild des Ganzen wirkt „abstrakt und konkret zugleich“, heißt es in der Begründung. Das gilt auch für Glawoggers meisterhafte Texte selbst. Also hereinspaziert, liebe Leserinnen und Leser. Es sind nicht die schlechtesten Bücher, die uns die Welt und die Augen öffnen – und die wenigsten tun es auf eine vergleichbar geistreich-humorvolle und zugleich poetische und unerwartet romantische Weise.

Titelbild

Michael Glawogger: 69 Hotelzimmer.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2015.
408 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783847720102

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