Rufer in der Wüste oder Federkrieger?

Engagierte Kinder- und Jugendliteratur gegen den Nationalsozialismus systematisch erforscht

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In fünf Kapiteln ruft die Dissertationsschrift von Julia Benner in Erinnerung, dass in den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts „engagierte Literatur“ gezielt für Kinder und Jugendliche verfasst wurde: (Erzähl-)Texte von Erika Mann, Béla Balázs, Adrienne Thomas, Friedrich Wolf, Lisa Tetzner und Kurt Kläber werden hinsichtlich der jeweiligen „Position gegen den Nationalsozialismus“ systematisch untersucht. Die These der Autorin knüpft an Vorarbeiten von Ine Van linthout und Peter Hollindale an, indem sie betont, dass „gerade dem Kinder- und Jugendbuch zur Zeit des Nationalsozialismus eine Schlüsselfunktion innerhalb der Propaganda und Gegenpropaganda“ zukam. Denn Kinder galten als leicht beeinflussbar und nachhaltig indoktrinierbar, sodass es nicht verwundert, dass Benner mehr als 40 Autorinnen und Autoren im Exil identifiziert, die explizit für den Adressatenkreis der Kinder und Jugendlichen Bücher geschrieben haben. In nuce geht es ihr aber um eine Zusammenschau der Kinder- und Jugendliteratur (im Folgenden KJL), „die innerhalb und außerhalb Deutschlands in Umlauf gebracht worden ist“. Ein beachtliches Unterfangen, das bemerkenswerte Erkenntnisse verspricht.

Methodisch verfolgt sie einen Forschungsansatz, der – ideologiekritisch verortet – untersucht, wie durch KJL Ideologien transportiert und der jungen Generation vermittelt wurden. Die diversen Textanalysen folgen dem Prinzip des „close readings“, verstanden als hermeneutisch orientiertes „gegen-den-Strich“-Lesen, indem neben den Primärtexten diverse Selbstzeugnisse, Rezensionen und zeitgenössische Publikationen Berücksichtigung finden. Bereits im Einleitungskapitel fällt bei der Lektüre positiv auf, dass sich Benner um eine präzise Terminologie bemüht: Unter „engagierter KJL“ versteht sie „Literatur, die eine politische bzw. ideologische Beeinflussung von Kindern und/oder Jugendlichen intendiert“. Sie differenziert ferner innerhalb der kontrafaschistischen Literatur zwischen expliziter, impliziter oder camouflierter Bezugnahme auf den Nationalsozialismus, gestützt auf die Unterscheidung ihres Betreuers Heinrich Detering, der „camoufliert“ in Verbindung setzt mit Strategien von literarischer Maskierung tabuisierter Themen oder Aussagen, um den Autor zu schützen.

Im zweiten Kapitel rekonstruiert Benner die zeitgenössische Ausgangslage, verknüpft mit der Frage, wie und ob KJL als Waffe gegen den Nationalsozialismus eingesetzt werden konnte. Drei Ergebnisse verdienen eine Hervorhebung: Erstens ist der Autorenkreis kontrafaschistischer Literatur weitgehend auf kommunistisch-linksradikale beziehungsweise jüdische Gruppen beschränkt. Zweitens ist die Zielsetzung der entsprechenden KJL sehr heterogen und reicht von Halt- und Orientierungsfunktion bis zu proletarisch-revolutionärer Agitation und Propaganda. Drittens konstatiert Benner einen – auch von Zeitgenossen beklagten – Mangel an „guter“ KJL, da Bücher „ohne Gefühl für Sprachliches in schlechtem Stil“ erschienen sind, wie der jüdische Literaturkritiker Hans Epstein bereits 1936 formulierte.

Das dritte Kapitel ist der Literaturproduktion in den Jahren 1933 bis 1945 im KJL-Segment gewidmet. Hier richtet sich der Blick zunächst auf das Deutsche Reich, in dem es „nur sehr schwer möglich [war], kontrafaschistische Texte zu publizieren“ – höchstens illegal und mit dem Risiko scharfer strafrechtlicher Sanktionen. Er richtet sich aber auch und besonders auf die Exilsituation. Eine Sonderrolle arbeitet Benner für die jüdische KJL zur Zeit des Nationalsozialismus heraus, die zwar zunehmend aus dem Literaturbetrieb in Deutschland ausgegrenzt wurde, aber dennoch bis kurz vor Kriegsbeginn „Möglichkeiten eines NS-kritischen Schreibens“ hatte, publiziert etwa im Philo-Verlag oder Kedem-Verlag. Dabei wird die Zeitgeschichte oftmals „im Kontext von Flucht und Vertreibung thematisiert“ – beispielsweise von Autoren wie Meta Samson oder Hans Martin Schwarz –, ferner im Rückgriff auf jüdische Riten und Feiern – etwa in Leo Hirschs „Das Lichterhaus im Walde“ – oder auf die Form des historischen Romans bei Felix Grajew, Fritz Rothgießer oder Bernhard Cohn.

