Kaum mehr als ein Steinbruch
Johannes Dillinger trägt Material zur „Uchronie“ zusammen
Von Patrick Wichmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFest zum menschlichen Dasein gehört die Frage: Was wäre gewesen, wenn …? Meist jedoch enden derartige Überlegungen nach nur wenigen Minuten, kaum zu bändigen ist schließlich die Vielfalt der sich plötzlich entfaltenden Möglichkeiten. Angesichts dieser simplen Alltagserfahrung wundert es kaum, dass die Geschichtswissenschaft meist einen großen Bogen um jedwede Uchronie macht, gerät doch jede Falsifizierbarkeit innerhalb weniger, noch so kleiner Gedankengänge zur Unmöglichkeit. Dass kontrafaktische Geschichtsschreibung aber sehr wohl nützlich sein kann, will der Historiker Johannes Dillinger in „Uchronie. Ungeschehene Geschichte von der Antike bis zum Steampunk“ nachweisen, scheitert dabei jedoch an seinem Material.
Das Vorgehen Dillingers ist denkbar einfach: Er will über den Nachweis der Existenz zeigen, dass Uchronie wichtig ist. Nur liegt genau hier die Krux. In mühevoller Kleinarbeit hat er zahlreiche uchronische Werke zusammengetragen und stellt diese ausführlich vor: Wo setzen sie ihren Diversifikationspunkt an? Wie entwickeln sie die Geschichte weiter? Welche Erkenntnisse können wir daraus ziehen? Das Problem ist dabei jedoch, dass Dillinger selbst mehr oder minder schnell bei jedem dieser Werke dessen Mangelhaftigkeit einräumen muss. Zu fundamentale Ausgangspunkte, deren Fortschreibung in Willkür endet etwa, oder mangelnde historische Kenntnisse des Autors, die zu völlig unplausiblen Spekulationen führen. Die Gründe für diese Problematik liegen auf der Hand: Zumeist handelt es sich bei den hier betrachteten Werken schlicht um Belletristik, die durchaus bewusst Plausibilität zugunsten von Spannung hintanstellt, oder – noch schlimmer – um meist nationalistisches und revanchistisches Propagandamaterial wie die „Kaiserfront“-Buchreihe. So streift Dillinger durch die vergangenen 3000 Jahre, trägt unter den Kapitelüberschriften „Geschichtswissenschaft“ und „Literatur“ Material von Herodot bis Niall Fergusons „Virtual History“, von mittelalterlichen Epen bis zu Neil Gaiman zusammen. Vieles davon ist längst vergessen, einiges leider noch nicht, anderes erhaltenswert, allerdings nicht aufgrund seines uchronisch-spekulativen Gehalts. Da wundert es nicht, dass auch Dillinger keine weitergehenden Schlüsse aus der herangezogenen Fülle an Material ziehen kann – außer eben, dass dieses existiert.
Einigermaßen zu überzeugen weiß allenfalls das Kapitel über Steampunk. Wenngleich Dillinger diese Subkultur in ihrer Bedeutung sicherlich überschätzt (man könnte glauben, die gesamte Jugend hänge der Bewegung an), so trägt er doch kundig die zentralen Elemente zusammen. Ein wenig beschleicht einen beim Lesen gar schon der Verdacht, Dillinger sei auf das gesamte Themenfeld Uchronie über die Steampunk-Bewegung gekommen. Dieses Kapitel bietet nämlich das, was auch für die anderen wünschenswert gewesen wäre. Hier nennt Dillinger die Wurzeln der Bewegung, genrebildende (und eben nicht alle möglichen) Werke und ordnet die Relevanz des Steampunk ein: „Hier nehmen Uchronie und Steampunk eine ihrer zentralen gesellschaftlichen Bedeutungen wahr: Sie hinterfragen, was selbstverständlich, alternativlos oder das Beste zu sein scheint.“ Indem also der Steampunk, auf einer alternativen Technikentwicklung ausgehend vom viktorianischen England basierend, der scheinbar unausweichlichen Gegenwart eine Variante entgegenhält, stellt er so manches, als selbstverständlich hingenommenes Faktum unseres Alltags infrage. Diese Kernkompetenz sichtbar zu machen, gelingt Dillinger jedoch wie gesagt nur hier.
So richtig überzeugen kann diese „Ungeschehene Geschichte von der Antike bis zum Steampunk“ also nicht, schlicht zu naiv ist das Vorgehen über weite Strecken. Theoretische Grundlagen, die bei einem derartig komplexen und schwer greifbaren Thema unumgänglich sind, kommen nur dort vor, wo sie wiederum in anderen Werken thematisiert werden. Dieses Buch taugt somit allenfalls als Material-Steinbruch zum Thema Uchronie. „Wir brauchen eine Geschichte der ungeschehenen Geschichte“, schreibt Dillinger gleich zu Beginn seines Buches. Die braucht es tatsächlich. Aber Geschichte ist eben mehr als die Aneinanderreihung des Gewesenen.