Alles ist vermint

Andrea Štaka zeigt in „CURE“ die psychischen Dimensionen des Jugoslawienkriegs

Von Emily JeuckensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Emily Jeuckens

Krieg und Schuld, Adoleszenz und Wiedergutmachung: Die Regisseurin und Drehbuchautorin Andrea Štaka begibt sich in ihrem autobiographisch geprägten Film CURE – Das Leben einer Anderen auf eine surreale, beklemmende Reise durch das zerrüttete Kroatien der 90er Jahre. Von der Flucht der Protagonistinnen aus einer überhitzten Kirche bis zur eiligen Abreise einige Tage später verfolgt der Zuschauer das Schicksal zweier Teenagerinnen, deren Kindheit von Bomben und Landminen geprägt wurde.

Die 14-Jährige Linda (Sylvie Marinković) kehrt 1993 aus der Schweiz nach Kroatien zurück, nachdem sie mit ihren Eltern vor dem Bürgerkrieg geflüchtet war. Nun ist sie kein Kind mehr und die Eltern sind geschieden – diese biographischen Einschnitte treffen auf das Gefühl von Fremdheit und Isolation in der nur noch aus Erinnerungen vertrauten Stadt Dubrovnik. Hier säumen Minen Straßen und Waldwege, der Krieg hinterlässt ein dröhnendes Schweigen der Traumatisierten – umso fester klammert sich Linda an ihre beste Freundin Eta (Lucia Radulović), das frivole Mädchen aus der letzten Reihe, das trotz ihrer Kriegserfahrungen Lebensfreude und Fernweh beibehalten hat.

Am Palmsonntag schleichen sich die Freundinnen aus der heiligen Messe, rennen durch einen steilen Wald an der Küste um die Wette und verfallen an einer Klippe in ein gefährliches Spiel: Sexuelle Provokation, kindlicher Kleidertausch und Streit um die Rolle der Erwachsenen führen zu Handgreiflichkeiten und einem tödlichen Sturz. Von Schuldgefühlen zerrissen, streift Linda durch die Straßen; immer wieder zieht es sie in die Wohnung von Etas Familie, wo sie den verwaisten Platz der Tochter einnimmt. Sie sucht verzweifelt einen Ausweg aus dem psychischen Terror, den ihr die stets präsente Erinnerung an die Freundin und die letzten gemeinsamen Momente bereitet.

Ein „armes kleines Mädchen“ nannte Eta Linda in den letzten Augenblicken ihres Lebens und traf damit bei ihr eben jenen empfindlichen Nerv, der im Verlauf des Films auch weiter im Fokus steht. Nach der Rückkehr aus der Schweiz und der damit verbundenen Trennung von der Mutter, welche zurückblieb, verstärken sich bei Linda die Konflikte der Adoleszenz. Das Land und die Sprache der Kindheit hat Linda ebenso wie ihre weibliche Bezugsperson zurückgelassen, ihre neue alte Heimat ist dominiert von psychisch labilen Männern und Frauen, die im Krieg Eltern, Kinder oder Partner verloren haben. So sehr sich die Protagonistin auch von ihrem abwesenden Vater emanzipieren will, so wenig identitäre Alternativen bietet ihr der Alltag in dem vom Krieg geprägten Land. Der Sinn des Krieges sei die Unabhängigkeit gewesen, erklärt Eta ihrer Freundin. Auch Linda muss Gewalt und Schmerz erfahren, um unabhängig (oder erwachsen) zu werden, doch auch ihr persönlicher Krieg gegen das Kindliche, das Unweibliche in ihr führt nicht zu Autonomie, sondern zu Schock und Trauma. Die Welt der Erwachsenen scheint zu keinem Zeitpunkt ein wünschenswertes Ziel zu sein. Eingezwängt in die erdrückende Realität der kleinen Stadt bleibt den beiden Mädchen nur die Flucht durch den symbolisch aufgeladenen Wald, der ebenso wie das adriatische Meer eine Grenze um die Stadt zu bilden scheint.

Schon in den Grimm’schen Märchen waren Wälder mehr als zivilisationsferne Orte: Zwischen Baumstämmen, auf Lichtungen und im Schatten warteten Mutproben, Initiationsriten und Gefahren auf die Held*innen. Diesen psychologische Zugang wählt Štaka: In CURE hat die Gewalt der Zivilisation in Form der omnipräsenten Minen Eingang in den mystischen Wald gefunden. So ist der Film eher ein dunkles Märchen als eine Nachkriegsvariante des ikonischen Blair Witch Projects: Misstrauen und Gefahr lernt Linda/Rotkäppchen unmittelbar kennen und ähnlich wie Schneewittchen betritt sie den Wald weit kindlicher, als sie ihn verlässt. Zuletzt stößt sie, für den Moment überzeugt, gegen diejenige vorzugehen, die ihre Weiblichkeit anzweifelt und bedroht, ihre Freundin über die Klippe, wie Gretel, von der eigenen Brutalität überrascht, die ihr zuvor noch überlegene Hexe ins Feuer stößt.