Lediglich die Situation der KJL im Exil ist mangels fundierter Studien bis dato unübersichtlich, sodass Benners lesenswerte Arbeit hier erstmals einen bedeutsamen Textkorpus erschließt. Sehr gelungen ist die länderspezifische Betrachtungsweise, die große Unterschiede im Raum für kontrafaschistische KJL aufzeigt und dokumentiert, „wo wer welche Kinder- und Jugendliteratur erstmals veröffentlichen konnte“: Sie analysiert differenziert und systematisch den Literaturmarkt für deutschsprachige KJL in der Tschechoslowakei, den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien, der Schweiz, Schweden und Norwegen, der Sowjetunion, den USA sowie Argentinien und Mexiko. Dabei kann sie erstens zeigen, dass „es gerade jungen Autorinnen und Autoren gelungen ist, in Übersee Bücher zu publizieren“, wobei alle Exil-Autoren mit Sprachschwierigkeiten, Visa-Problemen, Heimatverlust und Sorgen um Angehörige zu ringen hatten. Zweitens hat es scheinbar bis auf ganz wenige Ausnahmen kaum „Exil-Verlage mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur“ gegeben, was vor allem der Sprachsituation und der Stellung des Deutschen im internationalen Literaturmarkt geschuldet gewesen ist. Drittens wiesen die erschienenen Texte eine große thematische Bandbreite auf, wobei einige Texte explizit der Kriegspropaganda zugeordnet werden können, ferner die „Frage der ‚Umerziehung‘ der deutschen Kinder und Jugendlichen bzw. Jugend (…) mit zunehmendem Kriegsverlauf immer intensiver diskutiert“ wurde.

Im vierten Kapitel widmet sich Benner den Texten von vier Autorinnen und Autoren, die exemplarisch analysiert werden: Maria Gleits „Pierre Keeps Watch“, 1943 in den USA publiziert, Fritz Rothgießers historische Erzählung „Das Knabenschiff“, das exemplarisch für camouflierte KJL aus dem jüdischen Segment 1936 in Deutschland im Philo-Verlag erschien, Lisa Tetzners „Die Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus Nummer 67“, eine Serie von neun Bänden, die zwischen 1932 und 1947 veröffentlicht worden sind, und schließlich Kurt Helds bis heute bekannter Bestseller „Die rote Zora und ihre Bande“, 1941 bei Sauerländer mit dem Untertitel „Eine Erzählung aus Dalmatien für die Jugend“ erschienen. Im Detail gelingen Benner schlüssige Textbetrachtungen, die durch zahllose signifikante Kontextinformationen gestützt und erläutert werden.

Das fünfte Kapitel meistert mustergültig die Zusammenführung der Einzelanalysen und die Ableitung von Gesamtdeutungen: Ein wichtiges Ergebnis ist die Dominanz der Camouflage in der kontrafaschistischen KJL, die in Deutschland publiziert wurde, wohingegen in den USA und der UdSSR „viele explizit kontrafaschistische Texte“ entstanden sind. Des Weiteren zeigt die Musterung des Exil-Korpus, dass „Tiere eine zentrale Rolle in Bezug auf kontrafaschistische Schreibtechnik“ besitzen, da sie kindgerecht viele Botschaften vermitteln können. Drittens arbeitet auch die KJL mit Stereotypen, indem sie Nazi-Figuren „als niederträchtig, bösartig und verbrecherisch“ darstellt, welche aus blindem Gehorsam, Brutalität oder aus Egoismus heraus handeln. Viertens existiert ein diffuser Wertekanon in der kontrafaschistischen KJL, der um Freiheit, Lebensrecht, aber auch Solidarität und Ablehnung des Nationalsozialismus kreist. Schließlich treten die KJL-Autoren des Exils „für eine neue Gesellschaft ein, die von alten Werten und neuen Ideen geprägt sein und die Fehler der derzeitigen Erwachsenen nicht wiederholen sollte“. Sie sehen sich als „wahre Erzieher“ der nachkommenden Generationen.

Resümierend kann Benners Studie in beeindruckender Weise die Vielfalt des geschriebenen Widerstands aufzeigen, der als regimekritische KJL nicht nur auf das Exil beschränkt geblieben ist. Oppositionelle Töne, die sich mehr oder weniger vehement gegen den Nationalsozialismus äußerten, hat es offensichtlich viele gegeben, umso mehr erstaunt, dass viele dieser Werke in Vergessenheit geraten sind, was den kulturellen Bruch der 1930er- und 40er-Jahre erneut vor Augen führt. Es ist die Leistung der Autorin, zahlreichen Spuren nachgegangen zu sein und einen voluminösen Korpus an Primärliteratur zusammengetragen beziehungsweise ausgewertet zu haben. Dabei verkennt Benner nicht die Grenzen ihrer individuellen Forschungsarbeit, indem sie explizit auf weitere Desiderata verweist: wie zum Beispiel den Einfluss der Jugendbewegung auf die KJL, die Rolle von Theaterstücken, Genderperspektiven oder der Verlagslandschaft im Exil für die KJL. Insofern regt sie mit guten Gründen Folgestudien an, die komparatistisch angelegt sein könnten, um Vergleiche „zwischen den kontrafaschistischen Kinder- und Jugendbüchern und der nach 1945 veröffentlichten KJL, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt“, anzustellen. Nicht zuletzt verdankt die KJL-Forschung aber der Studie von Benner vor allem die Wiederentdeckung von zahlreichen aus dem kulturellen Gedächtnis verschwundenen Werken beziehungsweise Texten von Autorinnen und Autoren wie Friedrich Feld, Kurt Kläber oder Irmgard von Faber du Faur, um nur einige von vielen zu nennen.

Titelbild

Julia Benner: Federkrieg. Kinder- und Jugendliteratur gegen den Nationalsozialismus 1933-1945.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
414 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317475

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch