Wie werden die ‚digital natives‘ lesen und schreiben?
Henning Lobin erzählt die Geschichte der Veränderung des Lesens und Schreibens durch den Computer und wagt Prognosen für die Zukunft
Von Wolfgang Imo
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUm den etwas kryptischen Titel des Buchs – Engelbarts Traum – gleich zu Beginn aufzulösen: Es handelt sich dabei um Dr. Douglas C. Engelbart, der im Jahr 1968 ein zu diesem Zeitpunkt utopisch-futuristisch anmutendes Computersystem präsentierte, das eine völlig neuartige, benutzerfreundliche Struktur aufwies und die nahtlose Integration von Schreiben, intuitivem Bearbeiten und Präsentieren von Texten erlaubte. Mit anderen Worten: Es wurde die Blaupause für den alltagstauglichen Personal Computer vorgestellt. Seit 1968 ist Zeit vergangen – wenig Zeit, wenn man die Entwicklung der Menschheit insgesamt betrachtet, viel Zeit, wenn man die Entwicklung digitaler Technik in den Blick nimmt. Innerhalb von noch nicht einmal einem halben Jahrhundert haben sich Computer von einem teuren, nur für Spezialisten zugänglichen und umständlich zu bedienenden Werkzeug zu einem Alltagsphänomen gewandelt, mit dem schon Kleinkinder vertraut sind, die heutzutage als ‚digital natives‘ aufwachsen (der Verfasser dieser Rezension gehört dagegen schon einer älteren Generation, den ‚digital immigrants‘, an).
Die Frage, die Lobin stellt, ist: Welche Auswirkungen hat die Integration des Computers – besser gesagt, die Digitalisierung unseres Lebens, die sich in Hardware wie Smartphones, Tablets, Notebooks etc. ebenso wie in Software sowie in Infrastruktur wie dem Internet, W-Lan etc. ausdrückt – auf die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens? In insgesamt zehn Kapiteln werden die Entwicklung der Digitalisierung, die bislang von ihr ausgelösten kulturellen Veränderungen und mögliche zukünftige Auswirkungen diskutiert. In Kapitel 1 wird sehr anschaulich die bahnbrechende Präsentation des neuen Computers durch Engelbart vorgestellt und im Anschluss daran die These darüber aufgestellt, wie sich Schreiben und Lesen verändert haben und noch weiterhin verändern werden: „Hybrid, multimedial und sozial – mit diesen Begriffen lässt sich charakterisieren, wie Lesen und Schreiben durch Engelbarts Erfindungen geworden sind. Nicht nur der Mensch ist es, der liest und schreibt, es liest und schreibt auch der Computer. Nicht nur die Schrift ist es, woraus digitale Texte bestehen, sondern auch aus Grafiken, Bildern, Videos und anderem. Und man liest und schreibt nicht mehr nur selbst, sondern gemeinsam mit anderen. Das digitale Lesen und Schreiben ist hybrid, multimedial und sozial, und damit unterscheidet es sich grundlegend vom Lesen und Schreiben, wie es bis dahin in der Schriftkultur gewesen ist.“
Im zweiten Kapitel zu den „Kulturtechniken Lesen und Schreiben“ wird sehr knapp, aber anschaulich definiert, was unter Kulturtechniken zu verstehen ist und was das Zeichensystem der Schrift ausmacht. Hier wäre manchmal eine etwas detailliertere und vor allem auch konzeptionell schärfere Darstellung sinnvoll gewesen: Beispielsweise wird der in diesem Kontext doch sehr zentrale Medienbegriff nicht reflektiert. Gelungen, wenn auch ebenfalls äußerst knapp gehalten, sind kurze Unterkapitel über die „Schrift in unseren Köpfen“ und die historische Entwicklung des Schreibens.