Betäubt von der eigenen Schuld und der Krise, in die sie der Verlust ihrer einzigen Vertrauten  stürzt, wandelt Linda in den folgenden Tagen durch die Stadt – auch ihre Versuche, ihre Tat Autoritätspersonen gegenüber zu gestehen und damit eine Bestrafung herbeizuführen, scheitern. Im Folgenden präsentiert sich die kleine Stadt als ein Sammelbecken für vom Krieg zerrüttete Männer und einsame Frauen, die die heranwachsende Generation gleichermaßen sexuell wie emotional missbrauchen.  Ob Linda nun dazu gedrängt wird, sich vor Etas Freund Ivo (Franjo Dijak) mit Öl einzureiben oder mit der Großmutter der Freundin deren Lieblingspralinen zu essen – apathisch leidet die Bevölkerung unter den nicht zu füllenden Leerstellen, die der kürzlich beendete Krieg in jede Familie gerissen hat, und ignoriert dabei das konkrete Leid der Jugend.

Trauernde Frauen dominieren das Geschehen, Frauen, die ihre Eltern, Männer und Kinder überlebt haben. Linda, deren Mutter nur noch in Form von Anrufbeantworternachrichten greifbar ist, sucht verzweifelt nach weiblichen Vorbildern und findet sie schließlich in Etas paralysierter Familie, wo sie widerwillig, aber doch wie magnetisch angezogen immer wieder den Platz der Toten auf dem Sofa einnimmt und den Alltag zwischen Verfall und Fernsehen mitspielt. Diese wechselseitige Vereinnahmung zeigt sich in den beklemmenden Momenten, in welchen Etas Mutter Linda kommentarlos das vergeblich auf die Tochter wartende Brautkleid anpasst. Von Schuld gelähmt akzeptiert sie dieses alptraumhafte Spiel, gleichzeitig instrumentalisiert sie all jene Momente zur Selbstfindung. Wie auch in den Momenten mit Ivo experimentiert Linda mit Konzepten von Weiblichkeit und eignet sich eben jene Erfahrungen an, die Eta ihr voraus hatte und wegen derer sie in Streit gerieten. Doch Eta verschwindet nie aus Lindas Umfeld, sie bleibt als Mahnung, als Vision oder sogar als alternative Interpretation der Figur stets präsent. Dies sind die kinematographisch spannendsten Momente, in denen Štaka ungewöhnliche Still-Aufnahmen verwendet, in denen die Farben plötzlich kalt und hell im Gegensatz zu den sonnigen Stadtbildern stehen, in denen sich Spiegelbilder unabhängig von ihren Besitzern bewegen.

Mit nur sieben Schauspielern und einigen Statisten schafft Štaka in CURE – Das Leben einer Anderen ein detailgetreu ausgestattetes Diorama eines kroatischen Dorfes Anfang der 1990er Jahre. Die schweizerisch-kroatische Kooperation, die sie selbst produzierte und deren Drehbuch sie schrieb, zeigt beklemmend stimmungsvoll das (selbst-)erzwungene Erwachsenwerden einer 14-Jährigen, die zwischen den Lebenswelten ihrer Eltern oszilliert, bis sie mit bloßer Gewalt versucht, sich aus der Rolle der kindlichen Fremden zu befreien, ohne jedoch die Folgen ihrer Handlungen abschätzen zu können. Gleichzeitig bietet der Film einen scharfen Blick auf eine kleine Gemeinde, deren Alltag vom Jugoslawienkrieg in einen Albtraum verwandelt wurde und welche nach dessen Ende zwischen der surreal-grausamen Traumwelt und dem orientierungslosen Aufwachen am Morgen nicht heraus zu finden scheint. Ob die Geschehnisse nun tatsächlich „von einer wahren Begebenheit inspiriert“ wurden, mögen nur die Verantwortlichen wissen – die Krise von Identität und Adoleszenz in den ersten Nachkriegsjahren wird jedoch derart eindringlich dargestellt, dass es des Realismus-Labels nicht bedurft hätte.

Regie, Drehbuch und Produktion: Andrea Štaka
Graz, Dubrovnik; 2014
83 Min.
OKOFilm Producations

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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