Auf der Suche nach einem Grund, sich nicht zu töten

In Tom Leveens Roman „Ich hätte es wissen müssen“ ringt ein 16-jähriges Mädchen um das Leben eines unbekannten Anrufers und findet dabei zu sich selbst

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 16-jährige Victoria Hershberger, von ihren Freunden Tori genannt, steckt in der Klemme: Angestachelt von ein paar anderen, hat sie in einem Facebook-Post einen Mitschüler gemobbt – aus Spaß und ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Einfach weil sie ebenso cool sein wollte wie der von ihr bewunderte Lucas Mulcahy. Doch die Sache geht gewaltig nach hinten los, als sich der Gemobbte – Tori kennt ihn bereits seit der Grundschule – das Leben nimmt. Plötzlich interessiert sich die Presse für den Fall und in den Artikeln der gewieften Journalistin Allison Summers werden die sieben Schüler von der Canyon-City-Highschool zu gewissenlosen Mördern, die sich in den Zeiten von Facebook und anderen durch das Internet bereitgestellten Kommunikationsmedien die Hände nicht mehr selbst schmutzig machen müssen. Damit bleibt Victoria ein Gerichtsprozess nicht mehr erspart und harte Strafen drohen.

Nach „Party“ (2013) ist „Ich hätte es wissen müssen“ das zweite ins Deutsche übersetzte Buch des in Arizona lebenden US-amerikanischen Autors und Theaterregisseurs Tom Leveen. Erneut behandelt er darin Probleme von Jugendlichen, die ihren Platz im Leben noch nicht gefunden haben. Seine Heldin ist eine im Grunde sympathische Figur mit einem intakten Elternhaus samt dem um drei Jahre älteren Bruder Jack als Hintergrund. Und doch gerät sie in die fatale Abhängigkeit von einer Clique Gleichaltriger, weil sie dem von ihnen ausgehenden Anpassungsdruck nichts entgegenzusetzen hat.

Tom Leveens Roman spielt in der Nacht vor dem Gerichtsprozess gegen die sieben Schüler. Und er konfrontiert Victoria mit einer Situation, die ihr Mitgefühl, ihre Menschlichkeit und die Bereitschaft, Menschen in Not zu helfen, aufs Äußerste herausfordert. Denn plötzlich ruft auf ihrem Handy ein gleichaltriger Junge an, der behauptet, ganz zufällig ihre Nummer gewählt zu haben, und verlangt, sie solle ihm einen einzigen Grund nennen, für den es sich lohne, am Leben zu bleiben und sich nicht umzubringen. Bis zum Morgengrauen dauert von da an das Gespräch der beiden, in dem sie sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen und in das sich auch noch Victorias Bruder Jack und ihr Klassenkamerad Noah helfend einschalten.

Im Wechsel von erzählenden Passagen und kurzen Chatprotokollen, die manchmal allzu nichtssagend sind, parallelisiert Leveen das Versagen seiner Heldin in dem Mobbingfall mit den Anstrengungen, die sie unternimmt, um den Anrufer Andrew von dem Vorhaben abzubringen, mit seinem Auto in den Tod zu rasen. Die verwendete Ich-Perspektive – der Leser blickt auf das Geschehen mit den Augen Victorias – baut Distanz ab und Vertrauen auf. Dass sie in ihrem Bemühen  um das Leben des ihr fremden Jungen automatisch Argumente benutzt, die sie auch im Falle Kevin Coopers, des gemobbten Mitschülers aus ihrer Highschool, hätte einsetzen müssen, um ihn der Verzweiflung zu entreißen, wird Tori freilich erst gegen Ende der langen Nacht bewusst. Da ist sie dann aber auch bereit, sich über alle ihr gesetzten Grenzen und Verbote hinwegzusetzen, um dem anderen uneigennützig zu Hilfe zu kommen.

„Ich hätte es wissen müssen“ ist ein spannendes, gut lesbares Jugendbuch, das seine Wirkung auf jene Leser, für die es in erster Linie geschrieben ist, nicht verfehlen wird. Es punktet mit lebendig-interessanten Figuren und einer Handlung, die bei der Stange hält und gegen Ende noch ein paar überraschende Wendungen einbaut. Allerdings ist die didaktische Absicht, die sich hinter dem Plot verbirgt, nur allzu leicht zu durchschauen. So vieler erhobener Zeigefinger, wie sie auf den knapp 200 Seiten des Romans zu finden sind, hätte es wahrlich nicht bedurft.

Titelbild

Tom Leveen: Ich hätte es wissen müssen.
Übersetzt aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
207 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783446249318

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