Die Knappheit der Darstellung und das Bemühen, das Buch so einfach wie möglich zu schreiben, führt auch im folgenden Kapitel über die „Schriftkultur“ leider oft zu ungenauen und oberflächlichen Darstellungen, wie beispielsweise bei der Definition von ‚Kultur‘ oder von ‚kultureller Kommunikation‘. Hier wird deutlich, dass sich das Buch eindeutig nicht an ein Fachpublikum richtet, sondern als ‚leichte Lektüre‘ an ‚jedermann‘. Auch der Abriss der Entwicklung vom handschriftlichen Dokument zum Gutenberg-Druck auf nur zwei Seiten hätte gerne ausführlicher sein können. Gelungen ist dagegen das Kapitel zu den Infrastrukturen, die im Gefolge des Buchdrucks entstanden sind, wie Druckereien, Verlage, Bibliotheken, Techniken des Offsetdrucks, Schreibmaschine, Computer etc., sowie zu den mit Schreiben und Lesen assoziierten gesellschaftlichen Institutionen (Schule, Universität, Forschungseinrichtungen, Pressewesen). Der beste Teil dieses Kapitels ist die Diskussion der Werte und Mythen, die durch die Schriftkultur entstanden sind, unser Denken bis heute prägen und entsprechend zu Konflikten führen, die durch die Digitalisierung hervorgerufen werden: Die Wertschätzung des gedruckten Wortes (Konflikt: informelle Schriftlichkeit in WhatsApp-Nachrichten, E-Mails, Blogs etc.), das Urheberrecht (Konflikt: leichtes Kopieren und Verbreiten von Texten durch Computer und Internet), das Briefgeheimnis (Konflikt: die Entprivatisierung privater Kommunikation in sozialen Netzwerken), die Normierung der Sprache (Konflikt: Sichtbarkeit informeller Alltagsschriftlichkeit im Internet), die Bildung durch Lesen (Konflikt: Neue Lesegewohnheiten durch Hypertexte und ‚häppchenweises‘ Lesen), Autorität des Textes (Konflikt: Texte, die wissenschaftlich wirken, aber es nicht sind, wie z.B. falsche Wikipedia-Artikel) oder Pressefreiheit (Konflikt: Zensur im Internet wirkt beinahe unsichtbar). Alle diese Aspekte werden nur sehr kurz angerissen, regen aber zum Nachdenken über die momentane Situation des digitalen Lesens und Schreibens an.
In Kapitel 4 wird ein Abriss über die technische Seite der Digitalisierung gegeben, angefangen von Leibniz’ Binärsystem über Touring bis hin zur Diskussion der Codes hinter den digitalen Texten. Das Kapitel ist leicht verständlich geschrieben, allerdings sehr knapp und daher zwangsweise oberflächlich. Es folgt in Kapitel 5 eine Diskussion der neuen Technologien des Lesens: Was bedeutet es, wenn herkömmliches Lesen zu ‚digitalem Lesen‘ (auf E-Book-Readern, Bildschirmen etc.), ‚hybridem Lesen‘ (menschliches Lesen, das durch maschinelles Lesen wie durch die google-Suchmaschine, durch ‚text mining‘, durch ‚eye-tracking‘, d.h. das Verfolgen der Augenbewegungen des Lesers und das automatische Anpassen des Texts je nach Augenbewegung oder durch automatische Texterkennung unterstützt wird), ‚multimodalem Lesen‘ (Integration von Bildern, Videos oder Audiodateien in Texte) und schließlich zu ‚sozialem Lesen‘ (Kommentieren von Büchern bei Amazon, Einstellen von Leselisten in sozialen Netzwerken etc.) wird?
Der Analyse der neuen Technologien des Lesens folgt die der neuen Technologien des Schreibens. Auch hier wird herkömmliches Schreiben zu ‚digitalem Schreiben‘ (unterstützt durch automatische Wortvervollständigung wie der T9-Software beim SMS-Schreiben oder durch Smartpens, etc.), ‚hybridem Schreiben‘ (bei dem der Computer durch automatische Textformatierung, automatische Übersetzung, Autokorrekturen bei der Texterstellung, Einfügen von Textbausteinen etc. mithilft), ‚multimodalem Schreiben‘ (protypisch sind hier PowerPoint-Präsentationen mit Bildern, Videos und animierten Grafiken zu nennen) und zu ‚sozialem Schreiben‘ (kollaboratives Schreiben wie bei Wikipedia, Diskussionsforen, Verlinkung von Texten im Netz).
Die beiden Kapitel zu neuen Technologien des Lesens und Schreibens sind zwar ebenfalls wieder eher oberflächlich und reißen viele Aspekte an, ohne sie tiefergehend zu verfolgen, sind aber anregend zu lesen und machen die Veränderungen bewusst, die sich in den letzten Jahrzehnten bereits ereignet haben und von denen weitere Auswirkungen in der Zukunft zu erwarten sind. Speziell mit diesen Veränderungen befasst sich Kapitel 7 mit der Frage „Was vergeht? Was entsteht?“. Eine Entwarnung in Bezug auf kulturpessimistische Befürchtungen wird dabei insofern gegeben, als das Lesen selbst nicht nur bleibt, sondern immer wichtiger wird. Allerdings wird sich das ‚wie‘ des Lesens ändern: Die Beschäftigung mit langen, kohärenten Texten wird abnehmen zu Gunsten von kleinteiligen, multimodalen Texten. In einer Utopie – oder Dystopie – entwirft Lobin Szenarien, in denen in der Zukunft beim Lesen durch das Erfassen der Blickbewegungen der Leserinnen und Leser die Texte automatisch hinsichtlich ihrer Schriftgröße aber auch ihres Layouts angepasst werden, wo man sich nach Belieben Texte zusammenfassen oder vereinfachen oder sich den Text in schematisierten Darstellungen anzeigen lassen kann. Ähnlich utopisch-dystopisch sind die Entwicklungen, die sich beim Schreiben abzeichnen: „Die Verlagerung von Teilbereichen des Schreibens auf den Computer wird uns davon befreien, mit den ‚Niederungen‘ des Textes umgehen zu müssen. Orthografie, Interpunktion, Stil, sprachliche Korrektheit – all das kann der Computer beim Schreiben in absehbarer Zeit übernehmen.“ Ähnliche Veränderungen sind auch bei den lese- und schreibbezogenen Tätigkeiten des Forschens, Lernens und Informierens (Pressewesen) zu erwarten. Diese Zukunftsszenarien sind anregend zu lesen, hätten gerne aber ausführlicher dargestellt werden können.
Dabei hätte umgekehrt Kapitel 8 mit dem Titel „Die Evolution der Kultur“ gekürzt werden können: Dieses sehr lange (und langatmige) Kapitel wirkt wie ein Fremdkörper im Aufbau des Buches. Es wird ausführlich die auf Dawkins (1976) Arbeiten aufbauende Theorie der Meme dargestellt und die Digitalisierung in diesem Sinne interpretiert. Ein Mehrwert dieser Analyse ist aber nicht zu erkennen, vielmehr schließt das darauf folgende Kapitel 9 nahtlos an Kapitel 7 an, in dem anhand bereits momentan stattfindender Tendenzen der Digitalisierung die Chancen und Gefahren der neuen ‚Digitalkultur‘ beschrieben werden. Eindrucksvoll wird das selbstreferenzielle System automatisierten Lesens und Auswertens am Beispiel eines Börsenskandals geschildert: Weil ein Internetnutzer mitten in der Nacht einen mehrere Jahre alten Zeitungsartikel aus einem Zeitungsarchiv im Internet gelesen hatte, in dem von der Pleite einer Airline die Rede war, landete dieser Artikel bei Google auf der ‚am meisten gelesen‘-Seite (einfach deshalb, weil es mitten in der Nacht war, und keine anderen Artikel gelesen wurden). Automatische Börsennachrichtendienste griffen die Information über die vermeintliche Pleite auf, und bis der Fehler erkannt war, war der Börsenkurs der Airline bereits abgestürzt – und erholte sich auch nach der Aufklärung nicht wieder vollständig. Diese Anekdote legt eindrucksvoll dar, welche Gefahren hinter zu viel Vertrauen in die automatisierten Lese- und Schreibprozesse im Internet lauern können. Das Fazit von Lobin im letzten Kapitel lautet: Verhindern lässt sich die Digitalkultur nicht mehr. „Was uns bleibt, ist nur, bestimmte Tendenzen zu fördern, andere zu behindern. […] Engelbarts Traum einer hybriden, multimedialen und sozialen Nutzung von Computern muss heute neu gedeutet werden, und damit stehen wir erst ganz am Anfang. Nur so wird aus diesem Traum nicht unser aller Alptraum, nur so halten wir die sich schließenden Kreisläufe von Hyperautomatisierung, medialer Abstumpfung und allumfassender Kommunikationskontrolle für die Interessen von uns Menschen in der Digitalkultur offen.“
Fazit: Das Buch ist unterhaltsam und anschaulich geschrieben, im positiven wie im negativen Sinne ohne wissenschaftlichen Anspruch. Für Experten im Feld computervermittelter Kommunikation sind die Darstellungen zu verkürzt und oberflächlich, Stil und Komplexität erinnern eher an einen Feuilletonartikel. Das macht das Buch entsprechend leicht zu lesen. Trotz der Oberflächlichkeit ist jedoch positiv hervorzuheben, dass die angerissenen Themen immer wieder zum Nachdenken anregen und das Buch trotz der Kritik daher zu empfehlen ist, wobei besonders erfreut, dass der Autor weder unreflektiert der Digitalisierung das Wort redet, noch in Pessimismus verfällt, sondern neutral die Vor- und Nachteile der Digitalisierung schildert: Es macht nicht nur Spaß, sondern ist auch notwendig, Engelbarts Traum weiterzuspinnen und zu überlegen, ob und an welchen Stellen er möglicherweise auch das Potential zum Alptraum hat. Wir können jedenfalls gespannt sein, wie wir in einigen Jahrzehnten (oder schon Jahren) lesen und schreiben werden…
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen